Emilie und ihre fliegende Verwandtschaft

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Dies ist das erste Kapitel einer Geschichte von Emilie und ihrer fliegenden Verwandtschaft
Kapitel 1


»Nein, das glaub ich nicht.«
»Doch, ich hab’s doch mit eigenen Augen gesehen. Er ist geflogen wie ein Vogel und direkt neben mir gelandet. Ich hab ihn gefragt, wie man das macht, mit dem Fliegen und so, denn das wollte ich natürlich auch lernen. Aber er hat mich nur so komisch angesehen und flog dann wortlos davon. Immer wieder hab ich gedacht, das gibt es nicht, das kann gar nicht sein. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würd’s nicht glauben.«
Emilie sah ihren Bruder ungläubig an. Bestimmt gaukelte er ihr wieder mal was vor. Aber irgendetwas war diesmal anders. Jörg erzählte ihr die Geschichte so glaubwürdig und mit so viel Ehrfurcht in der Stimme, dass sie beinahe bereit war, ihm zu glauben. Aber nur beinahe, denn allzu oft hatte er sie in der Vergangenheit schon genarrt und hinterher war sie immer die Dumme, die von allen ausgelacht wurde, weil sie mal wieder so naiv war. Da fliegen Menschen rum, das gibt’s doch gar nicht. Dennoch nahm sie sich vor, gleich heute an den Strand zu gehen, um nachzuschauen, ob es vielleicht doch menschliche Wesen gibt, die mit Flügeln vom Berg schweben. Natürlich heimlich, denn ihr Bruder sollte nicht glauben, dass sie diesmal wieder so leicht hinters Licht zu führen sei.
Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie sich noch mit ihrer Freundin Rike verabredet hätte, und verabschiedete sich gleich nach dem Mittagessen. Ihre Mutter rief ihr noch nach:
»Komm aber nicht so spät, wir wollen morgen früh rechtzeitig losfahren, damit wir nicht zu spät in Downhill sind«
Einmal im Jahr fuhren sie alle gemeinsam auf die Südseite der Insel, um dort einen ausgedehnten Bummel durch die kleine Inselhauptstadt zu machen. Zunächst spendieren die Eltern ihren Kindern einen Kinobesuch, damit sie einfach mal zwei Stunden ohne Stress durch die Einkaufsstraße schlendern und einkaufen gehen konnten, während die Kinder sich einen lustigen Film ansahen. Hinterher saßen dann alle gemeinsam in dem kleinen Eiskaffee unten am Hafen. Der Tag endete immer mit einer fröhlichen Heimfahrt.
»Ja, Mama, ich bin rechtzeitig zurück«, rief sie und lief schnell davon. Sie ging den kleinen Pfad, der an den Strand hinunter führt, hinab. Schon nach kurzer Zeit konnte sie in der Ferne das Wasser des Ozeans sehen. Rechts vom Pfad erstreckte sich ein gewaltiges Bergmassiv, das scheinbar nie enden wollte. Zur linken Seite lag das Meer. Wie ein Gemälde lag es da. Nur manchmal, wenn der Wind von See kam, trug es seine Wellen bis hinauf auf den Pfad, und schon so mancher wurde von ihnen erfasst und mit hinaus gerissen.
An einem Tag wie heute, an dem die Abendsonne sich in den Wellen spiegelte und ein milder Windhauch herüber wehte, konnte man überhaupt nicht mehr wegsehen, so schön war es hier. Emilie hatte heute aber keinen Blick für die Schönheit der Natur. Sie war mit ihren Gedanken ganz weit weg. Fliegende Menschen, so’n Blödsinn, ich mach mich ja lächerlich, dachte sie. Aber dann fiel ihr wieder eine alte Geschichte ein.
Als sie vor sechs Jahren mit ihren Eltern und ihrem Bruder vom Festland hier herüber kam erzählten die Inselbewohner, dass früher dunkle Gestalten den Berg herunter geflogen kamen, sich die Frauen und Kinder des Dorfes holten und wieder verschwanden. Sie wäre am liebsten gleich wieder aufs Festland zurückgekehrt. Aber ihr Vater lachte sie nur aus und sagte:
»Hör nicht auf diese Schauergeschichten. Es gibt keine dunklen Gestalten, die herumfliegen und Menschen entführen«.
Sie lächelte, als sie daran zurück dachte. Damals war sie gerade mal sieben Jahre und glaubte nur allzu gerne an solche Geschichten. Heute, mit ihren fast dreizehn Jahren, war das natürlich ganz anders. Sie hatte den Strand schon fast erreicht, als ein seltsames Geräusch sie aufschreckte. Es hörte sich an wie eine riesige Welle, die auf sie zuraste. Erschrocken sah sie sich um. Das Meer jedoch lag da wie gemalt. Nur kleine Wellen bewegten sich auf der Oberfläche. Weit und breit nichts zu sehen. Kopfschüttelnd ging sie weiter. »Wahrscheinlich, hab ich zu intensiv an die alten Geschichten der Inselbewohner gedacht«, ging es ihr durch den Kopf. »Eigentlich bin ich doch blöd, ich renne hier durch den Wald, nur um meinem Bruder zu beweisen, dass es keine fliegenden Menschen gibt. Hinterher lachen wieder alle über mich.«
Da, schon wieder dieses Geräusch. Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Emilie fühlte sich plötzlich gar nicht mehr wohl in ihrer Haut. Vielleicht ist es besser umzukehren, dachte sie, als plötzlich ein Schatten auf ihr Gesicht fiel. Erschrocken blickte sie nach oben. Über ihr schwebte ein Mensch. Vor Schreck stolperte sie über eine Baumwurzel, und fiel der Länge nach hin. Dabei stieß sie mit dem Kopf an einen Baum.
Emilie erwachte aus einem unruhigen Traum. Sie lag auf einer Matratze aus Stroh. Um sie herum Kinder, die Fangen spielten. Dabei rannten sie nicht hintereinander her, sondern sie schwebten über dem Erdboden, bewegten dabei aber ihre Beine so, als wenn sie laufen würden. Sie trugen lange, bunte Gewänder, die durch ein dickes Band um die Taille gehalten wurden. Wenn sie ihre Arme ausbreiteten, sahen sie aus wie kleine Engel, die über dem Boden schwebten. Emilie kniff ihre Augen zusammen und öffnete sie dann ganz behutsam wieder. Das gleiche Bild, die Kinder spielten immer noch.
Etwas abseits saß ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht war geprägt von zarten Sommersprossen, die sich allerdings kaum von ihrer dunklen Hautfarbe abhoben. Ihre langen schwarzen Haare fielen ihr wie angelegte Flügel über die Schultern. Mit ihren Fingern malte sie Figuren in den Sand. Sie beteiligte sich nicht an dem Spiel der anderen. Während Emilie noch überlegte, wie alt sie wohl sein mochte, bemerkte das kleine Mädchen, dass die Fremde aufgewacht war, und schaute sie schüchtern an.
»Hallo, ich bin Agba. Geht es dir gut? Möchtest du etwas essen? Ich muss Jongpa gleich Bescheid geben, dass du wach bist.«
Emilie schüttelte den Kopf. Nicht weil sie keinen Hunger hatte, sondern weil sie nicht glauben konnte, was sie sah. Sie kniff sich in den Arm. »Aua«, das tat weh. Doch kein Traum? Das kleine Mädchen schwebte lautlos davon.
Nach kurzer Zeit kam sie zurück. In ihrer Begleitung befand sich ein dunkelhäutiger Mann, der ihr seltsam bekannt vorkam. Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen haben könnte. Er trug ein langes dunkles Gewand, das durch große Knöpfe zusammengehalten wurde.
»Guten Tag, ich bin Jongpa, wie du von meiner kleinen Tochter gerade erfahren hast. Ich bin der Dorfmeister in diesem Tal. Die Menschen auf der anderen Seite der Insel würden vielleicht eher Bürgermeister sagen«.
