Endstation

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Gilmon

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Endstation

Ich hatte mich verirrt, ich hatte mich verfahren, nun war es mir endgültig klar. Ich hatte es wieder mal geschafft und eine so große Stadt wie Bremen verfehlt. Mein Plan über Delmenhorst nach Bremen zu kommen war kläglich gescheitert, dass entschuldigte weder die Dunkelheit, noch die späte Stunde kurz vor Mitternacht. Nun befand ich mich auf irgendeiner Landstraße, ohne länger einen Ort passiert zu haben, ohne das mir ein Auto entgegenkam und mich mit Fernlicht blendete. Das beunruhigte mich.
Ich hatte mich verirrt. Doch noch immer versuchte ich mich zu beruhigen: Nein, das kann nicht sein, ich bin nirgendwo falsch abgebogen, als ich plötzlich scharf auf die Bremse trat. Wie aus dem nirgendwo tauchte ein Ort und davor eine Brücke auf.
Welch ein eigenartiger Ort, durchlief es mich sofort, kein Licht war zu sehen. In was für einen verschlafenen Nest war ich gelandet? Trügten mich meine Sinne oder hatte ich auf dem Straßenschild den Namen „Nirgendwo“ gelesen. War es eine Täuschung oder wurde mein Scheinwerferlicht tatsächlich immer kürzer und schwächer?
Es war ein eigenartiger Ort!! Keine Laterne brannte, in keinem Fenster war Licht, die Häuser sahen trist und traurig aus. Keine Pflanzen schmückten die Stadt, alles war grau in grau. Ich fröstelte kurz, etwas kaltes hatte mich gestreift. Der Radiosender wurde immer schwächer und verschwand völlig, die Scheiben fingen an zu beschlagen.
Ich weiß heute nicht mehr, warum ich anhielt. Wahrscheinlich bewog mich der Bahnhof zum Anhalten, der neben mir auftauchte und viel zu groß für diesen kleinen Ort war. Am Bahnhof gab es sicherlich jemanden, der sich hier auskannte und mir den Weg nach Bremen erklären konnte. Das dachte ich wohl damals. Ich hielt also am Straßenrand und stieg aus. Mein Blick erschien mir benebelt und meine Sichtweite ging nicht sehr weit. Das Sehen machte mir Schwierigkeiten, ich musste meine Augen anstrengen. Ich überprüfte kurz den Sitz der Kontaktlinsen, sie schienen richtig zu sitzen. Ich wollte mich schon zum Bahnhof bewegen, da sah ich einen alten Mann, der offenbar auf einem Kissen lehnte und zum Fenster hinaussah. Es war ziemlich finster, aber soviel glaubte ich mit Anstrengung erkennen zu kennen. Sehr eigenartig, nirgendwo brannte Licht, aber ein alter Mann starrte nach Mitternacht aus einem dunklen Fenster auf eine leere Straße hinaus. Ich ließ den alten Mann alten Mann sein und betrat den Bahnhof. Auch der Bahnhof war dunkel, kein Licht war zu sehen und ein Geruch von Verwesung biss mich in der Nase. Ein Schild war zu erkennen. Ich zog ein Feuerzeug heraus und las den Namen „Endstation“.
Jeder Mensch wäre jetzt in sein Auto gestiegen und hätte den Ort verlassen, aber wie von einer ruhigen, unsichtbaren Hand geleitet, ging ich weiter. Ich ging eine Unterführung entlang, zu jeder Seite führte eine Treppe nach oben. Es wurde zunehmend kälter, ich fröstelte erneut, der Verwesungsgeruch blieb gleich. Ich wählte eine Treppe und ging nach oben. Niemand war zu sehen, nirgendwo. Kein Zug stand im Bahnhof, so weit ich es mit meiner Sicht der Dinge beurteilen konnte. Ein leises Rauschen war zu hören. Ein Zug kam, so klang es zumindest. Ich trat ganz nah an die Bahngleise heran.
„ Treten Sie gefälligst von der gelben Linie zurück.“ Plötzlich stand ein Mann neben mir, er kam wie aus dem nirgendwo. „ Was machen Sie hier? Treten Sie zurück.“
Das Rauschen wurde langsam lauter, wenn ein Zug einfuhr, dann fuhr er ganz langsam. Ich musterte mein Gegenüber ganz genau. Es war keine Uniform der deutschen Bundesbahn. So eine Uniform hatte ich noch nie gesehen, nirgendwo.
