Endstation

brain

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"Die Realität ist das Produkt unserer eingeschränkten Wahrnehmung."
Dan Capullo

Der Lautsprecher knackte.
„Nächste Station: Fallmouth Junction. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Fallmouth Junction.“ Wieder ein Knacken.
Noch fünf Stationen. Moira blickte müde aus dem Fenster der U-Bahn, ohne etwas zu sehen. Ihr Kopf schmerzte. Grüne und rote Lichtpunkte schossen draußen an der Glasscheibe vorbei, sprangen ihr ins Auge und verschwanden augenblicklich wieder in der Dunkelheit und Tiefe des Tunnels. Die Deckenbeleuchtung flackerte unregelmäßig und ließ die Schatten im Abteil erzittern. Als die Stimme ertönte, schreckte sie auf.
„Entschuldigung.“ Sie blickte sich um. Das Abteil war leer, bis auf Moira und einen Kerl im Trenchcoat, der zwei Reihen weiter saß und den sie bis eben gar nicht bemerkt hatte.
„Es ist mir fast peinlich zu fragen, aber...kennen wir uns nicht?“
Sie musterte ihn kritisch. Er war um die vierzig, unrasiert und trug einen altmodischen Hut und das Allerletzte, worauf Moira Lust hatte, war sich von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen, jetzt, um fünf Uhr morgens. Sie war todmüde, hatte gerade zwei Schichten im Hansom Church Hospital hinter sich, wo sie als Krankenschwester arbeitete und wollte nur Eines: in ihr Bett und zwar allein, doch der Kerl machte bereits Anstalten aufzustehen. „Ich bin sicher, dass...“, begann er, doch Moira schnitt ihm das Wort ab. „Sorry, aber ich bin mir sicher, dass nicht.“ Das letzte Wort betonte sie und blickte ihn misstrauisch an. Im Flackern der Deckenbeleuchtung nahm sie wahr, dass er trotzdem aufstand und sich ihr schwankend näherte. Ein vorbeizischendes Signal tauchte sein missgestaltetes Gesicht für kurze Zeit in ein leuchtendes Rot. Das alles gefiel ihr gar nicht. Angst umfing sie. Sie spielte sogar mit dem Gedanken beim nächsten Halt auszusteigen, obwohl sie sich dann ein Taxi würde rufen müssen, um nach Hause zu gelangen. „Bleiben sie wo sie sind. Ich...“
„Moira, richtig?“ Der Kerl kam auf sie zu. „Ihr Name ist Moira.“
„Woher wissen sie das?“ Jetzt wich die Angst der Überraschung. Er trat vor, nahm seinen Hut ab und nahm ihr gegenüber Platz. Sein Haar war pechschwarz und machte einen ungepflegten Eindruck, wie der Rest von ihm. Er war totenblass. Bei seinem Anblick musste sie unweigerlich an ein Krebsgeschwür denken. Eines, das in einen Mantel geschlüpft war und nun auf zwei Beinen umherlief.
„Woher ich das...nun enttäuschen sie mich aber, meine Liebe.“
„Ich bin nicht ihre Liebe. Woher kennen sie meinen Namen?“
Der Fremde lächelte sie an und entblößte zwei lückenhafte Reihen gelblicher Zähne. Seine Augen blitzten auf im flatternden Takt der Neonröhren. Es waren die trüben Augen eines Trinkers. „Ich weiß alles über sie, doch sie...sie wissen rein gar nichts.“ Das Flackern nahm zu. Jetzt konnte sie auch einen Geruch wahrnehmen, einen widerwärtigen Geruch, der sie an Eiter und Blut erinnerte. So rochen Wunden, die nicht gereinigt wurden und unter der Bandage vor sich hinfaulten. Grüne flüchtende Lichtinseln rasten am Fenster vorbei.
Als der Zug in Junction einfuhr, wurde das Abteil vom Licht der Station überflutet. Es war leer, bis auf Moira. Erschrocken und verwundert stand sie auf und blickte sich um. Der Kerl im Trenchcoat war verschwunden. Sie musste wohl geträumt haben. Stirnrunzelnd setzte sie sich und schüttelte den Kopf. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch ihre Station verschlafen.