Emilie war immer noch völlig benommen. Ich glaub das einfach nicht. Kinder, die über dem Boden schweben und Fangen spielen. Menschen, die scheinbar fliegen können. Das kann doch alles nicht sein. Und jetzt stand auch noch dieser fremde Mann vor ihr, der ihr dennoch so bekannt vorkam. Was war bloß mit ihr geschehen?
Jongpa sah sie mit einem nachdenklichen Blick an.
»Geht es dir gut? Du siehst etwas verstört aus. Aber ich kann dich beruhigen, dir will niemand etwas Böses antun. Du bist gestolpert und mit dem Kopf an einen Baum gestoßen. Mein Sohn Kami hat dich gefunden, und wir haben dich dann gemeinsam hierher geholt.«
Langsam kam die Erinnerung zurück. Irgendein Geräusch hatte sie so sehr erschrocken, dass sie stolperte. Aber danach, was dann passierte und wie sie hierher gekommen war, daran konnte sie sich nicht erinnern.
»Ich heiße Emilie. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Bin ich etwa auch geflogen?«, fragte sie ungläubig.
Ein Lächeln glitt über Jongpas Gesicht.
»Nein, geflogen bist du nicht wirklich. Allerdings haben wir dich im Flug hierher gebracht. Ich will dir auch gerne erzählen, warum«
Die anderen Kinder hatten sich inzwischen in einem Halbkreis um Jongpa und Emilie gesetzt und hörten gespannt zu, als dieser zu erzählen begann.
»Seit ewigen Zeiten lebt unser Volk friedlich in den Bergen und Wäldern hier auf dieser Insel. Nie gab es Kriege oder andere Auseinandersetzungen mit anderen Menschen. Vor vielen Jahren kamen dann Fremde hierher und begannen wahllos, jeden, der ihnen über den Weg lief, grundlos zu töten. Keiner wusste, warum, denn wir hatten ihnen ja nichts getan. Unsere Leute zogen sich immer weiter in die Berge zurück, doch die Fremden rückten weiter ins Landesinnere vor, sodass es irgendwann unausweichlich zu einem Kampf kommen musste. Die Jüngsten und Kräftigsten unseres Stammes taten sich zusammen und hielten Kriegsrat. Sie beschlossen, sich nicht weiter vertreiben zu lassen, und wollten kämpfen. Unser großer Vorteil war, dass wir fliegen konnten. So flogen wir nachts, wenn die Fremden schliefen, still und heimlich in ihr Dorf, und legten Feuer. Kerak, der Wortführer unserer Truppe, beschloss, die Eindringlinge nicht nur im Schlaf zu töten, sondern ihnen auf lange Sicht ihre Lebensgrundlage zu nehmen. Sie raubten ihre Frauen und Kinder und brachten sie in unser Dorf. So verschwanden nach und nach fast alle Frauen und Kinder der Eindringlinge. Die Wenigen, die überlebten, zogen sich mit ihren Männern auf die andere Seite der Insel zurück, und es begann wieder eine friedliche Zeit. Die entführten Frauen und Kinder lebten jetzt in unserem Dorf. Zunächst versuchten einige der Frauen mit ihren Kindern zu flüchten. Meist kamen sie aber nicht weit, denn Keraks Männer waren sehr wachsam und brachten sie bald wieder zurück. Nach anfänglichem Misstrauen schlossen die Kinder der beiden Völker schnell Freundschaften. Besonders Keraks Sohn, Kaolin, freundete sich mit einem kleinen Mädchen an. Sie hieß Maria Alvarez. Die beiden heirateten schon in jungen Jahren. Aus dieser Verbindung ging ein Junge mit Namen Pedro hervor. Doch dann geschah das Schreckliche. Kaolin kam eines Tages von der Jagd zurück und fand sein Dorf völlig verwüstet vor. Es gab kaum noch Überlebende. Alles war zerstört. Nach langer Zeit, hatten die Eindringlinge zurückgeschlagen. Es gab viele Tote, darunter auch Kerak, sein Vater. Voller Panik durchsuchte er das Dorf nach seiner Ehefrau und seinem Sohn Pedro, fand sie aber nicht. Wild entschlossen, Rache zu üben, holte er seine Krieger zusammen. Doch diesmal wollten die Männer nicht wieder einen Kampf beginnen, bei dem es auf beiden Seiten am Ende nur wieder viele Tote geben würde, und verweigerten ihm den Gehorsam. Kerak musste sich fügen. Er versuchte zunächst weiter auf eigene Faust seine Familie zu finden, aber schon bald musste er die Suche aufgeben. Die wenigen Überlebenden zogen sich zurück und lebten fortan verborgen im Landesinneren. Kaum ein Mensch bekam sie je zu Gesicht, sodass sie bald in Vergessenheit gerieten. Kaolin suchte sich eine neue Partnerin, die ihm wiederum einen Sohn gebar. Diesen Jungen nannten sie Jongpa. Wie du unschwer erraten wirst, dieser Junge bin ich. Bis heute gab es keine Begegnungen mehr zwischen unseren beiden Völkern. Unsere Späher allerdings beobachteten die Eindringlinge weiter, sodass wir immer genau wussten, was bei den Menschen auf der anderen Seite passierte, denn noch einmal wollten wir nicht so überrascht werden. Auf der Südseite der Insel hatte sich inzwischen eine kleine Siedlung gebildet, in der auch ein Missionar mit Namen Maximilian lebte. Dieser fand eines Tages vor seinem Haus eine dunkelhäutige Frau mit einem kleinen Kind. Sie machten einen sehr ängstlichen, verwahrlosten Eindruck. Maximilian gab ihnen zu essen und nahm die beiden bei sich auf. Er hatte von dem Massaker in den Bergen gehört und konnte sich vorstellen, dass die beiden von dort stammen müssten. Die Frau versuchte immer wieder, ihm etwas mitzuteilen, er verstand sie aber nicht. Es klang so ähnlich wie Pedo oder Peda. Dabei zeigte sie immer wieder auf das Kind. Sie selbst nannte sich Maria. Maximilian deutete dies so, dass sie mit Pedo oder Peda ihm wohl den Namen des Kindes nennen wollte und nannte den Jungen fortan einfach Peter. Da er keinen Nachnamen kannte, gab er ihm einfach seinen Namen, also hieß der Junge jetzt Peter Asam. Die junge Frau wurde immer schwächer und konnte zuletzt keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Es schien so, dass sie jetzt, da sie wusste, dass ihr Sohn gut versorgt war, am Ende ihrer Kräfte war. Eines Morgens lag sie tot in ihrem Bett. So wurde es uns später von unseren Spähern berichtet.«
Hier hielt Jongpa inne. Er merkte, dass Emilie kaum hinterher kam mit ihren Gedanken. Das, was sie gerade gehört hatte, stellt alles in Zweifel, was sie bisher über ihre Familiengeschichte wusste. Ihr eigener Nachname lautete Asam und ihr Vater hieß Peter. Sie wusste von ihm, dass er als Kind von einem Missionar großgezogen wurde. Den Namen des Missionars nannte er ihr nie. Seine Eltern seien bei einer Expedition in eine Schlucht abgestürzt, wurde ihm berichtet. Wenn das stimmte, was Jongpa soeben erzählte, dann waren Pa und Jongpa ja Halbbrüder.
»Ich muss sofort los und meinen Eltern alles berichten«, dachte sie. Emilie versuchte aufzustehen, sackte aber sofort wieder in sich zusammen. Der Sturz und die Erzählung Jongpas waren zu viel für ihren kleinen Körper. Sie brauchte erst einmal Ruhe und fiel in einen erholsamen Schlaf. Jongpa nahm eine weiche Decke und legte sie über Emilies Körper. Die anderen Kinder verloren das Interesse an dem fremden Mädchen und verschwanden so langsam alle zu ihren Eltern. Nur Jongpa und seine kleine Tochter blieben bei ihr. Emilie schlief unruhig. Sie träumte, dass sie mit ihrem Vater oben auf dem Berg stand. Von hier konnte man die ganze Insel überblicken. Ihr Vater zeigte ihr die schönsten Stellen dieser Insel.