„ Was machen Sie hier?“, wiederholte er, „ Sind Sie mit dem letzten Zug gekommen? Warum sind Sie nicht mit den Anderen in der Kanzlei? Sie müssen doch ihren Totenschein unterschreiben.“
Was, meinen Totenschein? Bei diesen Worten erschrak ich mich fast zu Tode.
„ Nein, ich habe mich verfahren. Ich wollte nach Bremen und... .“, stammelte ich. Das Rauschen wurde lauter, die Umrisse eines langsamfahrenden Zuges waren zu erahnen.
„ Was?“, brachte der Bahnwärter nur heraus, die Sache schien seine Kompetenz zu überschreiten.
„ Sind Sie tot oder sind Sie nicht tot?“, schob er verzweifelt nach. Was für eine Frage!
„ Nein.“, brachte ich über meine Lippen.
„ Äh.“, er schien ratlos. „ Dann, dann... . Hören Sie zu! Sie verlassen jetzt den Bahnhof, gehen dann nach rechts, bis Sie ein großes Gebäude sehen, dort melden Sie sich bei der Kanzlei für Noch-Lebende. Verschwinden Sie, ich muss jetzt den Zug abfertigen.“
Auch wenn er nicht die Uniform eines deutschen Beamten trug, der Ton stimmte. Der Zug fuhr jetzt langsam ein, ein leises Seufzen war daraus zu hören, wie aus den Kehlen von 1000 Unglücklichen. Der Zug machte mich neugierig. Der Beamte trat erneut an mich heran: „ Ich fordere Sie erneut auf zu gehen. Sie stören meine Arbeit. Gehen Sie!!“
Dieser Mensch ging mir auf den Geist, ich machte mich auf den Weg zum Gebäude und verließ den Bahnhof. Nach kurzer Zeit hatte ich wieder mein Auto erreicht und überlegte kurz, ob ich es nehmen sollte oder ob ich zu Fuß gehen sollte. Ich entschied mich zu Fuß zu gehen, so weit konnte es nicht sein. Ich bog bereits nach rechts ab, als mich eine empörte Stimme zurückhielt.
„ Wie lange wollen Sie hier noch parken? Wissen Sie nicht, dass Sie hier nicht parken dürfen?“
Den alten Mann am Fenster hatte ich völlig vergessen. Ich gab mich sogleich diplomatisch und versöhnlich, wollte mir jetzt jeden weiteren Ärger ersparen.
„ Das wusste ich nicht, ich fahre gleich weg.“
„ Das hätten Sie sich früher überlegen müssen. Eine Anzeige haben Sie schon.“, triumphierte der alte Mann.
„ Wie bitte?“, gab ich mich noch immer diplomatisch.
„ Sie können nicht einfach parken wo Sie wollen, ich habe bereits die Polizei verständigt. Ordnung muss sein.“
Langsam warf ich Diplomatie und Versöhnlichkeit über Bord.
„ Wenn ich Sie richtig verstehe, sitzen Sie hier die ganze Zeit auf ihr Kissen gelehnt, dies auch bei Nacht“, dabei blickte ich bedeutungsvoll in den sternenlosen Himmel, „ und achten darauf, dass niemand falsch parkt?“
Die Worte „ auch bei Nacht“ schienen ihn zuerst zu verwirren, doch er antwortete dann mit einem kurzen „Ja“.
„ Schön, dass Sie ein Hobby haben.“, gab ich zur Antwort.
Der letzte Satz schien ihn zu verärgern.
