Elanes Gesang

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TimKlueck

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Ein Regenband rieb Ilnaar wund, wie es das kleine Dorf am Rande des Nordreiches und des dunklen Waldes seit Gedenken der Ältesten nicht mehr erlebt hatte.

Torge spürte, wie ihm die Arme schwer wurden und die Muskulatur zu brennen begann. Das Wasser rann ihm in den Nacken und seine Finger waren klamm vor Kälte. Unablässig hieb er den Spaten in den Schlamm. Schmatzend klammerte sich das brackige Wasser daran fest. Er zog eine weitere mit Dreck beladene Schippe heraus und schmiss den Morast auf den angetürmten Wall.

Torge blickte besorgt zu den kleinen mit Lehm gedeckten Häusern, die sich schräg an die Hänge duckten. In den Gärten und den angrenzenden Dorfwegen hatten sich Sturzbäche gebildet und stauten sich in riesigen Teichen. Das Wasser drohte die Keller der zweihundert Seelen fassenden Gemeinde zu überschwemmen. Er und die anderen Männer hatten den ganzen Tag, durchnässt bis auf den Grund ihrer Eingeweide und verdreckt von Erde und Schweiß in der knietiefen Brühe Abflussgräben freigeschaufelt. Die Frauen und Kinder füllten unablässig Jutesäcke mit Sand und Tränen, schafften sie auf Holztragen, von wo sie junge und alte Männerhände vor die Eingänge hievten.

Im Haus konnte er das Licht in Thyrits Zimmer sehen. Er sah sie vor sich. Wie eine Göttin lag sie da, mit schwarzglänzenden Haaren um die zarten Schultern. Er berührte in Gedanken den talergroßen Fleck auf ihrem Rücken und sog den Duft und die Wärme ihrer Haut ein.

Torge blickte in den bleigrauen Himmel. Bitte tu mir das nicht an, Gott, Gerechter, nur das nicht! Gerade als er den Spaten in den Schlamm stoßen wollte, schlug etwas gegen sein Gesäß. Torge fuhr herum, weniger aus Schmerz, vielmehr aus Überraschung. Wie aus dem Boden gewachsen stand die alte Myrna mit ihrem Stock vor ihm. Ihre weißen Zöpfe zuckten wie Schlangen unter ihrem Kopftuch und in ihrem runzligen Gesicht öffnete sich ein Schlund mit krummen Zähnen.

„Torge von Ilnaar, hörst du den Wind?“ Sie zeigte mit ihren knorrigen Fingern gegen den Himmel.
„Es ist der Gesang Elanes. Er wird nicht verstummen, ehe die Wunden geheilt sind. Torge, ich sehe viel Leid und Elend hereinbrechen über Ilnaar, noch mehr Leid, auch das deines Weibes. Zieh los und suche den Nektar der Schattenlilie.“
„Was faselst du da, altes Weib? Geh fort und lass mich in Ruhe. Ich habe genug zu tun, da brauch ich nicht noch deine Hirngespinste.“

Torge stieß seinen Spaten mit Wut in die vollgelaufene Grube. Welche Prüfung legst du mir noch auf? Die alte Myrna fuchtelte wild mit ihrem Stock und ging lamentierend zum nächsten Mann, dem sie den Stock auf den Hintern schlug.
Torge pfiff scharf durch die Finger und schmiss die Schaufel in den Dreck. Er musste zu ihr, jetzt! Borgej, sein Freund schaute kurz auf, nickte und schaufelte sofort wieder weiter.

Torge stürmte ins Haus. Eine braune Pfütze quoll unter seinen Stiefeln hervor. Schnell streifte er sie ab, zerrte sich aus der durchnässten Jacke und stürmte dampfend vor Erhitzung die Treppe hinauf zu Thyrits Zimmer. Lenar, die gute Seele, kam ihm mit ernster Mine und einer Schüssel kalter Wickel entgegen und schüttelte stumm den Kopf. Torges Herz drohte fast zu zerreißen, als er eintrat.

Das matte Licht der Öllampe stand still an den Wänden des kleinen Raumes, in dessen Mitte sich nur ein einfaches Bett und ein Beischränkchen befanden.
Thyrits, vor kurzem noch so wunderschönen Haare, klebten wie Seetang über die Schultern. Ihr Gesicht glühte und Schweißperlen glänzten auf der Stirn. Das weiße Tuch, mit dem sie bedeckt war, klebte an den Brüsten. Sie hatte die Augen geschlossen und stöhnte in kurzen Abständen auf, ballte die Fäuste zusammen, als ob Dämonen in ihr wüteten und sank reglos zusammen. Trotz alledem, es war unfassbar, legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, so wie schon die letzten drei Tazuras, nachdem das Fieber kam.

„Das Fieber steigt leider immer noch.“ Paulanus, der langbärtige Arzt des Dorfes trat in den Schein der Lampe, die kurz aufflackerte. „Das Karezonin, das ich ihr verabreicht habe, schlägt leider nicht an. Auch die Entzündung des Rachens hat sich nicht gebessert.“ Seine Augen waren zwei kleine schwarze Höhlen und Torge merkte ihnen die Müdigkeit an mit der sie zu kämpfen hatten.
„Und es hat sich noch etwas verändert.“

Paulanus strich mit der Hand eine Strähne hinter Thyrits Ohr. Torge kam ganz nah heran. Fast wäre er gestrauchelt, weil es ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen schien. Thyrits Ohrmuschel war angeschwollen. Ein rötlicher Ausschlag wuchs aus der Öffnung und der dünne Faden einer gelben Flüssigkeit besudelte das Kissen.

„Was ...“
„Wir warten auf die Lieferung aus Martarrt. Sie bringen ein anderes Mittel. Ein neues, sehr gutes. Torge, es wird sicherlich helfen!“
„Was ist das?“
Paulanus schüttelte leicht den Kopf. „Ein Bakterius scheidet aus. Das Karezonin hätte angeschlagen. Eine neuartige Infektion. Ich weiß es nicht.“
Dann blickte er wieder zu Thyrit hinab. „Gebt ihr weiter die veranschlagte Dosis. Ich habe Lenar angewiesen jede Stuzura die Wickel an Waden und Arme zu wechseln und das Ohr von Eiter und Blut mit Salbeisud zu reinigen. Morgen werde ich wieder das sein. Ich muss jetzt nach den anderen sehen.
„Wie viele haben es?“

Paulanus senkte den Kopf. Torge fühlte die Schwielen an seinen heißen Händen pochen.
„Sechzehn.“
Ihm schnürte es die Kehle zu. Die Seuche sickerte in die Häuser, wie der Regen in die Keller.
„Um Acht trifft sich der Rat.“
„Ich werde kommen.“
„Sie werden dich nicht einlassen.“
Sie blickten sich fest in die Augen.
„Ich werde kommen, Arzt!“

Torge wachte noch einige Zeit an Thyrits Bett, als hinter ihm die Tür knarzte.
„Vater, werden wir sterben?“
Er zuckte unmerklich zusammen, nahm jedoch schnell wieder Fassung an, als sein Sohn hereintrat.
„Komm her, kleiner Held!“
Elian ging auf seinen Vater zu und drückte das Gesicht an die muskulösen Schultern.
„Wenn der Regen aufhört und das Wasser abgeflossen ist, lassen wir den Drachen steigen!“
Der kleine Blondschopf zeigte sein zahnlückenstrahlendes Lachen.
„Versprochen?“
„Versprochen!“ Torge strich ihm übers Haar. „Geh und hilf Lenar beim Stopfen der Säcke!“
Elian löste sich aus seiner Umarmung und lief hinunter.

***

Plötzlich fingen die Teller und Festgläser in den Schränken an zu klirren. Das Zittern schien sich durch Ilnaars Mark, durch Wände und Böden bis in Torges Haarspitzen fortzupflanzen. Das Beben schwoll an. Fenster barsten. Lenar ließ vor Schreck die Schüssel Sud fallen und schlug ihre Hände vors Gesicht.
Ein Grollen raste wie eine Lawine auf sie zu und begrub sie in einem Donnerschlag. Torge stürmte nach draußen. Windböen peitschten den Regen gegen die Wände. Die Türen der Häuser wurden aufgerissen und die Dorfbewohner stürmten heraus, um die Ursache dieses Knalles ausfindig zu machen.