»Siehst du dort am Horizont das kleine Schiff, das auf uns zukommt?«, fragte er.
»Oh ja Papa, lass uns ein Stück entgegen fliegen?«, entgegnete Emilie aufgeregt.
»Nein, Emilie, das geht nicht. Deine Flügel sind noch nicht ausgereift genug. Wir werden das Fliegen erst noch üben müssen.«
»Aber Papa, bitte, ich kann doch schon fliegen. Gestern erst bin ich unten am Strand von einer Düne geflogen, und es ging wunderbar. Wir können doch jederzeit landen, wenn es nicht mehr geht. Außerdem hast du es mir schon so lange versprochen.«
»Ja, aber doch nicht von hier oben. Nein, das geht nicht. Ich bekomme Ärger mit deiner Mutter.«
»Mama muss es doch gar nicht erfahren, bitte, Papa. « Dabei schmiegte sich Emilie ganz eng an ihn. Sie wusste, dass ihr Vater ihr meistens keinen Wunsch abschlagen konnte, wenn sie so schmusig war.
»Na gut«, sagte er, »aber du bleibst in meiner Nähe.«
Aufgeregt stellte sich Emilie neben ihren Vater und wie auf Kommando flogen beide gleichzeitig los. Sie stürzten sich kopfüber in die Tiefe. Nahmen rasend schnell Geschwindigkeit auf und glitten dann, wie von kleinen Wölkchen getragen, über den Baumwipfeln dahin. Emilie merkte, wie sie langsam an Höhe verlor. Sie öffnete ihre Schwingen und mit ein paar kräftigen Flügelschlägen gewann sie wieder an Höhe. Besorgt sah ihr Vater ihr zu.
»Lass uns dort bei der kleinen Lichtung landen«, sagte er. Aber Emilie bekam erneut Schwierigkeiten. Ihre Flügel konnten dem Druck nicht standhalten und wie ein Stein stürzte sie auf die Erde zu. Sie schrie: »Hilfe, Papa, Hilfe!«
Sie erwachte mit Schweißperlen auf der Stirn. Jongpa streichelte ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen. »Ruhig kleine Emilie, es war nur ein Traum«.
»Ich will nach Hause zu Mama und Papa«, sagte Emilie und begann leise zu weinen.
»Geduld, Emilie. Du wirst bald wieder bei deiner Familie sein. Doch zuvor möchte ich dir noch einiges erklären«, sagte er und fuhr fort, ihr seine Geschichte zu erzählen.
»Gestern flog mein Sohn Kami über die Berge, bis hinunter an euren Badestrand. Er war so in Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie ein fremder Junge ihn beobachtete. Erst, als er gelandet war und dieser Junge ihn ansprach, wurde ihm bewusst, dass er im verbotenen Gebiet war. Ohne zu antworten, flog er davon. Was ihn aber noch viel mehr erschreckt hatte, war die Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und ihm. Die Neugierde trieb ihn deshalb heute nochmals in dieses Gebiet. Als er mir nun erzählte, dass ein junges Mädchen verletzt auf dem Weg zum Stand liegt, die ebenfalls eine starke Ähnlichkeit mit ihm aufwies, beschloss ich, mich selbst einmal umzusehen, und fand dich dort am Baum liegend vor. Wir nahmen dich mit in unser Lager, denn auch ich war verblüfft. Während du schliefst, habe ich mich mit dem Rat der Ältesten beraten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du die Tochter meines Halbbruders Pedro sein musst. Ich weiß, dass dies alles für dich ein großer Schock sein muss. Aber nur wenn du die ganze Geschichte kennst, können wir herausfinden, ob unsere Schlussfolgerung richtig ist.«
Emilie war nun völlig durcheinander. In ihrem Kopf drehte sich alles. Zuerst fliegende Menschen, und jetzt sollte sie auch noch mit ihnen verwandt sein. Nein! Es gibt keine fliegenden Menschen. Im Traum vielleicht. Aber in der Realität? Und doch, sie war hier bei Menschen, die eindeutig fliegen konnten. Sie hatte es ja selbst gesehen. Und ihr Bruder Jörg auch. Emilies Gedanken ordneten sich langsam. Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und sah Jongpa an.
Erst jetzt bemerkte sie, dass da noch jemand stand. Er sah aus wie der junge Jongpa. Auch er hatte lange schwarze Haare, wie seine Schwester Agba, nur trug er sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Genau wie Agba hatte auch er kleine Sommersprossen. Seine Nase wirkte etwas zu groß, aber seine Augen strahlten eine Kraft aus, sodass man sich augenblicklich geborgen fühlte. Und er sah ihrem Bruder Jörg zum Verwechseln ähnlich. Das musste Kami sein. Ihr Cousin? Wie alt mochte er wohl sein? Gut sah er aus. Sein Blick durchdrang sie so gründlich, dass es ihr vorkam, als wenn das Sonnenlicht sie durchflutete. Emilie merkte, wie eine leichte Röte in ihr Gesicht zog
»Bitte bringt mich zurück zu meinen Eltern«, sagte sie, »ich muss unbedingt mit Mama und Papa darüber reden.«
»In Ordnung Emilie, Kami wird dich bis an den Strand begleiten. Wenn du mit deinen Eltern geredet hast, kommt bitte morgen zum Strand hinunter, damit wir gemeinsam über alles reden können. Ich freue mich darauf, endlich meinen Bruder kennen zu lernen.«
Jongpa schwebte davon und ließ sie mit Kami allein. Zum ersten Mal hörte sie Kami sprechen. Es klang seltsam. Er sprach in einem dunklen, warmen Ton. Obwohl seine Stimme sehr angenehm klang, war sie überrascht, denn sie hatte eher eine kindliche Stimme erwartet.
»Bist du bereit? Können wir starten?«, fragte er, und sah sie dabei mit einem Lächeln an.
»Wie soll das denn gehen?«, fragte sie, »ich kann doch nicht fliegen.«
»Ganz einfach, ich nehme dich auf den Arm und wir fliegen gemeinsam. Oder hast du etwa Angst?«
»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Emilie. Allerdings klang ihre Stimme dabei schon etwas seltsam.
»Also dann los«, sagte er und nahm sie bei der Hand. Sie gingen ein Stück den Weg entlang, bis sie an eine abschüssige Stelle kamen. »Dies scheint wohl so eine Art Abflugort zu sein«, dachte sie eben noch, als Kami sie, so als wiege sie nichts, auf den Arm nahm und mit ihr abflog. Emilie stieß erschrocken einen kleinen Schrei. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in ihr aus. In der Ferne erblickte sie das Meer. Sie flogen über den Baumwipfeln des Waldes dahin. Es war unbegreiflich schön. Emilie konnte sich gar nicht satt sehen an der Schönheit der Natur. Viel zu schnell war für sie der Flug zu Ende, denn sie hatten schon den Strand erreicht. Kami ließ Emilie sanft auf dem Boden aufkommen. Noch immer wie in Trance stand sie da und beinahe hätte sie vergessen, was eigentlich alles um sie herum passiert war, als sie Kami sagen hörte: »Bis morgen«, und schon flog er davon.
Emilie hatte kein Zeitgefühl mehr. Sie wusste nicht, wie lange sie eigentlich schon von zuhause fort war. Leichte Dämmerung hatte sich über das Land gelegt, und es wurde Zeit, dass sie nach Hause kam, bevor es dunkel wurde. Sie rannte den Weg zum Wald hinauf und konnte es kaum erwarten, ihren Eltern und ihrem Bruder von dem Erlebten zu berichten.