„ Schauen Sie, dass sie verschwinden, sonst haben Sie noch eine Anzeige wegen Ruhestörung am Hals.“
Mittlerweile war alle Diplomatie von mir gewichen, nirgendwo spürte ich den Drang zur Versöhnlichkeit. Ich stieg langsam in meinen Wagen und warf dem Alten einige böse Worte entgegen: „ Wissen Sie, Sie sind einer von den Menschen, die nur das sehen, was Sie sehen wollen. Sie sehen, wenn einer vor ihrer Tür falsch parkt, Sie sehen, wenn jemand bei Rot über die Ampel geht. So etwas sehen Sie, aber wenn jemand ihre Hilfe braucht, weil er verletzt ist, sei es durch einen Unfall oder wenn jemand angegriffen oder verfolgt wird, das sehen Sie nicht. Sie sehen nur das, was Sie wollen.“
Der Alte rief mir noch etwas nach, was ich nicht mehr verstand. Verärgert drückte ich noch einige Male auf die Hupe, Ruhestörung aus reiner Bösartigkeit. Nach schon 200 Metern erreichte ich das beschriebene Gebäude. Eine Strecke, die ich locker zu Fuß hätte zurücklegen können. Eine Sünde denkt man an die heutigen Benzinpreise. Also hielt ich nach 200 Metern, parkte mein Fahrzeug und vergewisserte mich, dass kein alter Mann in der Nähe war.
Also, die Kanzlei für Noch-Lebende war mein Ziel und in dem großen Gebäude sollte ich sie finden. Erst als ich die Eingangstür öffnete, wurde mir klar, wie ungewöhnlich es eigentlich war, dass ein deutsches Amt um diese Zeit noch auf hatte, die meisten hielten es ja nicht einmal bis 12 Uhr mittags aus, geschweige denn bis nach Mitternacht. So etwas hatte ich noch nirgendwo gesehen. Langsam wurde mir klar, dass ich mich an einen höchst eigenartigen Ort gelandet war, euphemistisch gesprochen versteht sich. Also betrat ich das Gebäude, in welchem es sogar eine Art Beleuchtung gab, auch hier euphemistisch ausgedrückt. Bei diesem minimalen Licht suchte ich nach der Kanzlei auf einer von mir entdeckten Info-Tafel. 2 Stock, Zimmer 209, ergab sich nach einigen Suchen. Somit stieg ich die Treppen hinauf. Bald hatte ich das Zimmer erreicht und erkannte zu meiner Erleichterung keine Warteschlange vor der Tür. Nun ja, um diese Zeit. Ich klopfte an und wurde nach einiger Zeit von einer Frau hereingerufen. Auf den ersten Blick erschien sie mir sympathisch, nur etwas dürr und blass im Gesicht. Ich setzte mich.
„ Sie wünschen?“, warf sie mir entgegen.
Wie sollte ich beginnen? Ich begann einfach.
„ Einer von diesen Bahnhofsmenschen hat mich hierher geschickt, wissen Sie, das Problem ist...“ Ja, was war das Problem noch mal?
„ Also,“, fuhr ich fort, „ eigentlich wollte ich nur den Weg nach Bremen wissen und dann fragte er mich ob ich tot bin oder nicht. Und ich sagte nein und dann schickte er mich hier her.“
Sehr präzise von mir, aber sie schien verstanden zu haben.
„ Also, sind Sie nicht tot, sondern nur scheintot?“, wobei sie das Wort „scheintot“ nur sehr vorsichtig und leise aussprach.
Langsam wurde ich böse: „ Hören Sie mal, eigentlich bin ich gar nicht tot. Ich bin weder tot, noch scheintot, noch untot und habe sonst auch keine Todesart. Eigentlich wollte ich nur nach Bremen und habe mich verfahren... Ach was, ich gehe jetzt und fahre weiter, ich habe die Nase voll.“
„ Das geht nicht“, entgegnete sie.
„ Warum nicht“, warf ich ein.
„ Nun, hören Sie mal. In diesem Fall, der äußerst selten vorkommt, aber leider immer wieder, müssen wir für Sie einen Totenschein ausstellen und diesen gleich darauf wieder vernichten.“
„ Was?“
„ Ja, Ordnung muss sein. Danach dürfen Sie gehen.“
„ Dann machen Sie das!“
„ Bedaure, dafür bin ich nicht zuständig.“
Natürlich, Kompetenzen sind grundsätzlich verteilt und nie an dem Ort, wo man sie braucht.
„ Aber, warum nicht. Das ist die Kanzlei für Noch-Lebende und ich lebe noch, das denke ich zumindest.“, versuchte ich zu retten.
