Eleanore

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tinta

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Sie hieß Eleanore. Zumindest habe ich sie so genannt. Der Mensch braucht schließlich einen Namen, oder? An den Namen gebunden ist immer eine Geschichte. Eltern, die einem den Namen gaben. Eine Kindheit. Weil ich nicht fragen mochte, taufte ich sie auf den Namen Eleanore. Immer, wenn sie kam, huschte ein Lächeln über meine Lippen. Nicht, dass ich sie näher gekannt hätte. Das nicht. Es war einfach so, dass ich mich, nun ja, wenn ich sie in meiner Nähe wusste, da fühlte ich mich gleich um ein paar Nuancen besser. Eleanore kam immer um die gleiche Zeit. Ich stellte mir vor, dass sie vielleicht von der Arbeit käme und nun nach Hause ginge. Andererseits hatte sie nie wie die meisten anderen Frauen eine Einkaufstasche dabei. Keine Familie, schloss ich daraus. Eleanore lief meistens gegen 13.35 Uhr raschen Schrittes an meiner Bank und mir vorbei. Aber nur von Montags bis Freitags. Ich folgerte daraus, dass sie von der Arbeit käme. Vielleicht war sie Verkäuferin. Oder Haushälterin. Kindergärtnerin? Nein, nein, eine Kindergärtnerin kann sie gar nicht sein. Die sind nicht geschminkt. Eleanore aber hatte stets ein frisches Rot auf den Lippen, die Wimpern dezent geschwärzt.

Ich stellte mir vor, dass sie vielleicht in einer Beratungsstelle arbeitet. Ja, genau. Sicher half sie anderen Menschen. Eleanore in der Beratungsstelle gefiel mir am besten. Jeden Tag, während des endlosen Wartens auf Eleanore, entwarf ich eine neue Geschichte. Eleanore, das unbekannte Wesen, nahm immer mehr Züge an. Meine Eleanore. Ein erhabener Mensch! Wie viel ich schon von ihr wusste! Sie hingegen nahm mich nicht einmal wahr. Wortlos ging sie Tag für Tag an mir vorbei. Ohne mich auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.

„Tach!“, sagte ich. Jedes Mal. Eleanore ging schnurstracks an mir vorbei. Sie sah mich einfach nicht. Erst war es mir gar nicht bewusst, warum sie mich offenbar mit voller Absicht missachtete. Als der verrückte Willi mich beiseite nahm, weil er, wie er sich ausdrückte, mal endlich Tacheles mit mir reden wollte, da, nun ja, ich gebe es zu, da war ich ehrlich betroffen. Nein. Ich will ehrlich sein: Ich war beleidigt. Sehr sogar. Und wütend. Den ganzen Abend lang überlegte ich mir, wie ich sie strafen könnte. Für ihre Haltung. Ihre Intoleranz.

Herrgott, flüsterte ich und warf dem da oben einen flehenden Blick zu, das Glück ist immer nur mit den Dummen. Warum nur hast Du mich so schlau gemacht? Der Herrgott antwortete mir nicht direkt, vielmehr schickte er mir einen Regenerguss zum Gruß. Am nächsten Tag lauerte ich bereits um 13 Uhr auf meiner Parkbank. Früchtchen, Du wirst mir nicht entkommen, dachte ich. Na warte, heute wirst Du was erleben! Unglücklicherweise verliert der Mensch, wenn er unendlich viel Zeit hat am Tag, gänzlich das Gefühl für die Abstände zwischen Erwachen und Schlaf. Mein Tag ist eine schier endlose Aneinanderreihung von einzelnen Augenblicken. Situationen. Perle an Perle reihen sie sich aneinander. Da sind die Momente des vollkommenen Glücks – genau dann, wenn ich auf meiner Bank sitze, sie haben sie gerade erst grün angestrichen... ja, wenn ich am Rhein bin und den Schiffen nachsehe, so lange, bis mir die Augen tränen, dann fühle ich es wie eine Woge, die mich überflutet. Ein Gefühl, wie ich es von ganz früher her kenne. Wenn man dieses Kribbeln in sich hat und die Mundwinkel sich ganz leicht nach oben richten. Wenn die Wärme sich in der Magengegend ausbreitet. Ganz tief in mir drin.