Doch so überraschend wie das Beben hereingebrochen, so plötzlich war es verschwunden. Schnell liefen sie wieder in ihre Häuser.
Torge streifte sein nasses Hemd über. Der Gesang des Windes und der Regen vermischte sich mit einer Träne. Er hieb den Spaten in die aufgeweichte Erde, als wolle er ein Untier erlegen.


***

Das Gemeindehaus war hell beleuchtet. Die Wärme dampfte vor den Fenstern. Der Regen trommelte gegen das Dach. Im Inneren summte es.

Bronzius, der Bürgermeister mit seinem langen grauen Bart, saß auf dem mit wertvollen Schnitzereien versehenen Ratsstuhl und blickte mürrisch hinter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Zu seiner Rechten und Linken befanden sich weitere, weniger aufwendig geschmückte Stühle. Darauf saßen die Mitglieder des Sechserrats der ältesten Familien Ilnaars. Vor ihnen hockten vierzig Männer und Frauen des Dorfes auf Bänken und schauten sich mit ernsten Mienen an. Eine hagere, kleine Gestalt, verhüllt in einem dunklen Gewand und die Gesichtszüge in einer weiten Kapuze verborgen, stand etwas abseits und schaute zu Bronzius. Erst seit kurzer Zeit hielt sie sich in Ilnaar auf. Der Fremde aus Martarrt war Gast des Bürgermeisters.
Bronzius erhob sich.

„Bürger Ilnaars!“ Das Gemurmel verstummte.
Er berichtete mit ernster jedoch warmer Stimme, dass der Erkundungstrupp zurückgekehrt war, dass der Regen die Fundamente der Ilgartbrücke unterspült hatte und die mächtigen Pfeiler eingestürzt waren. Immer wieder griff er sich an seine goldene Bürgermeisterkette. Der Weg über die tiefe Ilgartschlucht nach Martarrt war abgeschnitten. Ilnaar war vom Nordreich getrennt. Ein Raunen ging durch den Saal. Bronzius sprach unbeirrt weiter. Es würde Wochen dauern, bis Hilfe aus Martarrt eintraf. Wochen, die sie vielleicht nicht hatten. Das Wasser drang unablässig in die Häuser, die Dächer gaben nach. Die Leute rutschen unruhig auf ihren Bänken. Und etwas weiteres, viel Schlimmeres, bedrohte Ilnaar. Wieder griff er sich an die Kette. Ein grüner, in feinem Gold gefasster Edelstein funkelte für einen Augenblick an seinem Finger auf. Bronzius blickte zur Seite, wo Paulanus der Arzt auf sein Stichwort zu warten schien. Paulanus trat vor.

„Bürger, ich muss euch sagen, dass die Medikamente, die ich verabreicht habe“, er stockte kurz, „ den Krankheitsverlauf der unbekannten Krankheit bisher nur - verzögerte.“
Entsetztes Gemurmel stob auf. Paulanus wartete ab, bis man ihn wieder verstehen konnte.

„Wir brauchen ein anderes Medikament, ein besseres aus Martarrt. Ich kann euch nicht sagen, um was für eine Art Krankheit es sich handelt. Nur, dass sie sich ausgebreitet hat.“
„Wie viele haben die Seuche?“ Ein Mann erhob sich erregt von der Bank und fuchtelte mit dem Arm. Paulanus zögerte.
„Es werden mehr.“
Jetzt brach ein Durcheinander von erregten und aufgebrachten Stimmen aus.

„Ihr sagt uns nicht die Wahrheit!“, rief eine laute Stimme. Torge streifte seine Kapuze zurück und trat aus einer dunklen Ecke in den Schein der Lampen. Das Raunen schwoll an. Bronzius schlug auf die Lehne seines Stuhles und erhob sich.

„Ruhe, hört den Arzt!“
Die Zwischenrufe verstummten nur zögerlich.
„Es sind nun zweiundzwanzig.“ Wieder ging ein Raunen durch den Raum.
Paulanus hob beschwichtigend die Hand.
„Und deshalb, Bürger, habe ich dem Rat empfohlen, “ er blickte vom Boden auf, „ die Kranken zu sondern.“ Das Raunen brach sich nun freie Bahn.

„Bürger Ilnaars, hört mich an!“ Torge schrie. Er wartete bis der Tumult verebbte und eine gespannte Stille eintrat. „ Es ist nicht richtig, was Paulanus berichtet.“ Die Luft im Raum brannte. „Niemand, der mit den Kranken in Berührung, kam hat sich angesteckt. Weder ich noch Paulanus, noch die anderen.“ Er streckte die Hände in die Höhe. „ Die Sonderung bedeutet das sichere Todesurteil eurer Frauen und Kinder.“

Die Männer und Frauen im Saal stießen empörte Rufe aus. Bronzius fuhr wütend hoch und schlug gegen die Lehnen seines Stuhles.

„Schweig, Geurteilter, kein Wort geht mehr in diesem Rat über deine Lippen! Als Verurteilter hast du kein Recht dem Rat oder den Anwesenden dieses Saales Ratschläge zu geben! Das gilt für die nächsten zehn Sonnenwenden und auch heute!“

„Hier, seht mich an.“ Torge riss seinen Mund weit auf und strich sich die langen Haare hinter die Ohren. „Ich habe die Lippen meines kranken Weibes geküsst. Und ich bin gesund!“
„Es ist Elanes Gesang“, rief plötzlich eine krächzende Frauenstimme. Myrna fuchtelte wild mit ihrem Stock.

„Es reicht! Werft sie raus!“ Bronzius tobte. Spucktröpfchen stoben aus seinem Mund. Die Menge rief wild durcheinander.

Drei Männer drängten sich vor, packten Myrna und Torge an den Armen und schleiften sie nach draußen in den peitschenden Regen. Myrna rappelte sich aus dem Matsch auf.

„Du glaubst mir immer noch nicht, Torge von Ilnaar! Doch die Weissagung wird sich erfüllen! Such du die Lilie. Sie werden es nicht tun.“ Sie zeigte mit dem Stock auf das Gemeindehaus. „Die glauben nur an ihren Fortschritt und ihre Medikamente!“
Torge sah in ihr zerfurchtes Gesicht.
„Lass mich in Ruhe, altes Weib!“ Er wandte sich ab.

***

„Es hat keinen Zweck, Torge. Sie muss ins Sonderhaus.“ Torge wich von Borgej zurück. Ein unsichtbarer, kalter Hauch senkte sich zwischen beide.
„Wie kannst du so etwas sagen? Du weißt genau, dass dies das Todesurteil bedeutet!“
„Tut es nicht. Es ist kein Problem, die Kranken auch heimlich weiterzuversorgen. Sie würden Thyrit finden, wenn du sie versteckst! Paulanus wird sie dort weiterhin mit Medikamenten versorgen. Und nur dort!“
„Aber sie ist dann nicht mehr bei mir!“ Torge fühlte, wie seine Augen feucht wurden. Er hielt Thyrits Hand. Sie lächelte schlafend.

Er wusste, dass sein Freund Recht hatte. Er konnte nichts gegen die Ratsentscheidung unternehmen. Solange die Ursache der Seuche unbekannt war, solange würden sie die Kranken sondern. Sie glaubten, damit sich selbst zu schützen. Borgej legte die Hand auf seine Schulter. Sie war feucht und sie war ihm unangenehm.



Die Nacht wachte er an Thyrits Bett, tränkte zum Stundenschlag die Tücher und tupfte ihre Stirn und das Gesicht mit dem Krautsud ab.

Die Männer kamen, als das Schwarz der Nacht sich mit dem Grau des Morgens mischte. Lenar hatte das Nötigste, frische Tücher und Wäsche, gerichtet. Sie hoben Thyrit auf eine Holztrage und schleppten sie in den Planwagen. Der Regen hämmerte sich in ihre Gedanken. Torge ließ Elian von seiner Mutter Abschied nehmen und schickte ihn zurück ins Haus. Es waren Gespenster. Maya vom Südhof und die Zwillinge Tomje und Trauje lagen bereits auf Britschen im Wagen, glühend und stöhnend wie Thyrit, alle mit einem Lächeln auf den Lippen. Torge zitterte.

Die Pferde schnaubten unter ihren nassen Mähnen und stampften los, als der Kutscher die Peitsche knallen ließ. Knarrend kam das Gespann in Bewegung. Oft kam es ins Stocken und Torge und die anderen mussten sich dagegen stemmen und die Räder aus dem Dreck ziehen. Eine unendlich lange Zeit holperten sie in tiefen vollgelaufenen Spurrillen hinauf auf die Hügel weit hinter dem Dorf. Zum Seuchenhaus.