„ Ja, sie sind nicht scheintot. Diese Kanzlei ist nur für Scheintote zuständig.“, erklärte sie mir, wobei sie das Wort „scheintot“ immer sehr vorsichtig aussprach, „ Früher nannten wir uns auch Kanzlei für Scheintote, dann wurden wir allerdings verklagt, da dieser Begriff angeblich zu negativ klingt. Ein scheintoter Jurist füllte sich diskriminiert. Der Prozess ging damals bis zum jüngsten Gericht und seitdem müssen für uns offiziell Kanzlei für Noch-Lebende nennen, aber gehen Sie doch in die Große Halle des Todes im Erdgeschoss, da wird man Ihnen sicherlich weiterhelfen.“
Was bleib mir anders übrig, ich bedankte mich artig und ging also zur Großen Halle des Todes. Ich tastete mich ins Erdgeschoss, fand dort ein großes, sogar gut beleuchtetes Schild mit einem Wegweiser zur Großen Halle des Todes und stand bald vor zwei großen, schwenkbaren Türen. Was würde mich hier erwarten? Ich überlegte noch kurz und ging dann hinein. Ich inspizierte den Raum mit meiner bescheidenen Sichtweite so gut es ging. Mir bot sich ein erstaunliches, ja ein erschreckendes Bild. Wo war ich hier gelandet? In einer Flughafenwartehalle? Der Raum erschien mir immens groß und war zu meiner Überraschung von Menschen angefüllt, nirgendwo sah ich ein Ende. Das sind die Toten, durchfuhr es mich. Ich stand noch immer in der Tür, langsam wurde man offenbar auf mich aufmerksam. Es war an der Zeit, mir einen Platz zu suchen. Ich suchte nach einem freien Sitz. Da hinten war offenbar etwas frei, ich schritt darauf zu, wollte mich bereits setzen, als mich eine alte, blasse Frau darauf hinwies, dass ich noch eine Nummer ziehen musste. Das war sicherlich nicht falsch, bei näherer Betrachtung hielt jeder ein Stück Papier in der Hand.
Ich suchte eine Zeitlang diesen Kasten mit den Nummern, in langen, unregelmäßigen Abständen war immer ein Gong zu hören. Ich fand den Kasten und zog eine Nummer. Nummer 805. Diese Zahl stimmte mich nicht gerade optimistisch. Nun gut, ich hatte eine Nummer. Nun brauchte ich noch einen Platz, etwas orientierungslos lief ich herum, etwas heller könnte es hier schon sein. Wo war ein freier Platz? Verdammt, war diese Halle groß. Endlich hatte ich einen Sitz gefunden. Ich setzte mich zwischen eine junge, recht attraktive, wenn auch recht blasse Blondine und einen alten Mann, ohne Kissen und Fenster. Ich wartete. Nichts weltbewegendes passierte. Es war totenstill, gelegentlich war der Gong zu hören und zeitweise hörte man jemanden aufstehen. Da kam mir eine Idee. Mal sehen, welche Nummer meine Nachbarin hatte. Möglichst unauffällig blickte ich zur Seite und versuchte die Nummer zu entziffern. Nach einiger Zeit gelang es mir. Nummer 666. Die Zahl stimmte mich noch weniger optimistisch.
„ Dumm, wenn man so lange warten muss.“, ergriff sie plötzlich das Wort. Ich schwieg.
„ Hallo, ich bin Emilia, sei gegrüßt mein seelenloser Bruder. Ich habe Freitod begannen und wie bist Du gestorben?“, fuhr sie fort und reichte mir ihre eiskalte Hand. Eine solche Frage muss man erst einmal verarbeiten. Ich zögerte kurz und sagte dann: „ Ich bin nicht tot.“
„ Ja, das sagen sie alle.“, lachte sie. Für eine Tote war sie erstaunlich gut drauf.
„ Nein, ich bin wirklich nicht tot.“, versuchte ich es noch einmal.
„ Tja, da kann man nichts machen.“, lachte sie wieder und fügte dann leise hinzu, „ Bist du wirklich nicht tot?“
Die Frage kam mir bekannt vor.
„ Nein.“, gab ich überzeugt zur Antwort.
Jetzt meldete sich der alte Mann leise neben uns und flüsterte uns zu: „ Ruhe! Könnt ihr nicht lesen. Da vorne das Schild: Das Sprechen ist zu unterlassen!!“ Er deutete mit seiner Hand ins Dunkle.