Peter Asam wuchs bei einem Missionar auf. Seine Eltern waren bei einer Expedition im Urwald verschollen. Sein Leben verdankte er einer Erkältung. So seltsam dies klingen mag, aber es war so, denn eigentlich war geplant, dass die Familie zusammen auf diese Expedition gehen sollte. Aufgrund einer schweren Erkältung Peters entschieden sich seine Eltern aber ihn bei einer Freundin zurückzulassen. Die Reise sollte nur drei Tage dauern. Doch sie kamen nie von dieser Expedition zurück. Die Freundin der Mutter konnte ihn nicht bei sich behalten, denn sie musste wieder nach Europa zurück. Da keine weiteren Verwandten bekannt waren, gab sie ihn in der Mission ab.
So hatte sein Ziehvater, der Missionar Maximilian Asam, es ihm in jungen Jahren erzählt. Sie zogen dann später nach Cayenne, einem kleinen Ort an der Nordspitze von Französisch Guyana. Mit sechzehn Jahren schickte Maximilian ihn nach Frankreich. Er sollte dort studieren. Nach erfolgreichem Studium zog es ihn aber wieder zurück nach Südamerika. Sein Ziehvater, Maximilian, war inzwischen verstorben. Er bekam eine Anstellung als Geologe bei einer großen französischen Firma und wurde nach Surinam, einem Nachbarstaat von Französisch Guyana, versetzt. Dort lernte er seine heutige Frau, die hübsche Holländerin Karen, kennen, und schon bald waren sie zu dritt. Ein Jahr nach Jörgs Geburt wurde Emilie geboren. Vor einigen Jahren bekam er das Angebot, auf einer entfernten Südseeinsel eine geologische Station aufzubauen, und so landete er mit seiner Familie hier auf Taihali. Es war reiner Zufall, denn niemand wusste, dass er hier die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Schon bei der Ankunft hatte er sofort wieder dieses Heimatgefühl. Er fühlte sich gleich wieder zu Hause. In den nächsten Jahren wurde dieses Gefühl immer stärker. Durch seine Arbeit und den damit verbundenen Stress geriet es manchmal in Vergessenheit, doch heute war es plötzlich wieder da. Es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Die Erinnerung an seine Jugend, zumindest an die Zeit, die er hier bei Maximilian verbrachte, war immer wieder gegenwärtig. Bis morgen musste allerdings der Bericht für die Delegation seiner Firma, die morgen ankommen sollte, fertig sein und er hatte noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab in die Vergangenheit. Irgendetwas geschah mit ihm, aber er konnte nicht sagen, was es war. Auch jetzt, wo er an seinem Schreibtisch saß und aus dem Fenster nach draußen sah, war er mit seinen Gedanken weit fort. Da erblickte er plötzlich Emilie am Waldrand. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Emilie, wie groß sie geworden war. Sie wirkte schon so erwachsen mit ihren dreizehn Jahren und war doch noch ein Kind. Er liebte seine beiden Kinder. Zu Emilie jedoch hatte er eine ganz besondere Bindung. Er konnte nicht erklären, was es war. Vermutlich haben Väter zu ihren Töchtern einfach eine engere Beziehung als zu ihren Söhnen. Bei den Müttern ist es dann wohl eher umgekehrt, dachte er bei sich. Oder war es nicht so? Er wusste es nicht.
Emilie sah durchs Fenster herein und klopfte aufgeregt dagegen. Sie rief:
»Papa, ich muss unbedingt mit dir reden. Es ist sehr wichtig!«, und schon rannte sie zum Hauseingang. Kurze Zeit später flog die Bürotür auf und Emilie lief aufgeregt auf ihren Vater zu.
»Papa, Papa ich habe fliegende Menschen gesehen und ich bin selbst mitgeflogen. Morgen wollen wir uns alle, du, Mama, Jörg und ich, am Strand mit Jongpa und den anderen treffen. Oh Papa, es gibt so viele Neuigkeiten, du wirst erstaunt sein, was ich alles erlebt habe.«
»Emilie, Kind, du bist ja völlig aufgelöst. Fliegende Menschen? Was soll so ein Blödsinn? Du weißt genau, dass es so etwas nicht gibt. Kein Mensch kann fliegen.«
»Doch, Papa! Du wirst sehen, dass ich recht habe. Jörg hat sie doch auch gesehen.«
»Emilie, nun beruhige dich erst einmal. Was hat dich denn nur so in Aufregung versetzt, dass du an fliegende Menschen und solch einen Humbug glaubst? Setz dich erst mal hin und erzähl mir in Ruhe, was vorgefallen ist. « Dabei strich er Emilie behutsam übers Haar und drückte sie sanft in den Sessel. Er erkannte seine Tochter kaum wieder. So aufgeregt hatte er sie schon lange nicht mehr erlebt. Ihr Gesicht war vor lauter Aufregung mit roten Flecken übersät. »Sie wird doch wohl nicht krank sein?«, dachte er besorgt, nahm ein Glas aus der Vitrine und füllte es mit gekühltem Orangensaft.
»So, nun trink erst einmal einen Schluck und dann erzählst du mir alles.«
Emilie nahm einen kräftigen Schluck und begann zu erzählen. Dabei wurde sie mehrmals von ihrem Vater, dessen Gesichtsausdruck immer ungläubiger wurde, unterbrochen. Als Emilie endete, nahm er selbst erst einmal einen großen Schluck und danach war es eine ganze Weile still im Raum. Er brauchte eine ganze Zeit, um das soeben Gehörte zu verstehen. Die ganze Geschichte klang so unglaubwürdig, dass er immer wieder den Kopf schüttelte.
»Emilie, ich kann das einfach nicht glauben. Das würde ja bedeuten, dass ich einen Bruder hätte, der irgendwo hier im Urwald lebt. Ganz zu schweigen davon, dass er auch noch fliegen können soll. Kind, wie kommst du nur auf solche Ideen? Du warst doch bisher immer ein vernünftiges Mädchen, das mit beiden Beinen auf der Erde stand. Und nun erzählst du mir eine Geschichte von fliegenden Menschen. Und Jörg soll es angeblich auch gesehen haben. Ich habe gar nicht gewusst, dass du so eine blühende Fantasie hast.«
»Oh bitte, Papa, glaube mir. Es ist wirklich alles so passiert, wie ich es dir erzählt habe. Lass uns morgen zum Strand gehen, und dann wirst du sehen, dass ich nicht gelogen habe.«
»Ich glaube, es ist besser, du machst dich jetzt fürs Bett fertig, schläfst erst einmal eine Nacht darüber und morgen reden wir dann noch mal in Ruhe darüber.«
Emilie war enttäuscht. Sie dachte, sie hätte ihren Vater überzeugt, aber er wollte ihr einfach nicht glauben. Ihre letzte Hoffnung war Jörg. Er konnte zumindest bestätigen, auch einen fliegenden Menschen gesehen zu haben. Sie wollte gleich mal mit ihm reden. Vielleicht würde Vater ihr dann glauben und mit zum Strand kommen. Mutlos stand sie auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging aus dem Zimmer. Kopfschüttelnd sah ihr Vater ihr hinterher. »Was ist bloß in das Kind gefahren?«, dachte er und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. »Aber seltsam war diese ganze Geschichte schon«, überlegte er. »Wie ist Emilie bloß auf diese seltsame Geschichte gekommen? Wie hat sie sich meine Herkunft bloß so fantasiereich zusammengesponnen? Wir werden morgen noch einmal über die ganze Sache reden müssen. Allerdings waren einige Punkte darunter, die Emilie nie von mir erfahren hatte. War schon alles etwas seltsam, aber jetzt muss erst einmal der Bericht nach Frankreich geschickt werden, sonst bekomme ich Ärger.«

Die Familie saß am Frühstückstisch und Emilie erzählte ihr Erlebnis vom gestrigen Tag. Ihr Vater, der inzwischen eine Nacht Zeit gehabt hatte, über die Geschichte nachzudenken, hörte sich alles sehr gelassen an. Ihre Mutter aber schaute völlig verwirrt. Immer wieder kamen von ihr Zwischenrufe wie: »Emilie, nein das kann nicht sein«, oder zu ihrem Mann gewandt, »wir müssen mit dem Kind zum Arzt, sie hat Halluzinationen«. Aber Peter Asam beruhigte sie wieder. Nachdem Emilie geendet hatte, rief Jörg begeistert aus: »Siehst du, ich hatte doch Recht. Es gibt fliegende Menschen. Lasst uns schnell zum Strand runter gehen.«
»Sind denn hier jetzt alle durchgedreht? «, rief die Mutter dazwischen, »Peter, nun sag du doch auch mal was«, wandte sie sich an ihren Mann. Peter Asam schaute in die Runde und verkündete: »Wir sollten Emilie die Chance geben, uns zu zeigen, was am Strand passieren soll. Danach sehen wir dann weiter.«
Emilie stieß einen freudigen Schrei aus. »Danke, Papa, du glaubst mir also«. Wieder hatte sie diese hektischen roten Flecken im Gesicht, die ihr Vater am gestrigen Abend schon bei ihr bemerkt hatte.