***

Torge trat in die kleine Hütte.
Ein Feuer flackerte in dem krummen Raum. Lavendel und Knoblauchknoten hingen an den Balken und süßlicher Duft und scharfer Geruch vermischten sich.
Myrna stand mit dem Rücken zu ihm und rührte murmelnd in einem Kessel auf dem Feuer. Flaschen und Töpfe standen wild durcheinander.
Er klopfte mehrmals gegen Holz. Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Als sie ihn erkannte, stahl sich ein Lächeln in das faltige Gesicht und sie zog etwas aus ihren Ohren.

„Gut, dass du endlich gekommen bist!“
„Ich werde gehen“, sprach Torge. Sie hob die Augenbrauen und wies ihn mit einer ausladenden Geste auf der schiefen Bank Platz zu nehmen.
„Die Vorsehung hat dich zu mir geführt.“
„Myrna, erzähl mir mehr über die Schattenlilie? Wo finde ich sie? Im Nachtwald?“
Myrna zischelte und zeigte ihre dunklen Zahnstümpfe mit einem freundlichen Lächeln. Jedenfalls sah es für Torge so aus.

„Die Schattenlilie ist die Seele Elanes, Torge. Wer von ihr Kosten darf, wird von allem Leid geheilt. Doch der Nachtwald ist erzürnt. Etwas sticht eine Wunde in seinen Körper und er wehrt sich. Seine Winde bringen die Flut, sein Zorn die dunklen Träume nach Ilnaar bis weit in das Land hinein.“
„Sag mir, Myrna, es steht unter schwerer Strafe, Elane zu betreten.“
Myrna zischte Luft zwischen ihren Stümpfen hervor.

„Sie wollen nicht, dass die alten Mythen bewahrt bleiben. Sie nennen ihre Maschinen und ihre Medikamente Fortschritt! Doch dabei vergessen sie ihren göttlichen Ursprung! Allen Seelen wohnt er inne. Es ist Aufgabe der Geschöpfe Gottes ihn zu finden, die Liebe zu finden!“
Torge rutschte auf seinem Hintern hin und her.

„Nur wenige kamen lebend und mit klaren Gedanken aus Elane zurück. Viele der Menschenseelen, die sich auf den Weg machten, fanden nicht mehr hinaus! Und die, die es geschafft haben, sind schon lange tot.“
„Torge“, sie beugte sich ganz nah an ihn heran. Ihre Augen funkelten klar. „Denke stets daran, bei allem was dir in Elane, dem dunklen Wald geschieht. Sie ist ein Geschöpf Gottes, wie du und ich es ebenfalls sind. Ihre Bäume sind ihre Augen, das Geäst ihre Hände, der Wind ihre Stimme. Torge, hüte dich bei allem was du tust, ihren Gesängen zu lauschen. Du wirst nicht mehr von ihnen fortkommen.“

Torge lauschte gespannt Myrnas Geschichten. Sie erzählte von erschreckenden, aber auch wunderschönen Dingen. Manches verstand er, manches ließ ihn die Stirn runzeln. Beim Abschied hüllte sie den Kristall des Weges in ein Stofftuch und drückte ihn Torge in die Hand. Dankbar steckte er ihn in seine Jackentasche.
Er wollte den Nektar der Schattenlilie damit finden. Er würde Thyrit heilen können. Sein Herz lief fast über.

***

Borgej kam pünktlich.
Torge zog ihn in die Kammer und schob den Riegel vor.
„Borgej, mein Freund! Wir kennen uns seit ich denken kann. Nun brauche ich deine Hilfe. Ich weiß, dass es ein hohes Risiko sein wird, vielleicht auch zu hoch.“
„Wenn es mit dem Entschluss des Rates zu tun hat, werd ich dir helfen, dass weißt du!“
Torge schüttelte den Kopf. „Nein, der Rat hat seine Entscheidung gefällt. Sie ist unumstößlich. Meine Thyrit liegt todkrank darnieder. Ihr Fieber steigt von Stund zu Stund. Hilfe mit neuen Medikamenten wird nicht kommen. Ilgarts Schlucht ist unüberwindbar. Sie sehen tatenlos zu, wie ihre Frauen und Kinder sterben! Doch Thyrit wird nicht sterben!“ In seinen letzten Worten lag ein Zittern. Dann fasste er sich wieder und sprach entschlossen. „Morgen vor Tagesanbruch werde ich mich nach Elane aufmachen, um den Nektar der Schattenlilie zu ernten und den Kranken zu bringen.“ Er blickte Borgej tief in die Augen.

„So verzweifelt dieser Plan klingt, so fest steht mein Entschluss. Begleite mich, Borgej. Gemeinsam werden wir es schaffen!“

Borgejs Gesicht erstarrte. Natürlich wusste er, wie alle von Kindesbeinen an, was es bedeutete den dunklen Wald Elane zu betreten. Welche schrecklichen Gefahren darin lauerten. Selbst wenn sie unversehrt zurückkehrten, spräche der Rat den Bann über sie und sie verlören die Dorfrechte.

All dies schoss Borgej in einem gefrorenen Augenblick durch den Kopf. Torge erkannte es an seinem bleichen Gesicht. Seine Augen hatten den Glanz verloren und Borgej mied es fortan direkt in Torges Augen zu schauen. Die Sagen und Geschichten der alten Myrna seien zu vage und ungewiss, das Risiko, alles zu verlieren zu groß. Torge sollte darauf vertrauen, dass die Straßenbehörden Martarrts die Verbindung so schnell wie möglich wieder herstellten. Er redete auf Torge ein, doch seine Sorge galt nicht ihm, sie galt seiner eigenen Familie.

Torge wollte ihm nicht mehr zuhören. „Borgej“, fuhr es ihm heraus, „mein Entschluss steht fest, du wirst mich nicht umstimmen. Ich respektiere deine Entscheidung. Doch ich muss losziehen, notfalls alleine. Auf was soll ich hier hoffen? Dass die Flut weiter steigt, ein Keller nach dem anderen voll läuft? Thyrit stirbt? Nein, mein Freund, ich kann nicht tatenlos zusehen, wie alles zerrinnt. Ich muss es zumindest versuchen!“ Er sah ihm beschwörend in die kühlen Augen. Die Flamme der Freundschaft schien erloschen.

„Doch eine Bitte habe ich, sollte Elane mein Grab werden. Sorge für Elians Zukunft und, Gott behüte“, Torge bekreuzigte sich und küsste dann die Fingerknöchel, so als wolle er die heilige Mutter beschwören, „sorge für eine ehrenvolle Bestattung Thyrits!“

Borgejs sonst gerader Rücken war gebeugt, seine Gestalt zusammengesunken. Torge legte die Hand auf seine Schultern. „Du bleibst mein bester Freund! Gott sei mit uns!“
„Gott sei mit dir, Torge!“ Borgej zog den Umhang über, entriegelte die Tür und verschwand im Regen!

Torge strich sich mit der Hand über das müde Gesicht. Sie würden sein Verschwinden frühestens am Mittag bemerken, wenn er nicht mehr zur eingeteilten Arbeit erschien! Doch jetzt musste er sich sputen, um …
Ein Rascheln hinter der zweiten Kammertür lies ihn aufhorchen. Torges Muskeln spannten sich. Hinter den Ritzen der Holztür meinte er einen Schatten zu erkennen. Er schlich an den kupfernen Ring und riss die Tür mit einem Ruck auf.

Ein Bündel Mensch fiel mit überraschtem Aufschrei kopfüber herein. Der Lauscher hielt sich seine Schulter und zeigte sein verdutztes Gesicht.
„Kennil, du elende Ausgeburt eines geschwätzigen Weibes!“ Torge packte den jungen Stallburschen am Kragen seines nassen Umhanges. Der Junge zappelte hilflos in seinem Griff.
„Was hat du gehört?“

Der Bursche trat in die Luft und versuchte sein flaumbärtiges Gesicht abzuwenden, doch Torge ließ dies nicht zu und griff ihm grob an das Kinn.
„Sprich oder du erhältst eine Tracht Prügel, wie du sie schon längst verdient hast!“
„Meister Torge, ich hab Euch im Rat sprechen gehört! Und glaubt mir …!“
Torge schüttelte ihn. „Sag mir, was du soeben gehört hast, Bursche!“
„Ich habe alles gehört, Meister, ich… lasst mich mitkommen! Ich …
bin Manns genug!“
„Nichts wirst du tun, du Flaumgesicht!“ Er stieß ihn zurück.
„Wenn du mich nicht mitkommen lässt, werd ich’s der Lenar erzählen und alle werden´ s wissen, ehe du den ersten Schuh geschnürt hast!“

Torge packte Kennil fester und zog ihn ganz nah vor sein Gesicht.
„Ein Wort nur und ich verspreche, du wirst die nächsten Jahzuras in keiner Schenke des Nordreiches mehr sitzen können um eine Maß zu heben!“ Er ließ Kennil auf den Boden fallen und verließ wütend den Raum.