Ich sah nichts, versuchte doch etwas zu sehen und blickte verzweifelt in die Dunkelheit. Meine Augen taten weh und ich sah immer schlechter.
„ Siehst Du schlecht?“, nahm Emilia das Wort trotz des Verbotes wieder auf.
„ Nicht so richtig.“, flüsterte ich.
„ Tja, dann lebst Du noch. Ein Toter kann selbst die tiefste Dunkelheit durchblicken. Ja, er blickt einfach hindurch. Du lebst. Ein Lebender im Reich der Toten.“
Emilia schüttelt den Kopf. Der Alte seufzte nur noch, so viele Regelverletzungen machten ihm zu schaffen. Reich der Toten. Tot oder lebendig. Es reichte mir endgültig. Ich stand auf.
„ Jetzt ist Schluss mit lustig. Ich suche mir jetzt einen Verantwortlichen, der diese verdammte Sache regeln soll. Und wenn ich bis zum Sensenmann selbst gehen muss.“ Eine eiskalte Hand hielt mich zärtlich zurück.
„ Immer mit der Ruhe. Setzt dich wieder.“, versuchte mich Emilia zurückzuhalten. Ich setzte mich.
Sie fuhr fort: „ Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor. Ich helfe Dir hier raus. Zuerst musst Du sehen lernen, zwar bist Du blind, aber durch mich wirst Du sehen. Wenn Du geradeaus blickst, kannst Du eine Tafel mit Nummern sehen. Darauf steht die Nummer 650. Diese Nummer darf in die Kanzlei. Ist ein Gong zu hören, ist die nächste Nummer dran. Wenn deine Nummer dran ist, gehst Du rein und klärst die Sache. So einfach ist das.“
Ich sank in mich zusammen. Der Alte stand auf, wollte sich offenbar einen neuen Platz suchen, so viele Regelverstöße waren zuviel für ihn.
„ Ich habe Nummer 805.“, gab ich zur Antwort.
Sie legte mir ihre eiskalte Hand auf die Schulter und sagte: „ Wir tauschen einfach unsere Nummern. Das ist sicher auch verboten, aber was soll’s. Nimm ruhig meine Nummer, ich habe alle Zeit der Welt.“
Ich nahm diesen Tausch dankbar an. Nun trat eine Weile Schweigen zwischen uns ein. Da ich die Anzeigetafel nicht sah, zählte ich jeden Gong. 651, 652, 653. Schnell ging es nicht gerade. Bei 658 ergriff ich wieder das Wort.
„ Warum hast Du dich eigentlich umgebracht?“ Zugegeben eine indiskrete Frage, aber Langweile führt gelegentlich zu indiskreten Fragen.
„ Nun,“, begann sie sogleich, „ sagen wir es so. Meine Sicht der Welt verneinte ein weiteres Leben. Also ging ich in das Zimmer meines Bruders, ein leidenschaftlicher Freund von Reptilien, griff mir eine Giftschlange und den Rest kannst Du dir denken. Meine Mutter war immer gegen Giftschlangen, sie meinte, sie würden nur Unglück bringen. Sie sollte recht behalten.“
Sie trug alles recht locker vor. Ein reichlich exzentrischer Tod. Man sollte nicht mit den Schlangen spielen.
„ Sieh es doch mal so.“, schob sie nach, „ Wir sind eine orientierungslose Generation auf dem Abstellgleis der Gesellschaft. Wir sind alle talentiert, können etwas, aber niemand braucht uns wirklich.“
Ich schwieg. Was sollte ich dazu sagen. Mittlerweile waren wir bei 660. Es folgte 661. Auch sie schwieg. Plötzlich wandte sie sich wieder an mich.
„ Wusstest Du, dass Gott auch nicht mehr gebraucht wird? Sie haben ihn alle verlassen. Zuerst die Gläubigen, dann die Engel und die Heiligen. Jetzt ist er ganz allein da oben, hat schreckliche Angst und ruft immer wieder: „ Meine Gläubigen, meine Gläubigen warum habt ihr mich verlassen.“ Sie machte eine Pause. Was sollte ich von ihr halten.
Wieder später sagte sie: „ Nur der Tod ist noch allgegenwärtig. Dem Tod kann sich keiner entziehen. Gevatter Tod hat Gott verdrängt.“
Ich atmete tief durch. 666. Meine Nummer. Ihre kalte Hand berührte mich wiederum.