»Halt, halt«, entgegnet er, »ich sagte nicht, dass ich euch glaube, wir geben euch lediglich die Chance, uns zu erklären, wie ihr auf diese seltsame Geschichte gekommen seid, und wenn es dir so wichtig ist, dann gehen wir eben gemeinsam an den Strand und lassen es uns dort von dir erklären.«
Emilie war überglücklich. Waren sie erst einmal alle am Strand, würde sich sicherlich alles aufklären. Auch Jörg freute sich riesig. Nur Karen, Emilies Mutter, sah nicht glücklich aus. Hatte sie doch ernste Bedenken, was die Gesundheit ihrer Tochter anging. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, dass ihr Ehemann so ruhig bei der ganzen Sache blieb. Aber was blieb ihr anderes übrig, als mit zu gehen. Seltsam erschien ihr nur, dass Jörg auch solch fliegende Wesen gesehen haben wollte. Peter Asam nahm seine Frau an die Hand und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Es wird sich alles aufklären, die Kinder sind bestimmt nicht krank«, flüsterte er ihr leise ins Ohr. Emilie und Jörg waren inzwischen aufgesprungen und räumten selbstständig den Tisch ab. Eine Angelegenheit, die sonst nie so friedlich verlief und ständig zu Streitgesprächen führte, wer denn eigentlich dran sei mit Abräumen und so weiter.

Kami saß oben auf einer Palme und konnte den ganzen Weg vom Waldrand bis hinunter zum Strand einsehen. Sein Vater hatte ihm den Auftrag gegeben, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn Emilie und ihre Familie erscheinen würden. Er dachte über Emilie nach. Hübsch hatte sie ausgesehen, wie sie so verängstigt und verloren auf der Strohmatte lag und schlief. Ihre langen blonden Haare waren wie seine zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine leichte Röte lag auf ihrem Gesicht. Um ihren Mund spielte ein leichtes Lächeln, so als wenn sie gerade etwas sehr Schönes erlebt hatte. Er war so in Gedanken, dass er beinahe die kleine Gruppe, die sich auf dem Weg näherte, übersehen hätte. Nur durch das helle Lachen Emilies wurde er auf sie aufmerksam. Mit einem kräftigen Schwung stieß er sich ab und flog in Richtung seines Dorfes, um seinen Vater zu benachrichtigen.

Jörg hatte sich auf einen Baumstumpf gestellt, um Emilie und den Eltern zu zeigen, wie er fliegen konnte. Er breitete die Arme auseinander und setzte zu einem Sprung an, der natürlich wie ein Flug aussehen sollte, rutschte aus und fiel dabei auf den Hintern. Emilie und ihr Vater mussten laut lachten. Auch Jörg, nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte, fiel in das Gelächter mit ein. Nur Mutter konnte der ganzen Sache noch nichts Gutes abgewinnen. Sie verstand nicht, dass ihr Ehemann alles auf die leichte Schulter nahm. Fliegende Menschen! Ein unbekanntes Volk im Urwald! Und dann auch noch Verwandtschaft! Das ist doch alles Blödsinn. Warum nur macht ihr Mann das mit? Sie schüttelte den Kopf und schaute nach vorne. Da bemerkt sie in der Ferne einen großen Vogel. »Was ist das denn? «, dachte sie, »so große Vögel hier in unserer Gegend?« Und dann kam ihr plötzlich eine Idee. »Bestimmt hatten die Kinder diese Vögel auch gesehen, und in ihrer Fantasie dachte sie nun, dass es fliegende Menschen wären. Auch ihr Mann muss diese Vögel schon gesehen haben und wird den Kindern gleich erzählen, um welche Vogelart es sich handelt und dass sie, in ihrer Fantasie, diese wohl für fliegenden Menschen gehalten haben. Nur deshalb blieb er so ruhig.« Jetzt wurde ihr einiges klar.
Inzwischen waren sie am Strand angekommen. Emilie blickte sich nach allen Seiten um.
»Wo sind Jongpa und die anderen? Wie soll sie sich mit ihnen in Verbindung setzen?« Emilie wurde nervös. Und ausgerechnet jetzt sprach ihr Vater sie an. »Nun, Kind, wo sind deine fliegenden Menschen? Du bist jetzt am Zug. Was sollen wir machen?«
»Papa, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir uns heute hier am Strand treffen wollten. Hab bitte noch etwas Geduld«
»Da, seht doch, dort kommen sie.«, rief Jörg plötzlich und zeigte aufgeregt in Richtung Wald. Alle schauten jetzt zum Wald. Emilies Mutter wurde ganz blass. Ihre Beine waren plötzlich wackelig und sie musste die Augen zusammenkneifen, auf einmal verschwamm alles vor ihren Augen. Sie war einer Ohnmacht nahe. Auch Peter Asams Gesichtsfarbe änderte sich. Er musste seine Frau stützen. Nur Emilie fuchtelte wild mit den Armen und rief immer wieder: »Hier sind wir, Jongpa, hier!«
Keine drei Meter vor Emilie und ihren Eltern entfernt landeten Jongpa und seine beiden Kinder. Während Agba freudestrahlend auf Emilie zulief und sich an ihre Seite stellte, blieb Kami neben seinem Vater stehen. Die Familien standen sich zunächst stumm gegenüber, bis Jongpa das Schweigen brach. »Hallo Emilie, ich freue mich, dass du mit deinen Eltern und deinem Bruder an den Strand gekommen bist.«
Dann wandte er sich direkt an Peter Asam und seine Frau. »Ich denke, Emilie wird euch schon einiges über uns erzählt haben. Es ist mir eine große Freude, euch persönlich kennenzulernen. Das sind mein Sohn Kami und meine Tochter Agba«, dabei zeigte er auf seine beiden Kinder.
Peter Asam hatte sich inzwischen einigermaßen erholt. Er ging einen Schritt auf Jongpa zu, um dann wieder abrupt stehen zu bleiben.
»Ich habe noch nicht so ganz begriffen, was hier eigentlich vor sich geht, aber wenn ich Emilie richtig verstanden habe, dann haben wir uns einiges zu erzählen. Ich schlage vor, dass wir uns erst einmal einen schattigen Platz suchen und dort alles bereden.«
Er ging auf die drei zu und begrüßte sie. Nachdem auch Emilies Mutter und Jörg die drei begrüßt hatten, begann ein großes Palaver. Es gab viel zu erzählen. Noch am späten Nachmittag sah man die beiden Familien am Strand sitzen und sich aufgeregt unterhalten. Die Asams erfuhren, dass Jongpas Frau vor zwei Jahren verstorben war und er seither die beiden Kinder allein erzog. Sie erfuhren etwas über das Leben im Urwald und über das Fliegen. Jongpa berichtete ihnen, dass immer mehr Kinder zur Welt kamen, bei denen die Flugeigenschaften nicht mehr vorhanden waren. Die Medizinmänner hätten schon alles Mögliche versucht, aber keinem war es bisher gelungen, den Grund für die verlorenen Flugeigenschaften zu finden. Peter Asam erzählte aus seinem Leben. Wie es ihn hier an diesen Ort verschlagen hatte und vieles mehr. Die vier Kinder saßen dabei und hörten gespannt zu. Nur gelegentlich unterbrach Emilie die Erwachsenen, stellte eine Frage oder ergänzte die Ausführungen ihrer Eltern. Jörg hingegen war sehr ruhig. Immer wieder schaute er zu Kami, der, ohne jede Regung, fast teilnahmslos, den Gesprächen der Erwachsenen lauschte.