***

„Hast du alles besorgt?“
„Wie Ihr es mir aufgetragen habt!“ Kennil warf mit Schwung den ledernen Rucksack auf den Tisch und ließ die Schnallen knallen.
„Verflucht seist du, dass ich dich mitnehme! Willst du das ganze Haus aufwecken?“
Kennil duckte sich ein bisschen vor Torges Fluch und sprach fortan nur noch im Flüsterton.

Torge war mit seinen Besorgungen zufrieden.
Er hatte den Rucksack mit drei Lederschläuchen Wasser, Brot und getrocknetem Fisch, Seilen, Feuerstein und gewachsten Fackeln gefüllt. Er war ein guter Junge. Die Verantwortung, die er sich mit ihm auflud, schnürte ihm die Kehle zu.

Er selbst hatte eine Baumwollplane, Decken, Pfeile, ein Messer und das Bienenwachs besorgt. Sorgsam schnallte er seinen Bogen an den Rucksack, schmierte sich die Stiefel mit Fett ein und reichte Kennil den Fettnapf.
„Reib sie damit ein, damit der Regen nicht hineinkriecht!“

Als sie nach draußen traten, warf ihnen der Wind ein Tuch feiner Regentropfen in die Gesichter. Er hatte etwas nachgelassen. Gott sei Dank. Ihre Stiefel machten schmatzende Geräusche auf der schlammbedeckten Straße. Doch das stetige Rauschen des Regens verschluckte sie. Keiner der Männer, die unablässig an den Gräben schufteten, bemerkte die beiden Schatten, die an den Hauswänden entlang schlichen.
Bei der alten Eiche verließen sie Ilnaar Richtung Norden, dorthin wo der schwarze Golm hauste. Der Golm zerrte, so sagte man, in stürmischen Nächten Kinder aus den Betten, schleppte sie in sein Nest im dunklen Nachtwald und briet sie über seinem Feuer, weil so Kinderfleisch besonders lecker schmeckte.

Torge kannte die alten Kindergeschichten nur zu gut. Normalerweise hätte er darüber geschmunzelt. Doch jetzt, als ihm die Nässe in den Kragen kroch, fröstelte ihn bei dem Gedanken, gleich selbst in die Hölle himmelhoher Nadelbäume einzutauchen, in welche kein Licht mehr auf den Boden vordrang und welche kein Mensch je wieder klaren Gedankens verlassen konnte. Wenn jemand sie überhaupt je wieder lebend verlassen konnte. Er packte die Gurte seines Rucksackes und trat kräftig den Stiefel in den Matsch.

Der Pfad schlängelte sich leicht bergauf. Die knorrigen Birken wuchsen hier spärlicher und machten einer Steppenlandschaft Platz. Der Regen versiegte vollends, dafür zerrte der Wind stärker an ihren Wollhemden und Lederumhängen. Langsam zog der bleiche Morgen hinter den Bergen auf und Torge entdeckte in Kennils jungem Gesicht ein Lächeln. Er hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Zu ungewiss war die Rückkehr. Kurz musste er an Borgej denken. Schnell schob er den bohrenden Gedanken der Enttäuschung beiseite.
Kennil spürte wohl seine Blicke. Er grinste unsicher herüber und strich sich die wilde Haarmähne aus den Augen. Sie erreichten das morsche Ortsschild Ilnaars nach einigen Stuzuras zügigen Marschierens. Es klopfte gegen den Pfosten und zeigte das Ende der Gemarkung, wie auch des Nordreiches an.

Torge stieß seinen Stock in den Boden und schnallte den Rucksack ab.
„Hier endet die zivilisierte Welt. Ab hier betreten wir verbotenes Land!“
Er griff in den Rucksack und holte die gelblichen Wachsbällchen hervor, die nach Honig rochen.

„Es heißt, die Gesänge Elanes seien süß wie Petruschkas Lippen, doch tödlich wie eines Skorpions Stachel.“ Er reichte Kennil zwei Pfropfen. Der schaute ihn fragend an.
„Steck sie dir tief in die Ohren! Fortan müssen wir uns vor Elanes Gesang schützen, so wir ihr nicht verfallen wollen. Und jetzt pass genau auf.“ Torge ballte seine Faust. „Dies bedeutet: Stopp! Gefahr und dies: Alles in Ordnung!“ Er formte mit Zeigefinger und Daumen ein O.

Sie tranken noch einen kräftigen Schluck Honigwein, den Kennil in einer extra Kanne aufbewahrt hatte und verließen das Nordreich. In der Ferne sahen sie bereits die dunklen Umrisse Elanes mit ihren mächtigen Riesen aus dem Boden wachsen.


***

Ein Waldgreif stieß seine gellende Rufe aus und glitt über die Wipfel. Selbst durch die Stöpsel konnten sie es hören. Torge verfolgte seinen Flug. Wie gerne besäße er die Flügel des Vogels um über Elane hinwegzusegeln bis an jenen heiligen Ort, wo die Schattenlilie ihre Blüte öffnete. Sie standen am Fuß des Waldes, der wie eine Wand aus Palisaden vor ihnen aufragte und sie selbst zu kleinen Käfern schrumpfen ließ, die zwischen Zähnen eines Kolosses krabbelten. Die beiden ungleichen Erdenmenschen reckten ihre Köpfe in den Himmel, konnten jedoch kein Ende der gigantischen Bäume erkennen.
„Sie reichen bis zu den Göttern!“
„Wir wollen ja auch nicht an ihnen hinauf klettern!“ Torge ließ seinen Blick schweifen. Die Bäume standen dicht an dicht. Aus ihren Spalten kroch nichts als Schwärze.

Torge lauschte seinen gedämpften Schritten, dem Reiben des Rucksackes und dem Brechen abgestorbener Äste. Kennil blieb dich hinter ihm. Das Gehen auf dem Nadelteppich fühlte sich wie das Gehen auf Wolle an. Tief atmeten sie Dämpfe von Tannenharz und modriger Feuchtigkeit ein. Sie folgten dem breiten, einem Bachbett gleichenden Weg, der sich aber nach gut einer Stuzura in verzweigte Wildpfade auffaserte, von denen sie den jeweils besten zu erkennenden nahmen. Doch auch diese versiegten wie Rinnsale in einer Wüste, und schließlich standen sie verloren in einem Labyrinth Tausender knorriger Holzsäulen. Die Baumkronen verschluckten das Sonnenlicht. Sie sahen einander kaum noch, sondern erhaschten nur mehr die Schemen ihrer Körper.

Torge zog den Richtungskristall aus dem Beutelchen und legte ihn flach auf die Hand. Die ersten Sezuras tat sich nichts. Dann aber erwachte ein kleiner roter Funke und begann zu wachsen, bis er die Größe einer Kerzenflamme erreichte. Darüber flackerte eine zweite Flamme in grün auf. Beide bildeten eine Linie. Sie zeigte fortan die Richtung, in die sie gehen mussten.

„Hier geht es lang“ rief Torge und deutete den Weg mit der Hand. Kennil nickte. Blass schimmerte das Weiße in seinen Augen. Sie schritten in die Wand aus Modergeruch, kratzenden Ästen und Schwärze und konnten sich nur langsam vorwärts tasten. Einmal schrammte ein spitzer Ast knapp Torges Auge. Er traf sein Unterlied und schnitt über die Wange. Torge zuckte zurück, wischte sich das feuchte Brennen mit dem Handrücken fort und hielt die Hand darauf, bis es trocknete.