„ Ich führe Dich zur Kanzlei. Durch mich wirst Du sehen.“
Sie führte mich zur Kanzlei, was offenkundig nicht verboten war. Kurz vor der Tür blieb sie stehen, die ich jetzt auch schon erkennen konnte.
„ Geh, mein doch nicht so seelenloser Bruder. Geh und blicke Dich nicht um.“
Sie ließ meine Hand los. Ich ging und öffnete die Tür zur Kanzlei. Wiederum nur spärlich beleuchtet. Ich erkannte eine Theke und drei schattenhafte Gestalten, offenbar die Beamten. Die drei Schatten waren offenkundig sehr beschäftigt. Endlich wurde man auf mich aufmerksam. Ein Schatten löste sich auf, ich erkannte eine Frau mittleren Alters, die an die Theke trat, wiederum sehr blass.
„ Sie, wünschen.“
„ Nun,... .“
„ Geben Sie mir zuerst ihre Nummer.“, unterbrach sie mich.
Ich gab ihr meine Nummer. Sie nahm die Nummer, ging damit aus meinem Sichtfeld und wurde wieder schattenhaft. Kramte scheinbar in irgendwelchen Unterlagen, fragte einen Kollegen und kam endlich wieder zurück.
„ Nummer 666. Vertauschen der Nummern. Unerlaubte Kommunikation. Na, dies wird Konsequenzen haben.“
„Hören Sie zu,“, unterbrach ich sie, „ mich schickt die Kanzlei der Noch-Lebenden. Hier liegt ein schrecklicher Irrtum vor. Ich bin nicht tot. Ich habe mich sozusagen verirrt. Man hat mir gesagt, dass man mir hier einen Totenschein ausstellt und diesen gleich wieder vernichtet. Und dann ist die Sache erledigt.“
„ Da hat man Sie falsch informiert.“, gab sie zur Antwort, „ In diesem Fall müssen Sie in die Kanzlei für illegale Einwanderer, da sind Sie hier falsch.“
„ Hören Sie zu, langsam reicht es mir. Ich werde von Kanzlei zu Kanzlei gereicht. Das dauert hier schon alles eine Ewigkeit.“
Da beugte sie sich ganz nah an mich heran und flüsterte mir eiskalt zu: „ Sie wissen doch gar nicht was eine Ewigkeit ist.“
Sie trat wieder mit den Worten nach hinten: „ Es ist genug. Soll sich mein Kollege mit ihnen herumärgern.“
Der Kollege kam sogleich. Ein fröhlicher Mann mit spärlicher Beharrung am Kopf und blass wie jeder hier. So einen Beamten gab es in jeder Kanzlei, einen mit dem man reden konnte. Er gab sich sogleich hilfsbereit.
„ Wie kann ich Ihnen helfen?“
Was für eine dumme Frage, hatte er doch genau zugehört, als ich mit seiner Kollegin sprach. Also legte ich den Sachverhalt erneut dar. Er überlegte kurz und warf dann ein: „ Grundsätzlich hat meine Kollegin recht, eigentlich sind wir für Sie nicht zuständig, aber bei Ihnen mache ich mal eine Ausnahme.“
Welche Gnade. Erleichtert atmete ich auf. Der Kollege gab sich sogleich dynamisch, eilte aus meinem Sichtfeld und erläuterte mir den Vorgang.
„ Wir füllen jetzt ihren Totenschein aus und vernichten ihn daraufhin wieder. Dann können Sie gehen. Aber bedenken Sie, dass wir es nur ausnahmsweise so machen, beim nächsten Mal müssen Sie in die zuständige Kanzlei.“
Ich versprach darauf, nie wieder als Lebender ins Reich der Toten einzudringen und erst wieder zu kommen, wenn ich wirklich tot sei. Ich hörte, wie er ein Blatt in seine Schreibmaschine spannte. Er nahm die Formalitäten auf:
„ Name?“
„ Josef P.“
„ Geburtsort?“
„ Prag.“
„ Ah, eine schöne Stadt, besonders im Frühling. Geburtsdatum?“
„ 3. Juli 1976.“
„ Ort des Todes?“
„ Äh.“, brachte ich nur hervor.