Besonders interessierte Jörg die Technik des Fliegens. Er wollte zu gerne wissen, ob er es auch lernen könnte. Die kleine Agba saß, eng angelehnt, bei Emilie, so als wollte sie sagen: »Ich lass dich nie mehr los.«
Die Zeit verging und die Sonne verschwand langsam am Horizont. Und immer noch gab es viel zu erzählen. Auch Emilies Mutter beteiligte sich inzwischen rege an den Gesprächen. Keiner bemerkte die Gruppe von Jugendlichen, die sich am Waldrand versammelt hatte, um sich dort zu ihren abendlichen Zusammenkünften zu treffen. Erst als laute Rufe herüberschallen, wurden Emilie und ihre Leute auf sie aufmerksam.
»Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir aufbrechen. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen um zehn bei uns im Haus und reden weiter, wenn ihr einverstanden seid«, schlug Peter Assam vor. Die anderen willigten auch sofort ein und wollten aufstehen, als einer der Jugendlichen vom Waldrand zu ihnen herüberkam. Leicht schwankend und mit schwerer Zunge sprach er Emilie an.
»Hey, du bist doch die Kleine, die immer alleine hier am Strand spazieren geht. Willst wohl nichts mit uns zu tun haben, hä?«
Dabei hielt er eine Flasche mit Alkohol in der Hand.
»Was ist los, hat es dir die Sprache verschlagen, oder kannst du nicht sprechen, weil deine Eltern und diese komische Typen bei dir sind? Was sind das eigentlich für Gestalten? Mein Kumpel behauptet, er hätte euch fliegen gesehen. So`n Quatsch. Kein Mensch kann fliegen. Also, was ist los? Sind wir dir nicht gut genug?«
Bevor noch irgendjemand reagieren konnte, war Kami aufgesprungen und stellte sich zwischen Emilie und den jungen Mann.
»Du solltest vorsichtig sein mit dem, was du sagst. So redet man nicht mit einem jungen Mädchen.«
Peter Asam versucht die beiden auseinander zu drängen, aber es war schon zu spät. Der Junge nahm seine Flasche und versuchte sie Kami auf den Kopf zu schlagen. Emilie schrie erschrocken auf. Aber Kami reagierte blitzschnell. Er ergriff die Hände des Jungen, bevor der die Flasche in die Höhe bekam, und drehte die Hand zur Seite, bis ein fürchterlicher Schmerzensschrei von dem Jungen zu hören war. Er ließ die Flasche fallen und schaute entsetzt auf seinen rechten Arm, der regungslos herunterhing. Dies alles ging so schnell, dass niemand von den Erwachsenen reagieren konnte. Erst jetzt ging Jongpa auf seinen Sohn zu und forderte ihn auf, sich bei dem Jungen zu entschuldigen.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, entgegnete Kami, »er wollte Emilie angreifen. Ich habe nur versucht, sie vor ihm zu beschützen«.
»Es ist, wie es ist. Du entschuldigst dich bei ihm und dann gebt ihr euch die Hand«, entgegnete Jongpa. Zähneknirschend willigte Kami ein und ging auf den Jungen zu. Dieser wich erschrocken zurück. Fürchtete er doch, erneut verletzt zu werden. Ganz kleinlaut stand er nun da, immer noch nicht begreifend, wie schnell alles passiert war. Die anderen aus seiner Gruppe hatten aus der Ferne alles mit angesehen und waren inzwischen näher gekommen. Sie wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Wurde doch eben ihr Anführer ohne viel Aufsehen außer Gefecht gesetzt. Das hatte bisher noch keiner geschafft. Galt er doch als unbesiegbar. Peter Asam ergriff das Wort.
»Jungs, bleibt ruhig. Das war sicher nur ein Missverständnis. Wir werden alles in Ruhe bereden. Keiner will Streit. Setzt euch zu uns und wir reden«.
Nachdem sich die Lage etwas entspannt hatte, begann Emilies Vater zu reden:
»Also, meine Familie kennt ihr ja sicherlich schon länger. Wir leben drüben hinter dem Wald, am Weg zum Dorf. Hier neben mir sitzt Jongpa, daneben, diese kleine Lady, das ist Agba, Jongpas Tochter und ganz außen sitzt Kami, Jongpas Sohn, der vielleicht eben etwas hitzig reagiert hat, aber dafür hat er sich ja schon entschuldigt. Wir haben überhaupt nicht vor, euch hier zu stören und wollten gerade aufbrechen, als der junge Mann«, dabei zeigte er auf den Anführer der kleinen Gruppe, der jetzt allerdings wie ein Häufchen Elend da saß, »etwas aufgeregt auf meine Tochter Emilie zuging. Ich hoffe, der Vorfall ist damit erledigt und wir können uns jetzt friedlich voneinander trennen.«
Einer der Jugendlichen stand auf, ging auf Kami zu und gab ihm die Hand.
»Wir wollen keinen Streit. Wir haben gefeiert und dabei wohl etwas viel Alkohol getrunken. Ihr müsst aber auch zugeben, dass es schon etwas seltsam anmutet, wie ihr ausseht, mit den komischen Schwingen an eurer Seite. Einer aus unserer Gruppe behauptet sogar, er hätte euch schon fliegen sehen. Ist natürlich völliger Blödsinn, aber das alles und der Alkohol war wohl der Auslöser für Knut, unseren Anführer, mit dem Streit zu beginnen. Seid bitte nicht böse.«
Nachdem aus der Gruppe zustimmendes Gemurmel einsetzte, schlug Kami in die dargebotene Hand ein. Einzig der Anführer stand etwas abseits und schaute nicht so glücklich drein. War er doch sehr in seiner Ehre gekränkt. Man sah förmlich, wie er darüber nachdachte, seinen Führungsanspruch in der Gruppe wieder zu festigen. Sie verabredeten, sich am nächsten Tag hier am Strand zu treffen. Dabei wollten sie dann auch die Geschichte mit den »Schwingen« klären. Die Jugendlichen zogen sich an den Waldrand zurück. Auch Jongpa, Kami und Agba verabschiedeten sich. Sie gingen zusammen mit den Asams bis zum Wald und flogen dann, als sie außer Sichtweite der Jugendlichen waren, davon.
Emilie erwachte und überlegte kurz, ob sie alles nur geträumt hatte, aber die Erinnerungen an den gestrigen Tag waren noch so frisch, dass es unmöglich nur ein Traum gewesen sein konnte. Nur kurz musste sie an den unschönen Zwischenfall mit den Jungen aus dem Dorf denken. Doch sogleich wanderten ihre Gedanken wieder zu Jongpa und seiner Familie zurück. Heute, gleich nach dem Frühstück, wollte man sich treffen. Schnell sprang sie aus dem Bett und verschwand im Badezimmer. Von unten hörte sie schon die Stimmen ihrer Eltern. Wie die wohl geschlafen hatten? Sie konnte es gar nicht erwarten, sich zu ihnen an den Frühstückstisch zu setzen, um über das Erlebte mit ihnen reden. Als sie die Treppe herunter kam, erschien auch gerade ihr Bruder Jörg im Flur. Aus der Küche hörten sie aufgeregte Stimmen. Emilie und Jörg sahen sich an und öffneten schnell die Küchentür. Am Tisch saßen ihre Eltern. Ihnen gegenüber stand Jongpa und redete aufgeregt auf die beiden ein. Emilie konnte gerade noch hören, wie ihr Vater sagte:
»… und warte doch erst einmal ab, vielleicht ist er ja schon längst wieder zu Hause. «
»Was ist denn passiert?«, fragte sie und blickte aufgeregt in die Runde. Erst jetzt merkten die Erwachsenen, dass Emilie und Jörg im Zimmer waren. Jongpa wandte sich an die beiden und erzählte ihnen, dass Kami verschwunden war. Er war am Abend noch mal zum Strand geflogen und seither hatte ihn keiner mehr gesehen. Irgendetwas musste passiert sein, denn auf Kami war immer Verlass.