„Die Krankheit beginnt mit plötzlichem hohem Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Nasenbluten, sowie katarrhalischen Erscheinungen. Am zweiten Tag tritt dann meistens ein Initialexanthem auf und nach neuerlichem treppenförmigem Temperaturanstieg setzt das Eruptionsstadium ein. Sollten sie es also einmal mit einem Fall von Pockeninfektion zu tun haben, sind ihre besten Freunde auf der Welt ein Mundschutz und ein Fieberthermometer.“
Die Klasse bedachte diesen überaus gelungenen Scherz mit promptem Gelächter. Moira lachte nicht.
„Die Pocken sind eine Viruserkrankung, die durch Vertreter der Familie Poxviridae hervorgerufen wird. Es handelt sich dabei um ein Orthopoxvirus, die größte tierische Virusart, das 200-400 nm groß ist. Weil die Viren sich mit dem Blut im Körper verbreiten, spricht man von einer zyklischen Krankheit. Die Vermehrung...Mrs Cressner. Wenn sie meinem Vortrag nicht folgen möchten oder können, bitte ich sie den Raum zu verlassen.“ Moira sah auf. Von ihrem Platz aus konnte sie ohnehin nicht sonderlich viel von dem sehen, was sich vorne im Pultbereich tat, doch sie blieb sitzen und fuhr sich gekünstelt durch das Haar, als ob die Rüge nicht ihr gegolten hätte. Die Timmons, eine Gastdozentin aus Castle Rock, die das Seminar leitete, blickte schnippisch und autoritär in die Runde. „Das Thema Seuchenprävention ist essentieller Bestandteil ihres Lehrplanes. Ohne ausreichendes Fachwissen auf diesem Gebiet, wird es für sie in der Praxis unmöglich sein, Symptome einer ausbrechenden Krankheit oder Seuche zu erkennen und dieser so entgegenzuwirken.“ Das hatte gesessen. Köpfe wurden eingezogen, Augen blinzelten nervös, hingen jedoch an den Lippen der Timmons, als wären sie festgeklebt. Hocherhobenen Hauptes fuhr sie in ihrem Vortrag fort.
„Die Vermehrung der Pockenviren führt zur Schädigung bis zur Zerstörung der Wirtszelle und läuft in fünf Phasen ab.“ Sie leckte sich süffisant über die Lippen, kontrollierte mit einem Suchscheinwerferblick über ihre Lesebrille die Aufmerksamkeit der Klasse und bedachte Moira mit einem Blick, der einen wankelmütigen Laertes dahingerafft hätte. Sie hatte alles im Griff. Professionell wechselte sie die Folie des Overhead-Projektors und ein tabellenartiges Schema erschien auf der Leinwand.
„In der ersten Phase, der Absorption, bindet das Virus an die Oberfläche der Zelle nach dem Schlüssel- Schloß- Prinzip. Die zweite Phase wird Injektion genannt, wobei die DNS in die Zelle eingeschleust wird. Danach wird das Virus in der Zelle tätig. Während der Latenzphase wird der Stoffwechsel der Wirtszelle umgestellt und das Zellchromosom umgebaut. Es werden einzelne Virusbestandteile produziert, die während der Reifungsphase zusammengebracht werden. Schließlich platzt die Wirtszelle in der letzten Phase auf und die Viren werden freige...Mrs Cressner, wo wollen sie hin?“
„Kotzen.“ Moira winkte träge ab und verließ den Raum, begleitet vom unterwürfigen Gekicher und Staunen ihrer Mitschüler. Hinter dem Pult stand eine zur Salzsäule erstarrte Frau, die auf einmal kein bisschen Professionalität mehr ausstrahlte.