Glück reiht sich an Erschöpfung – immer dann, wenn ich es gründlich satt habe. An Verbitterung, wenn ich des Bettelns müde und der abschätzigen Blicke der Beamten überdrüssig bin. An Geborgenheit – meist, wenn ich mit Willi zusammen bin, an Erinnerungen, ach, die Kette scheint endlos zu sein.

Allerdings, ohne ein Maß verrinnen die Minuten, sie werden zu Stunden und die Stunden werden zu Tagen und doch, wenn ich mit dem verrückten Willi zusammen bin, dann kann die Sonne untergehen, ohne dass wir es auch nur im entferntesten bemerkt hätten. Damit die Minuten, genau waren es immerhin 35, nicht zur unendlichen Qual würden, zog ich meine Armbanduhr aus der Manteltasche. Sie sieht ein bisschen zerrupft aus, wie ein Torso vielleicht oder eine Kaulquappe ohne Schwanz. Das Armband hatte ich vor langer Zeit einmal Willi gegeben.

Er hatte mir dafür etwas Warmes gebracht, als es draußen kälter wurde. Ich betrachtete die Uhr, drehte sie auf den Rücken und strich mit dem Zeigefinger, ich sollte wirklich einmal etwas tun gegen die Nikotinverfärbung, Damen mögen so etwas nicht, über die Gravur. Für Kurt – In Liebe, Mine 1965

Das war lange her. Unwirsch schüttelte ich den Kopf und legte die Uhr neben mich auf die Parkbank. Nein, zu weit weg. Sie sollte nicht glauben, dass ich auf sie wartete. Das nicht. Ich schob die Uhr unauffällig an mich heran. So dass mein Bein sie fast berührte. Noch 13 Minuten. Na, die wird Augen machen. Sie wird schon merken, dass das so nicht geht. Ich sah gerade zwei Kindern zu, die die Schiffe beobachteten und sich gegenseitig erzählten, dass sie schon mal Kapitän waren, da bog sie um die Ecke. Ein rascher Blick zur Uhr. 13.32 Uhr. „Ich auch!“ schrie das eine Kind. „Ich war schon mal Kapitän auf einem Hochseedampfer. Ehrlich!“
Sie kam näher. Ich zog mir meine Hutkrempe etwas tiefer. Beäugte sie aus dem Augenwinkel. Sie beobachtete mich, ganz klar. Da kann mir keiner was vormachen, so etwas merke ich genau. Jetzt! Jetzt! Jetzt hatte sie meine Parkbank erreicht. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, sah blitzschnell hoch zu ihr. Sagte aber nichts. Kein „Tach!“ wie sonst. Nichts. Mucksmäuschenstill blieb ich. Da stutzte sie. Eindeutig, ich hatte sie verunsichert. Sie verlangsamte ihren Schritt, sah herunter zu mir. Sie sah mich an!

Sie sah mich an. „’ten Tag!“, grüßte sie. Sie hatte mich gegrüßt! Also doch! Also hat sie mich sehr wohl wahr genommen. All die vielen Male schon. In denen sie grußlos an mir vorbeilief. Sie hatte mich gegrüßt! Schon hatte sie wieder ihr gewohntes Schritt-Tempo erreicht. „Tach!“ rief ich ihr nach.
Den restlichen Tag verbrachte ich mit dem verrückten Willi. Den ganzen Nachmittag berichtete ich, immer wieder von neuem und jedes Mal in noch bunteren Farben, von meinem Treffen mit Eleanore.
„Willste sie wiedersehen?“ fragte der verrückte Willi.
„Aber natürlich! Gleich morgen werde ich wieder an unserem Treffpunkt sein.“
„Sagste zuerss’ Tach oder sie?“ Ich stutzte. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.
„Hier“, sagte Willi und gab mir ein in Fettpapier eingewickeltes Etwas.
„Iss Schildpatt“, flüsterte er mit Verschwörermiene, während ich vorsichtig das Papier auseinander faltete. Mit zusammen gekniffenen Augen blickte Willi zu beiden Seiten, so, als erwartete er jeden Augenblick festgenommen zu werden.
„Iss zwar verboten, aber glaub’ mir, ohne diesen Kamm geht gar nix! Nur mit diesem Kamm kriegste ihn hin!“
„Wen?“ fragte ich, zugegebenermaßen etwas begriffsstutzig.
„’n richtigen Schwung, Mann!“ Mit Willis Hilfe habe ich mir eine Tolle frisiert so wie früher.
„Aber das trägt man doch gar nicht mehr!“ wagte ich einzuwenden.
Willi machte eine wegwerfende Bewegung. „Menschenskinder! Abheben musste Dich! Sonst merkt se wieder nix!“
Das leuchtete mir ein. Ich nickte ernst.
„Und? Wirste se nu’ zuerss’ ansprechen oder nich’?“
„Willi! Das wird man sehen“, antwortete ich bissig und versuchte ein souveränes Gesicht. Die ganze Nacht zerbrach ich mir den Kopf darüber.