Wie weit erstreckte sich Elane? Was verbarg sich in ihrer endlosen Dunkelheit? Bald mussten sie die Öllampe entzünden, für Rast war es jedoch noch zu früh. Er dachte an Thyrits fiebernde Krämpfe und an ihr verstörendes Lächeln. Das Bild ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

Hier gab es keine sonnendurchfluteten Eichen und Ahornkronen, die sacht im Wind schaukelten. Keine Waschbären und Igel, die im Gebüsch raschelten. Weder Buntspechte, die klopften, noch Nachtpfauenaugen die zwischen dem harzigen Duft von Kräutern flatterten. Nicht einmal nach Mücken musste er schlagen. All das, was Torge von unzähligen Wanderungen in Ilnaars Wäldern kannte, fehlte hier. Stattdessen kroch Elanes fauliger und modriger Atem in ihre Lungen.

Nach einigen Stuzuras, in denen sie sich mühsam mit den Stöcken den Weg freischlagen mussten, schlug Kennil plötzlich mit einem gedämpften Schrei in voller Länge hin. Torge wollte ihm aufhelfen, doch er war schon wieder aufgestanden und rieb sich Steinchen von den Handflächen. Seine Knie waren aufgeschlagen.
„Es geht schon. Alles in Ordnung!“ Kennils Stimme klang durch die Ohrstöpsel wie durch Wasser gepresst.

„Hast du dich verletzt?“ Torge stützte ihn und griff nach seiner Hand, die Kennil blitzartig zurückzog. Er spürte etwas Glitschiges und verrieb es zwischen seinen Fingern. Blut.
„Kennil, verdammt du …“
„Alles in Ordnung, nein. Ich bin nur über etwas ...“ Kennil verstummte.
Er tastete an etwas, das ein Gewirr Äste zu sein schien, und über das er vermutlich gestolpert war. Doch das war es nicht. Als er erkannte, um was es sich handelte, fuhr er entsetzt zurück und wäre dabei fast erneut gestrauchelt.
Torge beugte sich vor um es besser sehen zu können. Er unterdrückte einen Aufschrei. Es waren keine spitz gebogenen Äste. Es waren die Rippen eines menschlichen Skeletts. Zitternd vor Erregung kramte er aus dem Sack die Lampe hervor und entzündete den Docht. Er musste ruhig bleiben. Im Widerschein des flackernden Lichtes starrten ihnen zwei, nein … drei Totenschädel entgegen. Die Skelette lagen in einem Halbkreis, ihre Arme berührten sich, so als hätten sie sich noch zu einem Gebet versammelt, bevor sie vom Tod in Empfang genommen wurden. Fast anmutig und mit gefalteten Händen lagen sie da. Vielleicht hatten sie sich verirrt und waren verhungert.
Torge wich zurück und zog Kennil am Ärmel fort. „Weiter, hier können wir nicht bleiben“, schrie er und deutete den Weg.

Sie stolperten gut eine halbe Stuzura weiter, ohne auf die Richtung zu achten. Immer wieder blickten sie ängstlich in die Schwärze um sich herum, schoben sie mit blutigen Händen beiseite, um ihre Gesichter zu Schützen, und zogen die Luft scharf ein, wenn spitze Äste brennende Streiche in die Wangen schnitten.
Ein Ziehen setzte sich in Torges Wade fest und er hatte die böse Ahnung sich am Fußballen eine Blase gescheuert zu haben. Er musste humpeln. Die Gurte des Rucksackes schnitten in die Schultern und der Rücken schmerzte. Kennil hielt den Kopf gesenkt und schleppte sich vorwärts. Er strauchelte, ruderte mit den Armen, fing sich jedoch wieder. Torge reckte besorgt die Hand in die Höhe. Er konnte sie kaum noch sehen, so dunkel war es bereits geworden.

„Stopp, hier machen wir Rast.“ Sie schleuderten das schwere Gepäck auf die Erde und sanken erschöpft auf ihre Hinterteile. Dies war wahrlich nicht der beste Ort für einen Halt. Hinter dem kleinen Kreis ihres Lichtes kroch die schwarzgallerte Dunkelheit mit all seinen unbekannten Gefahren. Er spürte wie die gedämpfte Stille in ihn eindrang und in seinem Kopf zu jucken begann. Ja, es war wie Jucken. Plötzlich stieg ein böser Gedanke in ihm hoch und sein Herz begann zu rasen. Sie würden die Geräusche von Raubtieren, Feinden, des Golms nicht früh genug hören können. So waren sie leichte Beute. Torges Finger zitterten, doch er widerstand dem Drang die Stöpsel für einige Sezuras herauszunehmen, um sich zu kratzen und zu lauschen.

Tief in seinem Inneren schauderte Torge vor der Nacht. Er hatte schon oft bei seinen Wanderungen und auf Jagd unter freiem Himmel geschlafen, aber das hier war anders. Er glaubte fast, Elane atmen zu hören. Ein warmer Wind strich sanft über die Gesichter. Wie war es möglich, dass es zwischen all dem Dickicht Wind geben konnte? Kennil war erstaunlich ruhig, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Redseligkeit. Kurz musste er schmunzeln. Torge reichte ihm einen Schlauch Wasser, aus dem er gierig Trank. Auch er selbst nahm dankbar einige große Schlucke. Das kalte klare Wasser rann wohltuend ihre ausgetrockneten Kehlen herab und er spürte wie langsam die Kraft zurückkehrte. Er brach das Brot und reichte Kennil die Hälfte und eine Scheibe des getrockneten Fisches. Kennil schob einen großen Batzen in seinen Mund. Maximal drei, vielleicht vier Tage würde es reichen. Vor allem das Wasser konnte hier zum Problem werden. Bisher hatten sie keinen Hinweis gefunden, wo die Lichtung der vier Eichen und die Schattenlilie sich befinden konnte.

Sie breiteten die Plane, die als Regenschutz gedacht war, auf dem Boden aus und legten die Decken darüber. Regen gab es hier wohl nicht, jedenfalls konnte sich Torge nicht vorstellen, wie er durch die endlosen Nadeln und Äste bis auf die Erde finden konnte.

Für einen schrecklichen Augenblick war es pechschwarz, bis Torge die Lampe mit einem neuen Docht bestückt hatte, der Funke des Feuersteines übersprang und das warme Licht wuchs. Sie ließen die Öllampe die Nacht über brennen und wechselten sich häufig mit der Wache ab, an Schlaf war ohnehin kaum zu denken. Doch in kurzen Momenten fiel er in weiche Wolken des Schlummers, die ihn über die Welt trugen. Er stand am Abgrund, öffnete die Arme und ließ sich wie der Greif über Elane fallen.

Torge erwachte mit einer brennenden Kehle. Er rappelte sich auf und griff nach dem Wasserschlauch und trank. Hastig wischte er den klebrigen Tau aus dem Gesicht. Graues Licht stand um sie herum. Die Lampe war erloschen. Sie mussten beide eingeschlafen sein.
„Kennil, du Faulpelz, wir müssen…“.

Kennil lag zur Seite gedreht, er sah bloß seinen Rücken und die angewinkelten Beine. Torge stieß ihn mit der Hand. Auch beim zweiten Mal reagierte er nicht. In seinen Ohren begannen es zu Rauschen und ihm wurde heiß. Langsam drehte er Kennil auf den Rücken. Seine Augen waren zusammengekniffen. Das Gesicht mit einem feinen Glanz überzogen, die Kleidung schweißdurchnässt. Jetzt sah Torge, was ihm den Magen zusammenschnüren und das Rauschen in seinem Kopf unerträglich anschwellen ließ. Kennils Ohrstöpsel lagen neben seinem Haupt. In seinem verzerrten Gesicht war der Mund zu einem lächelnden Halbmond gebogen und aus angeschwollenen Ohren floss ein dünner Faden gelblicher Flüssigkeit.

Torge stieß sich zurück und schrie Flüche in Elanes schwarzes Gesicht. Er spuckte die Worte heraus und schlug wild mit dem Stock um sich, gegen Baumstämme und Äste, von denen graue Rindenstücke absplitterten.

„Du Ausgeburt des Bösen. Wie viele von uns willst du noch verschlingen.“ Zitternd vor Erregung ging er in die Knie und weinte, wischte sich die Tränen fort und stürzte zu Kennil. Er atmete noch. Gott sei Dank. Torge steckte ihm die Stöpsel wieder in die Ohren und flößte ihm Wasser und Honigwein ein. Das meiste floss über seine Wangen. Er konnte ihn nicht zurück lassen. Der Weg, der keiner war, war mit engem spitzem Geäst versperrt. Unmöglich ihn mit Kennils Körper zu bewältigen. Hier erwartete sie beide der Tod. Das Bild der drei Skelette stieg vor ihm auf. Eine Wut durchströmte sein heißes Gesicht und er ballte die Fäuste. Er musste es versuchen. Steh mir bei, Allmächtiger, ich bitte dich!