Als wäre die Station nur eine Kulisse, verschwand sie am Fenster als der Zug knarrend wieder anfuhr und an Fahrt gewann.
Moira seufzte. Das Schaukeln des Waggons beruhigte sie ein wenig. Draußen, in der Dunkelheit, war nichts zu sehen, als die Lichter und Schatten, die der Zug warf. Moira betrachtete ihr Spiegelbild. Es hatte dunkle Ringe unter den Augen und blickte sie bekümmert aus dem Fenster an. Sie erkannte sich selbst fast nicht wieder. Erschöpft lehnte sie ihren Kopf an die Scheibe und schloss die Augen.
„Hey, aufgewacht. Geschlafen wird zu Hause.“ Blitzartig öffnete sie die Augen und blickte sich um.
Sie befand sich im Krankenhaus, genauer gesagt, auf dem alten, knarrenden Bürostuhl, im Schwesterzimmer, vor ihrem Schreibtisch, auf dem die Krankenakten der Patienten lagen. Rick, der Pfleger aus der Neurologie, stand in der Tür. Er hatte eine Braue hochgezogen und zeigte ihr ein strahlendes Lächeln.
„Oh...ich muss wohl...kurz eingenickt sein.“ Sie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es war viertel nach zwei. Ihr zweiter Blick galt den Leuchten der Notrufdrücker der Patienten, doch keines von ihnen blinkte auf. Rick betrat den Raum. In der einen Hand hielt er einen Becher Kaffee und in der anderen einen weiteren, den er ihr reichte. „Alles ruhig soweit?“ fragte er.
„Ja, alles bestens.“ Sie nickte ihm zu. „Und bei euch da oben?“
Auf dem Tisch stand der Reiter aus Bronze, den Professor Stanton ihr überlassen hatte. Er schwenkte eine einsame Sense auf einem weiten, hölzernen Feld und seine Haare waren leergesaugte Sehnen im Wind, die Schatten auf die Krankenakten warfen.
„Ruhige Nacht“, meinte Rick nur trocken und fügte hinzu, „kann mich nicht beschweren.“
„Danke für den Kaffee.“
„Keine Ursache. Ich schau so gegen drei noch mal rein.“ Er blinzelte verschmitzt. „Nicht einschlafen, OK?“
„Nein“, lachte sie, „bestimmt nicht.“
Nachdem Rick gegangen war, war es wieder still geworden auf der Station. Seltsam, was eine Stimme für eine Präsenz haben konnte, wenn sie verschwunden war, wenn man die nachfolgende Stille hören und ihre Tiefe erahnen konnte. Trotzdem war Moira froh wieder allein zu sein. Sie wollte keine allzu starke emotionale Bindung zu ihren Kolleginnen und Kollegen aufbauen, um sich nicht zusätzlich zu belasten. Dem zu Folge kannte sie lediglich die Vornamen der anderen Mitarbeiter und nur soviel von ihnen, wie es die Arbeit erforderte. Man sollte in Zeiten wie diesen besser nicht zu viel von sich preisgeben, meinte Moira. Es schützte einen davor, verletzt zu werden. Sie nippte an dem Kaffee, der leider zu sehr nach Wasser mit Kakaopulver schmeckte als nach frischgekochtem Kaffee, doch in der Not fraß selbst der Teufel Fliegen.
An der Wand hing ein Poster der National Health Community, auf dem eine Cartoon-Krankenschwester, die ein bisschen wie Mrs. Piggy aussah, ein Röntgenbild in der Hand hielt. Sie zwinkerte und machte das typische Daumen-Hoch-Zeichen. Über ihr stand in roten, aufleuchtenden Lettern: „Kommen sie zur Vorsorge, damit sie nicht zur Nachsorge müssen.“
Moira streckte ihren Hals und hörte Wirbel knacken. Ihr Kopf schmerzte. Dann hörte sie etwas, draußen auf dem Gang. Es hallte schwach nach, war jedoch nicht deutlich zu verstehen und klang daher wie eine Art rhythmisches Summen.
Sie betrat den Gang und horchte, doch sie konnte nichts hören. Er war leer, bis auf Moira und ein schwarzes Ding, das sich auf sie zu bewegte. Es kam mit geschmeidigen Bewegungen näher, strich ihr um die Beine und ließ ein wohliges Schnurren ertönen. Die Lichter der Neonröhren an der Decke flackerten auf, das tanzende Spiel der Schatten, auf weiß, grün und hellblau. Es fiepte. Einer der Patienten hatte auf den Notknopf gedrückt.

„Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht leiden kann, aber...Fuck!“ Moira blickte ihre Studienkollegin Susan verzweifelt lächelnd an. „...aber ich kann sie sie nun mal nicht leiden. Sie ist so...“
„Professionell“, ergänzte Susan. Sie standen im Foyer der Uni und teilten sich Susans letzte Zigarette.
„Oh ja. Ihr Unterricht hat was von einer Massenhypnose. Da muss ich unweigerlich an Hitlers Reden denken. Wie sie sich an ihr Pult klammert, Gott, wie erbärmlich.“
Susan nickte lachend. „Sie hat sogar was von einer tamilischen Pockengöttin gefaselt. Maya...Mara...irgend so was.“
Moira schüttelte missbilligend den Kopf und ließ den Rauch durch ihre Nasenlöcher entweichen. „Ich hatte echt die Befürchtung, ich hätte was verpasst, aber ich konnte da nicht drinnen bleiben. Diese Tussi ist...“
„Ätzend wie ne Klitorisinfektion.“
Lachend reichte Moira Susan die Kippe und nickte.
„Kann ich mir deine Mitschrift mal leihen, damit ich das Thema fürs Examen pauken kann? Ich brauche eigentlich nur die Infos über den Krankheitsverlauf, Symptomatik, Diagnose, Behandlungsansätze, so was eben.“
Susan lächelte verschwörerisch. „Na klar.“
Doch aus irgendwelchen Gründen blieb dieser Vorsatz ein Vorsatz.