Am nächsten Tag, pünktlich wie sonst auch kam sie wieder zu meiner Bank. Zur Feier des Tages hatte ich eine weiße Nelke ins Knopfloch gesteckt. Mir das Haar frisch gewaschen.

Sie muss etwas bemerkt haben, denn wieder verlangsamte sich ihr Schritt – übrigens war sie heute überpünktlich, sicher hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigte es mir: Genau 13.27 Uhr war es, als sie um die Ecke bog, die die Strasse vom Park trennt. In Höhe meiner Bank stockte sie plötzlich, unschlüssig blieb sie stehen. Genau vor mir. Ein Bein lässig zur Seite geöffnet, das andere stand fest auf dem Boden. Sie trägt hohe Schuhe, dachte ich. Sah hoch zu ihr.
„Tach!“
„Ach was! Ich setz’ mich ein paar Minuten zu Dir, Opa“, sagte sie.
„Wie haben Sie mich genannt?“ fragte ich. Da hoffte ich immer noch, mich verhört zu haben.
„Alterchen! Nun sei mal nicht gleich beleidigt! Könntest doch mein Opa sein!“

Stille. Bis auf die Vögel. Die zwitscherten. Ich hockte da mit einer Grabesmiene. Neben mir Eleanore.
„Mensch, Opa, Du sagst ja gar nichts mehr! Was hast Du denn?“

Ich wünschte, Eleanore hätte mich nicht angesprochen. Ich wünschte, sie wäre wie sonst an mir vorbeigelaufen. Vielleicht mit einem freundlichen Gruß auf den Lippen. Vielleicht ein kurzer Blickwechsel. Alles, ja, wahrlich alles wäre besser gewesen als das.

Ich sah auf den Rhein. Die Schiffe zogen unbeirrt an mir vorbei. Wie sonst auch. Auf der anderen Seite des Rheins waren Leute. Die ließen einen Drachen steigen. Nichts war passiert. Für diese Leute nicht.
 

Stern

Mitglied
Hallo tinta,

das ist ein sehr einfühlsam geschriebener Text. Auch wenn ich noch nie als Bettler irgendwo auf einer Bank gesessen bin, kann ich mir gut vorstellen, daß es genau so geschehen könnte. Diese Entfernung von der Realität nach Jahren, in denen man nicht mehr wirklich dazugehört hat. Liebevoll trotzdem in dieser Freundschaft zu dem "verrückten Willi", aber eben doch auch selbst "verrückt". Die Pointe am Schluß, belustigend und schmerzhaft traurig gleichzeitig. Schön gemacht.

Liebe Grüße

Natalie
 

Shaiku Narim

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Auch mir gefällt deine Geschichte gut.
Sie ist so fesselnd, dass ich sie mir durchgelesen habe (und ich bin eine lnagsame Leserin) obwohl ich eigentlich gar keine Zeit habe.
Das ist fantastisch!
 

tinta

Mitglied
Hy, nun habe ich es endlich raus, wie man online antwortet. Ich habe mich sehr gefreut über Eure Kommentare! Zumal "Eleanore" auch für mich Neuland war. Merci!
Tinta
 



 
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