Torge zerschnitt die Plane und befestigte die Taue daran, deren Enden er verknotete und sich wie ein Geschirr überstreifte. Den Proviant, Feuerzeug, Bogen und die Pfeile nahm er mit, alle anderen Dinge musste er zurück lassen. Torge biss die Zähne zusammen und stemmte sich gegen die Seile. Mit Kennils fieberndem Körper im Schlepptau und Tränen in den Augen, setzte er sich ruckend in Bewegung und hinterließ eine schmale Spur in dem weichen Nadelteppich. Er musste die Lichtung der Sonne mit den vier Eichen finden. Es gab kein Zurück mehr.
Eine halbe Stuzura ungefähr hielt er die zerrenden Schnitte in seiner Schulter aus und fiel keuchend zu Boden. Sein Nacken schmerzte, die Beinmuskulatur brannte. Es war das Ende und er schloss die Augen. Dann rappelte er sich wieder auf, versuchte das Letzte aus sich heraus zu holen. Er befragte den Kristall, doch dieser wies ihm nur die Richtung, nicht wie weit der beschwerliche Weg noch führte.
Torge schleppte Kennil Armlänge um Armlänge weiter, sank nach wenigen Schritten jedoch wieder erschöpft zu Boden. Er flößte ihm Wasser und Honigwein ein und aß gierig selbst von dem Fisch und Brot. Später blieb er einfach liegen.

Eine weitere pechschwarze Nacht brach über sie herein. Einmal, als er aufschreckte, glaubte er ein Rascheln zu hören und die Schemen von asselartigen, rindsgroßen Körpern zwischen den Stämmen zu erhaschen. Angewidert wandte er seinen Blick ab.
Am dritten Morgen hatte Kennil zu atmen aufgehört. Es war eine unruhige Nacht gewesen, in der er kaum Schlaf fand. Er erwachte schweißgebadet, aufgeschreckt von Thyrits fiebernder Erscheinung, die ihn aus dunkel geränderten Augen anstarrte. Die Kranken Ilnaars standen von ihren Betten auf, streckten die Arme nach ihm. Dann wichen sie zurück und machten Kennil Platz. In weiße Tücher gehüllt schwebte er zu ihnen.

Torge beugte sich über Kennils Leichnam. Seine Lippen waren zu einem Halbmond gebogen. Er brach weinend über ihm zusammen und blieb lange so auf ihm liegen. Er alleine war Schuld an seinem Tod. Torge schluchzte. Er hatte Thyrit alleine zurück gelassen, er hatte die Männer und das Dorf verraten und nicht auf Borgejs Rat gehört. Er hatte den Bann des Rates verdient. Weder vor noch zurück, einfach nur hier liegen bleiben und sterben wollte er. Der warme Wind strich ihm durch die Haare.

Am Mittag sprach er ein Gebet und steckte zum Gedenken ein aus Ästen geschnürtes Dreieck auf den Grabhügel. Zuvor hatte er Kennil in die Decke und Plane gewickelt und mit bloßen Händen eine Kuhle in die Erde gegraben und mit Baumnadeln bedeckt. Schnell zog er den Rucksack über und machte sich fort von diesem Ort, der nur wegen Kennils Grabstätte eine Bedeutung für ihn behalten würde.


***

Schweren Herzens schleppte Torge sich weiter. Die Blase am Fuß hatte er mit Fett eingeschmiert und die eiternde Wunde mit Stofffetzen abgedeckt. Wie hatte er nur auf Myrnas Geschwätz hören können, sich auf diese wahnwitzige Idee einzulassen? Seinem gesunden Menschenverstand, der Technik und der Hilfe Martarrts hätte er vertrauen sollen, statt sich in diesen elenden Fleck Erde zu begeben. Er hatte alles verloren. Torge fuhr eine Hitze in die Brust und unvermittelt brach er zusammen. Er kramte nach dem Wasserschlauch, nahm einen Schluck und wischte sich mit schmutzigen Händen über das Gesicht.

Jetzt erst bemerkte er, dass sich der Wald um ihn herum verändert hatte. Die Baumreihen waren lichter, das Grau schien heller und der modrige Geruch hatte sich verflüchtigt. Er rappelte sich auf und lief zu dem Strauch, dessen stachelige Blätter ihm plötzlich bewusst wurden. Etwas unfassbares geschah. Eine Windböe kam auf. Für einen kurzen Moment brachen einige Lichtstrahlen, wie Schwerthiebe durch das Baumdach und erleuchteten den Busch.
Torge musste die Hand schützend vor sein Gesicht halten. Das grelle Licht brannte in den Augen. Vorsichtig spähte er durch die Finger. Überall um sich herum entdeckte er plötzlich die stacheligen Sträucher. Sie trugen Trauben roter Früchte.

Torge rannte zum nächsten und pflückte einige der kleinen Beeren. Sie rochen frisch und säuerlich, doch wagte er es nicht davon zu essen. Elanes zweites Gesicht. Schnell schnallte er sich den Sack um und marschierte den Weg weiter. Der Wald war nun licht und roch nach Harz und Kräutern.

An vielen Stämmen rankte Efeu, verschieden Arten Sträucher und Büsche wechselten sich ab, Moos schmiegte sich um Steine und Eichen und Buchenblätter flatterten sanft in einer leichten warmen Brise. Eichen. Torge sog die Luft ein. Er beschleunigte seinen Schritt, ohne auf seinen wunden Fuß zu achten. Hier musste sie irgendwo sein. Die Lichtung der vier Eichen. Die Schattenlilie. Herr, lass es gut werden. Torge trieb sich weiter an. Er keuchte, seine Lunge brannte.

Zu seiner Linken und Rechten wuchsen Pflanzen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Hellgrüne, gelbe, rote, stachelige Blätter. Blaue, apfelgroße Früchte. Mannshohe Blätter, die ohne Stamm aus dem Boden sprossen. Dazwischen die Mammutbäume, die mächtig in den Himmel wuchsen und deren Kronen sanft in den warmen Strahlen der Sonne schaukelten. Die Veränderung des Waldes schien kein Ende zu nehmen. Bloß seltsam, kein einziges Tier war zu sehen.

Viele Stuzuras marschierte Torge mit gesenktem Kopf und schweren Beinen weiter. Langsam wich die anfängliche Euphorie über die Schönheit tausender nie zuvor gesehener Pflanzen einer Ungeduld nach dem Ende des Weges. Er sah zwar Eichen, aber keine Lichtung, wie von Myrna beschrieben, in deren Mitte vier von ihnen gen Himmel ragten und die Blüte des Heils, die Schattenlilie, umrahmten.

Torge lehnte sich an einen Baumstamm und nahm einen kräftigen Schluck Honigwein. Den letzten Schluck. Scheppernd schlug die leere Kanne gegen den Baum. Prüfend drückte er den Lederschlauch mit Wasser. Leer. Er schloss einige Sezuras die Augen und öffnete sie schnell wieder. Die Kanne schepperte gegen einen Stein. Tief unter ihm rumorte ein Grummeln, ein Vibrieren, dass die gesamte Erde erschüttern ließ. So unvermittelt wie es gekommen war, erstarb es wieder.

Torge war aufgesprungen und schaute sich nach Luft schnappend um. Sein Herz hämmerte. Wieder setzte das Rütteln ein, diesmal stärker. Im Rhythmus einiger Minuras wechselten sich nun heftiges Beben und Stille ab. Torge spähte zu einem Hügel. Mit den Stöpseln im Ohr konnte er den Ausgangspunkt der Gefahr nicht ausmachen. Er musste es nun genau wissen, zu viel stand auf dem Spiel. Langsam zog er sie heraus. Die schützende Blase um seine Ohren zerplatzte. Der Wind hob an, die Blätter raschelten. Ein schrilles Pfeifen, der klagende Gesang Elanes, zerrte an seinem Verstand und dann hörte er ein Dröhnen, welches im Gleichklang mit dem Beben an- und abschwoll. Maschinen. Große Maschinen, hinter dem Hügel.

Vorsichtig zurrte er den Bogen vom Rucksack und schnallte den Pfeilköcher um. Er schlich den Hügel hinauf und versuchte dürre Äste und verräterisch knisterndes Laub zu umgehen. Beißender Gestank wehte ihm entgegen und kroch in seine Lungen, immer wieder musste er innehalten und den Husten unterdrücken. Die Geräusche wurden lauter. Metall kreischte auf Fels, ein schrilles Pfeifen durchzitterte die Luft. Nein, dies war kein Pfeifen. Es war der verzweifelte Schrei eines Tieres.