Moira hechtete zurück ins Schwesternzimmer, wobei sie fast über die Katze gestolpert wäre, die wütend fauchte, und sah gerade noch das kleine rote Licht auf der Kontrollkonsole aufblitzen, als das Licht ausging. Sie verlor den Halt. „Sie haben ihn mir gesagt...“ Wie vom Blitz getroffen schreckte Moira auf. „...weil ich sie darum gebeten habe.“ Der Kerl im Trenchcoat, keinen Meter von ihr entfernt, saß ihr gegenüber und grinste sein schmieriges Grinsen. Sein Hut lag neben ihm auf dem Sitz. Völlig entgeistert blickte sie sich um. „Oh, verzeihen sie mir, dass ich sie aufgeweckt habe, meine Liebe. Sie sind eingenickt. Wie unhöflich, dabei wollte ich mich gerade vorstellen.“ Das Licht der Deckenbeleuchtung wurde von vorrüberzuckenden Schatten zerfetzt, die im Vorbeirasen in die Fenster der U-Bahn stierten. Ein rotes Licht folgte ihnen, wie ein rückblickendes Auge. „Man nennt mich...den Herrn der Stadt und...ich brauche ihre Hilfe.“
„Bleiben sie mir vom Leib.“ Sagte sie, lauter als beabsichtigt und war erschrocken darüber, wie schrill ihre Stimme klang. Sie stand auf und verließ das Abteil. Der Zug bohrte sich weiter durch den Tunnel, schwankend und ungestüm, begleitet vom Schein der flüchtenden Signale. Moira setzte sich auf einen der wenigen Sitze, die einigermaßen sauber aussahen und hoffte, dass der Kerl im Trenchcoat ihr nicht folgte. Ein Knacken ertönte. „Nächste Station: Fallmouth Mall. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Fallmouth Mall.“ Wieder knackte es. Noch zwei Stationen. Bald würde sie zu Hause sein und sich in ihr Bett werfen können, aber...da stimmte doch etwas nicht. Sie hatte Angley Hall und Stevenson Street, die letzten beiden Stationen, gar nicht richtig mitgekriegt. Sie musste wohl wirklich eingeschlafen sein. Bei dem Gedanken daran, dass dieser Kerl, dieses laufende Krebsgeschwür, sie während der ganzen Zeit beobachtet hatte, drehte sich ihr der Magen um. Sie blickte zur Abteiltür, doch wie es schien, hatte sie ihre Ruhe vor ihm. Hatte er sie wirklich beim Namen genannt? Das alles kam ihr merkwürdig unwirklich vor, dass sie sich fast sicher war, diesen Teil nur geträumt zu haben. Wenn sie es sich recht überlegte, dann könnte es sogar sein, dass der Kerl im Trenchcoat ebenfalls nur ein Produkt ihrer Phantasie gewesen war. Herr der Stadt, einfach lächerlich. Sie blickte auf ihre Uhr. Der kleine Zeiger stand auf der Sechs und der große hatte sich gerade auf die Zwölf gestohlen. Moira gähnte. Ihr Körper schrie nach Schlaf. Draußen, in der Finsternis des Tunnels, schwebte ihr Gesicht auf der Glasscheibe, blass, abgezehrt und matt. Ihre Haare, die sie während der Schichten mit einem Haarnetz zusammenhielt, fielen ihr in chaotischen Strähnen und Locken auf die Schulter. Moira fand, dass sie mehr Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Großmutter hatte, als mit sich selbst und zwang sich zu einem Lächeln. Das Gesicht in der Scheibe lächelte nicht.
Ein rotes Signal schoss an der Scheibe vorbei und verschwand in der Dunkelheit.