»Er würde nie so einfach ohne Grund weg bleiben«, sagte Jongpa. »Ich mache mir wirklich Sorgen.«
»Dann lasst uns schnell zum Strand runter gehen und nach Kami suchen«, rief Emilie aufgeregt.
»Halt, halt, halt, mein Fräulein«, meldete sich jetzt ihr Vater, »zunächst einmal werdet ihr zwei frühstücken und dann sehen wir weiter. Während ihr das Frühstück einnehmt, beratschlagen wir draußen erst einmal, wie wir jetzt vorgehen.«
Und so geschah es dann auch. Obwohl Emilie und auch Jörg eigentlich gar keinen Hunger hatten, sondern lieber sofort auf die Suche nach Kami gehen wollten, gehorchten sie. Emilies Mutter, die bisher noch gar nichts gesagt hatte, stellte den beiden das Frühstück auf den Tisch und setzte sich zu ihnen. In ihrer ruhigen Art versuchte sie den beiden klar zu machen, dass es niemandem etwas nutzte, wenn jetzt alle ziellos am Strand herumliefen und nach Kami suchten. Jongpa und Pa würden schon eine Lösung finden.
Kami versuchte, seinen linken Arm zu bewegen, aber er reagierte nicht. So sehr er sich auch mühte, er bekam ihn nicht von der Stelle. Die ganze linke Seite war irgendwie lahm. Er hatte überhaupt kein Gefühl mehr. Was war passiert? Er versuchte sich zu erinnern. Am Abend war er an den Strand geflogen. Er wollte nochmals über den aufregenden Tag nachdenken. Er konnte das Wasser schon sehen, als ihn auf einmal ein heftiger Schmerz durchzuckte. Als er sich an die linke Schulter griff, bemerkte er, dass sich ein spitzer Gegenstand in seinem Schulterblatt befand. An den Rändern seines Umhanges färbte sich seine Schulter rot. Er verlor sehr viel Blut. Kami fühlte, wie er langsam die Besinnung verlor. Schnell versuchte er noch zu landen, was ihm aber nicht mehr so richtig gelang, sodass er in der Krone eines Baumes hängen blieb. Er musste eine ganze Weile bewusstlos gewesen sein, denn als er wieder zu Bewusstsein kam, war es schon dunkel und er hörte Stimmen in der Ferne und wollte schon auf sich aufmerksam machen, als ihm einfiel, dass es ja nicht unbedingt Freunde sein mussten, die sich dort aufhielten. Irgendjemand musste ja wohl auf ihn geschossen haben. Deshalb verhielt er sich zunächst einmal ruhig. Jetzt kam es ihm zugute, dass er bei der Landung in der Baumkrone hängen geblieben war. Seine Leute würden ihn wohl eher aus der Luft suchen. Inzwischen war aber schon einige Zeit vergangen und er hatte noch niemanden ausmachen können, der nach ihm suchte. Außer eben die fremden Stimmen, die er gehört hatte. Seine Schulter schmerzte sehr und er merkte, dass er wieder kurz vor einer Ohnmacht stand. Es gelang ihm einfach nicht die Wunde zu verschließen und die Blutung zum Stillstand zu bringen. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn er versuchte, mit der rechte Hand den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, schoss ein neuer Blutschwall hervor. Sein linker Arm hing schlaff an seiner Seite. Zum Glück lag er so auf der Astgabel fest, dass er keine Angst haben musste herunterzufallen. Seine Beine hingen quer über zwei Äste und sein Kopf hatte sich in einer Astgabel verfangen. Gerade wollte er wieder versuchen, sich den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, als er erneut Stimmen vernahm. Diesmal hörte er sie direkt unter sich.
»Verdammt, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Dieser komische Vogelmensch. Bist du sicher, dass du ihn getroffen hast?«
»Klar, wie ein Stein ist er runter geknallt. Hab’s doch gesehen. Außerdem weißt du genau, wie gut ich mit dem Bogen umgehen kann. Auf die Entfernung kann ich das Ziel gar nicht verfehlt haben. Er muss hier irgendwo liegen!«, hörte Kami jemanden antworten. Diese Stimme, die er schon am späten Nachmittag gehört hatte, erkannte er sofort wieder. Es war Knut, der Anführer der Gruppe.
»Vielleicht ist er ja in den Bäumen hängen geblieben. Dann haben wir schlechte Karten, denn die sind zu hoch. Dort kommen wir nicht rauf«, hörte er eine andere Person reden. »Ich glaube, mir kommt da so eine Idee«, sagte Knut in diesem Augenblick. »Passt mal auf, Leute, wir werden ein kleines Feuerchen entfachen. Er muss ja irgendwo im Umkreis von etwa zwanzig bis dreißig Metern sein. Wenn er wirklich dort oben in den Bäumen liegt, dann wird der Rauch ihn schon herunter holen.«
»Bist du verrückt, Knut, wir können doch hier mitten im Wald nicht einfach ein Feuer entzünden. Bei dieser Trockenheit fängt doch der ganze Wald an zu brennen.«
»Blödsinn, wir passen natürlich auf. Das ganze Gestrüpp, das hier herumliegt, räumen wir natürlich weg. Und zwei von uns passen auf, dass das Feuer sich nicht ausbreiten kann. Sobald wir merken, dass uns die ganze Sache außer Kontrolle gerät, löschen wir das Feuer sofort. Hauptsache, dieser komische Vogel fällt uns vor die Füße.«
Kami fiel wieder in eine Ohnmacht und konnte nichts dagegen tun.
Emilie und Jörg verspürten überhaupt keinen Hunger. Würden sie doch viel lieber sofort aufbrechen und Kami suchen. Aber ihre Mutter ließ sie nicht vom Tisch aufstehen, bevor sie nicht gefrühstückt hatten. Endlich war es dann soweit. Sie liefen schnell nach draußen, um Jongpa und Peter Assam zu suchen. Die waren gerade dabei, einige Sachen in eine Karre zu legen.