Torge musste sich die Hände auf die Ohren pressen. Der Schrei schnellte in sein Innerstes und prallte mit Wucht gegen die Nerven seiner Zähne. Nur noch wenige Schritte, dann war er auf der Anhöhe. Er atmete in seinen Ärmel und kroch das letzte Stück. Was er von hier oben sah, verschlug ihm den Atem.

Hunderte kleine, schwarze Gestalten, schoben ameisengleich Karren und Wagen aus einem riesigen Loch in der Sohle des Tales. Die schwarze Grube maß viele hundert Armspannen und wie Eiter flossen dünne glühende Rinnsäle Lava aus der tiefen Wunde heraus, wurden an deren Enden mit zischendem Wasser abgekühlt und als schwarze Brocken auf metallene Wagen geladen. Maschinen mit riesigen Krallenarmen schaufelten die Brocken auf größere Wagen, die auf einem Gewirr von Schienen abtransportiert wurden und sich zwischen den Bäumen Elanes auf der anderen Talseite verloren.

Der Boden vibrierte wieder und tief aus dem Inneren der Grube wälzte sich ein Dröhnen und Schlagen und spuckte weitere Ströme Lava hervor. Die schwarzen Gestalten wuselten umher, ohne sich daran zu stören. Schornsteine, krumm wie Knochen, spieen Wolken von schwarzem Rauch aus und verdunkelten das Tal.

Und jetzt sah Torge das, wonach er so lange und fast schon ohne Hoffnung gesucht hatte. Die Wolken aus schwarzem Rauch stoben für Bruchteile auseinander und ein Strahl Sonne zeigte herab. Nur wenige hundert Schritte neben der klaffenden Wunde im Tal reckten sich vier Bäume, deren Kronen bereits licht waren und deren Blätter braun. Eichen. In ihrer Mitte entdeckte Torge einen fünften Baum. Nein, es war kein Baum, es war die Schattenlilie. Selbst aus der Entfernung erkannte er das leuchtende Rot der Blüten.
Langsam schlich er sich die Böschung herab. Er musste vorsichtig sein. Die Gestalten waren ihm sicherlich nicht gut gesonnen. Zwergengroß bloß, aber in riesiger Zahl. Sie würden über ihn herfallen, wenn sie ihn bemerkten. Ihre Haut war lederig schwarz. Lappen hingen an ihnen herab. Aus ihren mit Beulen übersäten Schädeln traten kartoffelgroße rote Augen hervor, Lider wischten von Zeit zu Zeit den Staub fort und hinterließen durchsichtigen Schleim darauf. Sie zischten einander zu und Torge blieb fast das Herz stehen, als ein Zwerg ihm direkt in die Augen zu blicken schien und dabei seine mit spitzen Dolchen bestückten Kiefer fletschte. Diese Kreaturen sollte man sich nicht zum Feind machen. Er wusste, mit wem er es hier zu tun hatte. Es gab nicht nur einen von ihnen, es gab tausende Golme. Nervös zuckend warfen sie die Köpfe umher und zischten ihre Brüder böse an.

Ihm fiel noch etwas auf. Dort wo Menschen oder andere Wesen gewöhnlich ihre Ohren trugen, war bei ihnen eine glatte, kahle Stelle. Die Golme hatten keine Ohren. Waren sie taub? Er warf einen Stein gegen den Karren. Klirrend hallte der Schlag auf dem Metall wider. Die Golme beachteten ihn nicht.
Er konnte sich an ihnen vorbei schleichen. Im Schutz des Dickichts weiter nach Süden und dann von der anderen Seite zur Lilie kriechen. Gerade als er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte, strich eine Böe warmen Windes heftig in sein Gesicht. Ein Dröhnen schwoll aus der Grube herauf. Er fühlte eine Hitze in seinem Inneren ausbrechen und bekam keine Luft. Wild trommelte er mit den Fäusten auf seine Brust und rieb die Rippen.

Sein Körper wand sich vor Schmerzen, japsend sog er Luft in die brennende Lunge, soviel der Schmerz zuließ, doch seine Brust schien sich mit geschmolzenem Metall zu füllen. Torge stieß einen gellenden Schrei in das Tal hinab und endlich löste sich der Krampf und kühle Luft floss in seine wunden Lungen. Sein Kopf glühte. Hastig kroch er hinter die schwarzen Steinbrocken. Er war schweißnass, er hatte Fieber.

Die beiden Golme, die ihm am nächsten waren, stemmten einen Brocken in den Wagen, nahmen jedoch keine Notiz von ihm. Sie waren taub. Sie konnten ihn nicht hören. Aber sehen!

***

Er war schon um das halbe Tal herum.
Der warme Wind sang in seinen Ohren. Elanes Gesang drang in ihn ein. Es war eine süße, leichte Melodie, die jede Zelle seines Körpers ausfüllte und zu verbrennen schien. Sein Atem beruhigte sich. Er fühlte eine angenehme Schwere in den Beinen. Wie schön wäre es jetzt, dieser wollenen Wärme nachzugeben, alles um sich herum sein zu lassen. Sein Verstand stemmte sich dagegen. Er musste die Blume erreichen. Für Thyrit. Für Elian. Es war ganz nah. Er robbte weiter, konnte die roten Blüten deutlich sehen. Die Halme wogten sanft. Nur noch wenige Schritte. Ein paar davon ohne Deckung. Er rannte einfach los. Seine Schritte waren federnd. Die Zeit zog sich auseinander. Die Sonne wärmte ihn. Der Wind trug ihn.

Dann spürte er, wie sich ein peitschender Hieb um seine Fußgelenke zusammenzog, ihm ruckartig den Boden unter den Füßen nahm und ihn zu Fall brachte. Einige Sezuras verlor er den Kontakt zur Erde. Seine Muskeln wurden knallhart, seine Wirbelsäule krümmte sich. Er riss die Hände vor das Gesicht, drehte sich noch seitlich in der Luft und schlug dann auf dem steinigen Boden auf. Knochen brachen. Sein Körper war Schmerz.
Sie zogen ihn an Seilen heran, schleiften ihn über das Geröll hinter sich her durch das Tal und zerrten ihn in die Mitte ihres geschäftigen Platzes. Er schluckte Staub und Steine. Eine aufgebrachte Horde tausender zischender, fletschender Mäuler versammelte sich um ihn. Die klaffende Wunde in der Erde tat sich wie ein riesiger Eingang in die Hölle auf. Ein Vibrieren und Schütteln tief im Inneren der Grube blähte sich auf und die Gestalten öffneten hastig einen Durchgang in dem Kreis, den sie um ihn gebildet hatten.

Der Golm, der zu Torge herantrat, überragte die anderen um Köpfe. Braune Würmer, die wohl Haare waren, wanden sich über den Schultern. Seine Augen weiteten sich und starrten ihn an. Der Golm öffnete das Maul und blies Torge den modrigen Gestank seiner Eingeweiden in das Gesicht. Dann hob er die Krallen seiner Hand, die Menge verstummte. An den knorrigen Fingern glitzerten in Gold gefasste, grüne Diamanten. Grüne Diamanten! Die gleichen, wie Bronzius, der Bürgermeister sie trug. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Donnerschlag. Die Maschinen, die klaffenden Wunde hier im Tal, Elanes Schmerz, die Seuche. Torges Herz gefror. „Was hast du mit Bronzius zu schaffen, du elende Kreatur?“ Torge schlug um sich, doch seine Gegenwehr war aussichtslos. Ein Golm trat Torge gegen den Kopf und machte seinem kurzen Protest ein Ende. Ein taubes Gefühl floss durch sein Gesicht. Der Riesengolm ließ seine knorrigen Finger sinken, wandte sich um und verschwand in der Öffnung, aus der er gekommen war.

Torge spürte wieder die Hitze in sich aufsteigen. Sie zogen ihn in die Öffnung. Torge schüttelte es, als ob Frost seine Arme und Beine durchdrang. Er wollte die Lilie erreichen, er wollte den Nektar heimbringen, seine Schuld ungeschehen machen. Seine große Schuld.