„Das war echt strange.“ Susan machte Anstalten die Zigarette auszudrücken, doch Moira wand sie ihr aus den Fingern und zog noch einmal daran, bevor sie sie wegwarf. „Ich meine, die Timmons ist doch Medizinerin aus Fleisch und Blut und auf einmal erzählt sie von dieser...Pockentussi. Unheilbringerin, das böse Gedächtnis des Teufels und wie sie sie noch genannt hat. Sie nannte es einen kleinen, esoterischen Exkurs, aber dann wollte sie gar nicht mehr aufhören zu faseln. Ich glaube, du hast sie ganz schön aus dem Konzept gebracht mit deiner Show.“
Moira zuckte mit den Achseln. „Sie hat gesagt, ich soll gehen, wenn mir danach ist. Mir war danach, also bin ich gegangen.“

Für einen Moment war alles dunkel um sie herum, doch plötzlich ging das Licht wieder an. Das rote Licht auf dem Kontrollpult blinkte ebenfalls. Zimmer 11. Sie betrat den Gang, auf dem der Kaffee auf dem Linoleum klebte, den sie verschüttet hatte, als sie ins Schwesternzimmer gehechtet war und umging die Pfütze. Dann lief sie den Gang entlang.
Ihre Schritte hallten nach in der Dunkelheit des Ganges, der kein Ende zu nehmen schien.
Die Entfernungen dehnten sich, wie sich streckende Gliedmaßen. Aus dem Schwesternzimmer ertönte das alarmierende Fiepen der Notklingel. Bevor Moira die Klinke von Zimmer 11 herunterdrückte, war sie absurderweise kurz davon überzeugt, dass die Tür verschlossen sein würde, doch sie ging auf, ganz leicht.
Alles war ruhig. Durch das Fenster fiel das Mondlicht ein. Auf dem Bett räkelte sich der Junge unruhig im Schlaf. Kratzende Atemgeräusche hallten durch das Zimmer. Bei der Einlieferung hatte der Junge zwar eine leicht erhöhte Temperatur gehabt, wie der Akte zu entnehmen war, aber der Zusatz, dass Moira Fieber messen oder Abstriche machen sollte, fehlte, also nahm sie an, dass alles in Ordnung war. Sie hatte ohnehin keine Lust sich mehr Arbeit aufzubürden als unbedingt nötig. Ihr Schädel dröhnte und ihre dauernden Schlafattacken zermürbten sie. Leise schloss sie die Tür und ging zurück ins Schwesternzimmer, wo sie sich erst einmal mit einem Putzlappen über den Kaffee hermachte, der am Boden klebte.
Als sie damit fertig war ärgerte sie sich, sich so beeilt zu haben. Jetzt konnte sie wieder die Zeit damit totschlagen, auf die Lampen des Kontrollpultes zu achten, vielleicht noch ein Rundgang, nachher, kurz vor Feierabend und dann, ab in die Federn. Diese verdammten Kopfschmerzen machten sie fix und fertig. An der Wand hing das Poster der NHC. „Kommen sie zur Vorsorge...“ Der Bronzereiter gallopierte über staubige, trostlose Steppen und verbreitete Hoffnungslosigkeit.
Moira schloss die Augen und döste vor sich hin.

„Und sie hat wirklich was von einer Göttin erzählt?“
Susan nickte eifrig und grinste verzerrt, als sie an die Timmons dachte.
„Nicht nur von einer. Sie hat sogar erzählt, dass es da zwei gibt.“
Moira rümpfte die Nase. „Lass mich raten: Maya und...Willi.“
Die zwei Frauen sahen sich an und brachen in schallendes Gelächter aus.
„Nein, im Ernst“, kicherte Susan, als sie sich halbwegs beruhigt hatte. „Sie hat von einem Kerl namens Baal gesprochen, einem Beschützer oder so. Er soll angeblich der Widersacher von Ma...du weißt schon, von wem, sein. Seine Erscheinung ist die einer Katze, einer Spinne, eines Frosches und...jetzt kommts...die eines missgestaltenen Mannes.“
Das brachte sie wieder zum Wiehern. „Ein missgestaltener Mann?“ wiederholte Moira gackernd. „Impliziert das eine nicht das andere?“