»Wir haben hier einige Hilfsmittel, die wir mitnehmen, um Kami zu suchen. Ich denke, ein Seil und etwas Verbandszeug können auf keinen Fall schaden. Wir haben beschlossen, dass Jongpa zu seinen Leuten fliegt und diese dann Kami gemeinsam aus der Luft suchen, während wir den Strand und den nahe gelegenen Wald absuchen. Mutter wird hier am Haus auf uns warten.«
Jongpa flog dann auch gleich davon. Peter Assam und die Kinder machten sich auch auf den Weg. Als sie auf den Waldpfad kamen, der zum Strand hinunter führte, sahen sie schon von weitem eine riesige Rauchsäule in den Himmel steigen. »Jörg, lauf sofort zurück zum Haus und ruf die Feuerwehr«, rief Peter Assam, »ich laufe mit Emilie weiter zum Wald und schaue, was dort los ist.«
Jongpa hatte den Rauch natürlich auch gesehen. Eine dunkle Vorahnung ließ ihn mit großen Schwüngen auf die Rauchsäule zufliegen. Er umkreiste einige Male die Feuerstelle, konnte aber außer den dunklen Rauchschwaden nichts entdecken. »Ich muss tiefer fliegen«, dachte er, »sonst werde ich überhaupt nichts sehen.« Er flog nun so tief über den Baumwipfeln, dass er sie beinahe streifte. Immer wieder konnte er gerade noch einigen höher gewachsenen Ästen aus dem Weg fliegen. Und da auf einmal meinte er zwischen den Rauchschwaden etwas gesehen zu haben. Er flog in einem großen Kreis wieder zurück. Der beißende Qualm zwang ihn immer wieder kurzzeitig aus dem Rauch herauszufliegen, um frische Luft zu schnappen. Er startete einen erneuten Anflug, um etwa an die Stelle zu kommen, wo er meinte, etwas gesehen zu haben. Und tatsächlich. Dort lag ein Mensch auf einer Astgabel. Er flog direkt auf ihn zu und erkannte sofort, dass es sein Sohn war. Kami war bewusstlos. Jongpa sah den Pfeil, der in seiner Schulter steckte. Kami musste sehr viel Blut verloren haben, denn die ganze linke Seite war rot gefärbt. So behutsam, wie es ihm möglich war, versuchte er ihn anzuheben. Ein Stöhnen drang aus Kamis Mund. Er lud ihn sich auf seine Schulter und flog erst einmal aus dem Rauch heraus. Schnell flog er an den Strand hinunter, damit Kami ärztlich versorgt werden konnte. Schon von weitem sahen Peter Assam und Emilie Jongpa mit einer Last auf der Schulter heranfliegen. Peter breitete eine Decke auf dem Boden aus und sie legten Kami vorsichtig darauf. Wieder hörten sie Kami stöhnen. Er musste starke Schmerzen haben.
Jörg hatte inzwischen die Feuerwehr benachrichtigt und kam in diesem Augenblick mit einem Feuerwehrauto am Waldrand an. Einer der Feuerwehrleute bemerkte sofort den Verletzten und rief über Funk einen Notarzt. Nachdem sie Kami notdürftig versorgt hatten und im Moment nichts mehr für ihn tun konnten, fuhren die Feuerwehrleute weiter zum Brandherd. Knut und seine Freunde hatten von dem ganzen Vorgang nichts mitbekommen und suchten immer noch zwischen den Bäumen nach Kami. Sie bemerkten auch nicht, wie sich zwei Feuerwehrleute ihnen von hinten näherten, erst als einer der Männer Knut packte und wütend auf ihn einschrie:
»Seid ihr denn völlig verrückt geworden? Ihr steckt hier den ganzen Wald an. Macht sofort das Feuer aus.«
Zutiefst erschrocken, wollten die Jungs schnell weglaufen, besannen sich jedoch eines Besseren und schlugen mit ihren Jacken auf die Flammen ein. Gemeinsam hatte man den Brand schnell unter Kontrolle.
Inzwischen hatte der Notarzt Kami behandelt und mit dem Krankenwagen ins nächste Krankenhaus gefahren. Auch die Polizei war schon da. Als der Polizeimeister Knut entdeckte, ging er wütend auf ihn zu und sagte:
»Du natürlich, hätte ich mir denken können. Wenn hier bei uns irgendetwas Ungesetzliches passiert, sind du und deine Bande natürlich beteiligt. Nehmt sie mit zur Wache«, sagte er seinen Leuten und wandte sich an Peter Assam. »Gut, dass Sie so schnell zur Stelle waren. Wer weiß, was sonst noch passiert wäre.«
»Nun, eigentlich haben wir Jongpa die Rettung des Jungen zu verdanken. Er hat ihn aus den Bäumen herunter geholt, und nur deshalb konnte der Notarzt ihn so schnell behandeln.«
»Jongpa? Wer ist das denn?«, fragte der Polizist. Peter und Emilie sahen sich um. Jongpa war verschwunden. Sicherlich war er mit seinem Sohn ins Krankenhaus gefahren, dachte Peter Assam und klärte den Polizeimeister kurz auf. Der ging kopfschüttelnd davon.
»Fliegende Menschen. Die wollen mir wohl einen Bären aufbinden«, dachte er, »aber ich muss mich erst einmal um die Jungs kümmern und dann werde ich die Sache mit dem Feuer klären.« Zu Peter Assam und Emilie gewandt, sagte er:
»Ich möchte, dass ihr zwei nachher zu mir auf die Wache kommt, und wenn möglich, bringt diesen Jongpa auch gleich mit.« Dann fuhr er davon. Auch die Feuerwehrleute begaben sich wieder an ihr Auto und machten sich abmarschbereit. Peter Assam hatte richtig vermutet. Jongpa war mit seinem Sohn ins Krankenhaus gefahren. Nachdem die Ärzte ihre erste Verwunderung über diesen jungen Mann überwunden hatten, besannen sie sich auf ihre ärztliche Pflicht und versorgten seine Wunden. Kami hatte zwar sehr viel Blut verloren, aber ansonsten waren die Verletzungen nicht so schlimm. Sein Schultergelenk war gebrochen und es würde einige Zeit dauern, bis er wieder völlig auf dem Damm war, aber ansonsten schien alles soweit in Ordnung zu sein.
Ob allerdings seine Flügel etwas abbekommen hatten, konnte zu dieser Zeit noch niemand sagen. Im Krankenhaus machte es allerdings sehr schnell die Runde, dass da ein seltsamer Mensch im Krankenzimmer lag, der angeblich fliegen können soll. Ständig versuchte jemand unter falschem Vorwand ins Zimmer des Patienten zu kommen. Erst der Polizeikommissar machte dem Spuk ein Ende, indem er einfach eine Wache vor das Zimmer stellte, sodass Kami endlich zur Ruhe kam und ein wenig schlafen konnte. Am späten Nachmittag trafen sich dann alle Beteiligten auf der Polizeiwache. Nach Aufnahme der Personalien – hier gab es allerdings zunächst Probleme, da Jongpa keinen Ausweis vorweisen konnte und der Polizist einfach nicht glauben wollte, dass er irgendwo dort draußen im Wald wohnen sollte – wurden zunächst Knut und seine Freunde verhört. Schnell stellte sich heraus, dass Knut der Hauptübeltäter war. Seine beiden Freunde schoben alle Schuld auf ihn. Knut wurde einem Jugendrichter vorgeführt und zunächst, da er keine leiblichen Eltern mehr hatte und bei seiner Großmutter, die allerdings mit der Erziehung völlig überfordert war, aufwuchs, in die Obhut des Jugendamtes übergeben. Die beiden anderen Jungs wurden zu ihren Eltern gebracht. Erst jetzt konnte sich der Polizeikommissar um Jongpa kümmern. Er ließ sich von diesem seine Geschichte erzählen. Wie Jongpa auf Emilie und ihre Familie aufmerksam geworden war. Wie Jongpa zu dem Schluss kam, dass er und Peter Assam Brüder seien.
Warum man noch nie etwas von diesem fliegenden Volk in den Bergen gehört hatte. Und noch vieles mehr. Erst am späten Abend war das Verhör beendet und Jongpa und die Assams konnten nach Hause gehen. Jongpa flog zurück in die Berge, um sein Volk und vor allen Dingen seiner Tochter Agba von den Ereignissen zu berichten. In den nächsten Tagen trafen sich die beiden Familien täglich. Sie besuchten Kami in der Klinik und es entstand eine tiefe Zuneigung zwischen den Familien. Besonders Jörg und Kami kamen sich näher. Als Kami nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen wurde, blieb er zunächst erst noch einige Tage bei den Asams, ehe er dann zum ersten Mal nach seiner Verletzung wieder versuchte zu fliegen.
Copyright Eckard Neu
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

sehr schön.
wenn eine weitere fortsetzung oder sogar mehrere folgen, verfasse bitte einen klappentext, unter dem du dann die weiteren folgen postest. sie erscheinen darauf bei Lange Geschichten, sind aber von hier aus zu erreichen. das ist in der lelu so üblich. dann sind die teile auch nicht so verstreut.
lg
 



 
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