Er hatte alle enttäuscht. Er spürte, wie sein Fleisch von ihm abblätterte. Es war ihm, als streife jemand seine Haut ab. Sie hatten ihn in eine dunkle Kammer gebracht. Er lag auf einem Tisch oder auf einer harten Platte, Hände und Füße konnte er nicht mehr bewegen. Ein großer Golm beugte sich über ihn. Er roch seinen faulen Atem. Mit einem spitzen metallischen Gegenstand tastete er Torges Körper ab. Er öffnete damit seinen Mund, drückte mit den Krallen des spitzen Besteckes seine Kiefer auseinander und blickte in den Rachen. Torge würgte.

Er hörte die Melodie. Eine süßliche Melodie. Sie durchströmte seinen Körper. Es war wunderbar warm. Wie in einer Blase trug es ihn davon. Und plötzlich schlüpfte er aus seiner Haut und ließ den Schmerz unter sich.

Er betrachtete seinen gezeichneten, blutüberströmten Körper von oben. Langsam erhob sich sein Bewusstsein. Die Wärme flutete ihn.
Er fuhr auf, ließ die dunklen Gestalten zurück, die sich an seinen Ohren zu schaffen machten, fuhr weiter in die Höhe, sah seinen Körper nur mehr noch als vage Form weit, weit unten.

Er stieg auf, immer weiter. Er tauchte in flüssiges Rot ein, in die Schattenlilie, trank ihren Duft mit allen seinen Sinnen. Er war leicht, frei, er war reines Bewusstsein.

Er sah den Rauch über Ilnaar. Schwarze Rauchsäulen reichten in den Himmel. Die Haufen der toten Körper vor Ilnaar brannten und wurden zu Erde. Männer und Frauen weinten um ihre Angehörigen. Elian weinte um seine Mutter und seinen Vater. Lenar streichelte den blonden Schopf und nahm ihn in den Arm. Es würde noch Jahzuras dauern, bis die Tränen Ilnaars versiegt waren, bis Elanes Gesang verstummte, bis sie erkannten und das teuflische Band durchschnitten.

Dann fühlte er Kennil, Maya, Tomje und Trauje und all die anderen, die dem Gesang gefolgt waren, in sich. Er fühlte ihr Lachen. Liebe durchströmte ihn. Reine Liebe. Sie alle waren Teile Elanes geworden, Teile eines höheren Selbst. Er fuhr höher. Dann war er eins mit Thyrit, ihre Liebe verschmolz mit seiner.
Er stieg noch höher, durch die endlosen Gipfel Elanes, durchbrach sie und sah das Licht über allem. Er war nun eins mit Elane. Er war Elane. Er war Liebe.

© by Tim Klück 2006
 

TimKlueck

Mitglied
Liebe Leute,

leider ist die Geschichte am Rande des Nachtwaldes Elane viel zulange geworden.
Umso mehr freut es mich, wenn sich trotzdem jemand hineinwagen sollte. ;-)
Ich freue mich über jede Rückmeldung!
Vorallem,
kann man in die Geschichte eintauchen? Erzeugt sie Atmosphere?
Wo hakt es? Gibt es Stellen, die zu ungenau oder zu kurz ausgefallen sind? Oder fange ich an, an anderen Stellen zu schwafeln oder mich zu wiederholen und zu viel zu beschreiben?
Stoßen die zusammengefassten, indirekten Reden an manchen Stellen bitter auf und stören etwa?
Wie kommt das Ende an?
Tausend Fragen und tausend Dank

Euer
Tim
 

Felix

Mitglied
Hallo Tim

ja deine Geschichte ist in der Tat recht lang geworden, aber das ist ja nicht weiter schlimm. Ich habe sie trotzdem gerne gelesen.
Du hast da eine düstere, atmosphärisch dichte Geschichte und Welt geschaffen, gefällt mir sehr gut. Der etwas fantastisch-altertümliche Sprachstil rundet das ganze Werk natürlich ab und trägt zur Atmosphäre bei.
Ich denke noch genauer hättest du nicht werden müssen, die Landschaftsbeschreibungen lassen einen in die Welt eintauchen, aber wie du selber schon gesagt hast: Die Geschichte ist länger geworden als du gedacht hast, also wären weitere Ausschmückungen meines Erachtens unnötig gewesen.
Die Umbenennung von Stunden und Wochen in Suzuras und Jahzuras ist zwar meiner Meinung nach überflüssig, aber ich denke, dass du deine Gründe für diese Namenswahl hast.
Einzig und allein das Ende ist ein wenig zu perfekt in meinen Augen. Es erweckt ein wenig den Eindruck, als wolltest du krampfhaft ein Happy End einbauen. Das ganze hat in meinen Augen einen leicht schnulzigen Anklang, gestalte das Ende nur halb so perfekt und etwas zweifelhafter und es ist noch immer passend.
Aber ich mag auch generell einen etwas anderen Geschmack haben, was Enden angeht...

Auf jeden Fall eine schöne Geschichte

Felix
 

TimKlueck

Mitglied
Hallo,
so, habe Orthografie und Zeichensetzung nochmal runderneuert und hoffe, dass einige Stolperfallen rausgenommen sind ;-)

Felix,
danke für deinen Kommentar!
Mit dem Ende bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Für mich ist es gar nicht unbedingt nur ein Happy End! Immerhin sterben ja wichtige Figuren;-) Aber den Hinweis, das Ende mehr vage zu lassen, nehm ich ernst. Mal schaun, wie ich`s mache. Auf jedenfall, Danke dir, für deine wertvollen Hinweise.

An alle anderen,
gefallen oder missfallen euch Adjektive im Text?
Gibt es welche, wo ihr die Arme über dem Kopf zusammen schlagt und sagt: Viel zu dick aufgetragen! Schreibt sie mir: ich kille sie! :)

Liebe Grüße
Tim
 

TimKlueck

Mitglied
Überarbeitung

Hallo, Leselupos, :)
habe die Geschichte nochmal sprachlich gründlich überarbeitet.

Mich würde interessieren, wo es noch Redundanz gibt, zähe Wiederholungen, Langatmigkeit, unnütze Adjektive oder Logikfehler, etc..

Und, ob das Ende der Geschichte, die Verknüpfungen, verstanden werden.

Danke fürs Lesen und liebe Grüße
Tim
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

es hat ein wenig gewonnen. n paar fehler sind aber immer noch drin. zb Holzbare. erstens wird Bahre mit h geschrieben und zweitens kommen da nur Tote rauf, Kranke kommen auf eine Trage.
Britsche schreibt sich mit P.
Wer von ihr Kosten darf - kosten.
. . .todkrank danieder - darnieder.
Ein Rascheln hinter der zweiten Kammertür lies ihn aufhorchen - ließ.
. . .doch Torge lies dies nicht zu - ließ.
Meister Torge, ich habe euch im Rat reden hören - Euch.
. . .wie ihr es mir aufgetragen habt - Ihr. dazwischen hat Kennil seinen Meister auch mal geduzt, was aber nicht weiter schlimm ist.
. . .Kinderfleisch besonders zart schmeckt - zart ist, weil es keinen zarten Geschmack gibt, jedenfalls nicht in der Literatursprache.
. . .als im die Nässe in den Kragen - ihm.
Torges Ohren begannen zu Rauschen - rauschen. wobei mir nicht klar ist, wie Ohren überhaupt rauschen können.
es gab kein zurück mehr - Zurück.
ein Vibrieren, dass die gesamte Erde - das.
mit den Stöpseln in den Ohren konnte er die den Ausgangspunkt - die zuviel.
innehalten und den Huste unterdrücken - Husten.
kartoffelgroß ist ein ungünstiger Vergleich, denn es gibt Kartoffeln, die fast ein Pfund wiegen und solche von wenigen Gramm.
Bronzius ist nicht eingeführt, er taucht plötzlich in deiner Geschichte auf und keiner weiß, wer das ist.
Die Häufen der toten Körper - Häufchen kenne ich. literarisch sagt man Haufen, auch in der Mehrzahl.
des weiteren fehlen mindestens 20 Kommas.
ansonsten ist die geschichte hübsch gruselige fantasy.
die adjektive sind gut platziert und keinesfalls zu wenige.
ich konnte mir die szenerie gut vorstellen.
lg
 

TimKlueck

Mitglied
Hallo flammarion,

danke fürs Lesen und Kritiesieren,
habe gleich deine Anmerkungen eingearbeitet.
Bronzius ist übrigens der Bürgermeister aus der Ratsversammlung. Habe das jetzt hoffentlich am Ende der Geschichte etwas deutlicher herausgestellt.

Nochmals vielen Dank und liebe Grüße
Tim
 



 
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