„ Das ist nur ein fiktiver Ort. Verstehen Sie, der Totenschein muss nämlich vollständig ausgefüllt sein, bevor er vernichtet wird. Sie können ja nicht nirgendwo gestorben sein. Nur eine Formalität. Suchen Sie sich einen beliebigen Ort aus. Ich empfehle in diesem Fall eine Metropole: Rom, Mailand, New York. Was halten Sie davon?“
„ Nein, dass ist nichts für mich. Bitte eine Nummer kleiner. Ich nehme den Tod in Venedig.“
„ Oh Mann, auch eine gute Wahl. Nun brauchen wir noch ihre Todesart.“
„ Da mache ich es mir einfach, ich entscheide mich fürs Ertrinken.“
„ Ich verstehe. Eine gute Wahl. Wie alt wollen Sie werden. 70, 80 Jahre oder darf etwas mehr sein?“
Ich überlegte kurz und antwortete dann: „ Ach machen wir es doch so. Sagen wir einfach 100 Jahren, nein 99 Jahre, das ist dramatischer.“
„ Bescheidenheit ist wohl nicht ihre Stärke. Sagen wir, gestorben am 3. Juni 2076. Ist das in Ordnung?“ Ich nickte.
„ Gut,“, fuhr er fort, „ ich verlese jetzt noch einmal die Daten. Wenn Sie mit allen einverstanden sind, nicken Sie am Ende.“
Er nahm das Blatt aus der Maschine, trat an die Theke. Er las vor. Ich nickte. Er nickte, tat sogleich einen amtlichen Stempel drauf und zeriss den Totenschein ohne Vorwarnung. Ich war überrascht. Kein symbolischer Akt, kein Ritual, nicht einmal ein Satz wie: „ Vorsicht, ich zerreiße jetzt den Totenschein.“
Vielmehr kam der Satz: „ Die Sache ist erledigt. Das war’s. Sie können gehen.“
Ich bedankte mich und ging. Ging schnell. Wollte hier nicht mehr lange verweilen. Schritt instinktiv durch die Große Halle des Todes, obwohl man mir noch nachrief:
„ Hey, der Ausgang ist wo anders.“
Bald hatte ich das Gebäude verlassen und stand vor meinem Auto.
„ Keinen Abschied, mein doch nicht so seelenloser Bruder?“
Ich drehte mich um. Emilia war mir gefolgt.
„ Aber Emilia, musst Du nicht in der Großen Halle des Todes bleiben.“, rief ich.
Sie gab ein Schnauben von sich, was sagte: Was interessiert es mich? Was stört es mich? Was soll’s? Für sie galten Regeln nicht.
„ Bist Du jetzt frei?“, fragte sie mich.
„ Ja.“
Sie nickte. Ich lächelte. Wir schwiegen. Nach einer längeren Pause ergriff ich wieder das Wort: „ Komm mit mir, Emilia. Lass uns gemeinsam fliehen aus dem Totenreich. Sie werden uns nirgendwo kriegen.“
Sie schüttelt den Kopf: „ Nein. Selbst wenn wir entkommen, was erwartet mich da draußen? Was? Vergiss nicht, ich bin tot, tot aus freien Stücken. Vielleicht beginne ich, draußen langsam zu verwesen. Stell Dir das mal vor. Geh Du deinen Weg und ich gehe meinen Weg. Du gehörst zu den Lebenden, ich gehöre zu den Toten.“
Wir schwiegen erneut.
„ Nun gut,“, brach ich jetzt das Schweigen wieder, „ dann setzte ich meine Reise fort und gehe nach Bremen.“
„ Genau, geh nach Bremen, etwas besseres als den Tod findest Du überall.“, gab sie zur Antwort und reichte mir zum Abschied ihre kalte Hand.
„ Nun geh schon, mein doch nicht so seelenloser Bruder und blicke dich nicht um.“
Es war kein großer Abschied. Wir verabschiedeten uns nicht für ein paar Stunden oder Tage, wir verabschiedeten uns für immer. Bis euch der Tod scheidet. Es war einer dieser Momente, wo man Großes erwartete, wo aber nichts Großes geschah. Ich blickte ihr ein letztes Mal in die Augen, stieg in meinen Wagen und fuhr und fuhr und fand mich bald in Bremen.

Marius Pieruschka
 



 
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