Statisches Flüstern. Ein Knacken ertönte.
„Nächste Station: Angley Hall. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Angley Hall.“ Wieder knackte es, doch sie nahm es kaum wahr. Die Schatten im Abteil erbebten, als der Zug eine Kurve beschrieb. Ein Wurm aus Stahl in einem Körper aus Beton. In ihrem Kopf pochte eine sich Platz machende Migräne, regelmäßig und aufdringlich wie ein bösartiger Puls. Sie hasste es mit der Bahn fahren zu müssen. Die Fahrten schienen sich jedes Mal endlos in die Länge zu ziehen und wenn die Lautsprecheransagen nicht die Haltestellen ankündigen würden, dann würde sie wahrscheinlich immer weiter fahren, bis zur Endstation, bis...
„Entschuldigung, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber...“ Sie fuhr herum. Das Abteil war leer, bis auf Moira und eine alte Dame, die eine Reihe weiter saß. „...kennen wir uns nicht?“
Moira musterte die Gestalt und blinzelte unsicher. „Ich bin sicher, dass wir uns schon einmal gesehen haben.“ Ein grünes Signal huschte in der Dunkelheit am Fenster vorbei. Das Flackern der Neonröhren nahm ab. „Ich...weiß nicht.“ Ein Geruch drängte sich ihr auf, der sie an Lavendel erinnerte, doch da war noch etwas anderes. Moira war die Situation unangenehm. Sie war total fertig und wollte nur Eines: in ihr Bett. Der Lavendelduft wurde stärker, als die alte Frau sich ihr näherte und ihr gegenüber Platz nahm. „Moira, richtig?“ Sie lächelte sie an und entblößte zwei perfekte Reihen weißer Zähne. Ihre Augen blitzten auf im flatternden Takt der Neonröhren, aufmerksam und wohlwollend. „Woher...?“ Die alte Dame schüttelte lächelnd den Kopf, eine resignierende Geste des Bedauerns, die Moira zusammenzucken ließ. „Sie hätten ihm nicht ihren Namen verraten dürfen, Kindchen. Es ist nicht gut, wenn er zu viel von ihnen weiß. Diesen unangenehmen Zeitgenossen wird man schwerer wieder los als die Pest, glauben sie mir, ich weiß wovon ich rede.“ Die Alte schüttelte sinnierend den Kopf und schmunzelte wissend vor sich hin. „Man sollte ohnehin nicht zu viel von sich preisgeben, nicht in Zeiten wie diesen, nicht wahr?“ Wieder ein Lächeln, zuckersüß und verlockend wie eine Wespenfalle aus Honig. Die Alte beugte sich vor und drückte Moiras Hand. „Ich habe niemandem meinen Namen...“, begann Moira, doch die Alte schnitt ihr das Wort ab. „Wenn sie da heil wieder raus wollen, Kindchen, dann gebe ich ihnen einen guten Rat: In der Ruhe liegt die Kraft!“
Moira konnte die alte Frau nur verständnislos anstarren. „Was...“, begann sie erneut, „...was soll das heißen? Kenne ich sie? Ich glaube nicht, ich...“, doch sie war sich irgendwie nicht ganz sicher, ob das stimmte. Vibrierend hielt sich der Zug in den Gleisen und pflügte durch den Untergrund.
„Oh, ich glaube nicht, dass wir uns kennen, Kindchen. Mein Name ist...“ Die Alte öffnete ihre Handtasche und der blumige Geruch wurde stärker, bis er das Abteil auszufüllen schien. „...Mariyamman.“ Am Fenster raste ein rotes Signal vorbei. „Sie sind vor ihm weggelaufen, so wie sie vor allen Dingen in ihrem Leben weglaufen, die sie ängstigen und das war gut.“ Das letzte Wort betonte sie ganz besonders und es klang nicht nur schneidend, sondern regelrecht gierig. „Ich habe etwas für sie, aber sie dürfen es nur sehen, wenn sie...wegsehen.“ Wieder ein Lächeln. Im Zeitlupentempo griff die Alte in ihre Handtasche und zog ein paar rechteckige Gegenstände heraus. Ein Fiepen ertönte. Moira blickte sich gehetzt um. Panik stieg in ihr auf, wie ein Ballon mit Raketenantrieb. Sie hatte völlig die Orientierung verloren. Eine Lampe auf dem Kontrollpult vor ihr blinkte, rot und gleißend, begleitet vom Geräusch der Notklingel. Es war schrill und hoch und tat einem förmlich in den Ohren weh. Moira fand sich auf dem Bürostuhl und stellte fest, dass ihre Beine immer noch schliefen. Sie stützte sich auf den Schreibtisch, stellte sich auf und versuchte dieses taube Gefühl aus ihren Beinen zu schütteln. Das Blut strömte durch ihre Adern, durch ihren Körper, durch ihre Beine und die Taubheit wich allmählich. Als müsste sie ihre Habseligkeiten zusammenraffen um sie aus einem brennenden Haus retten zu können, packte sie alles, was sie an Wahrnehmungskraft und Orientierungssinn aufbringen konnte, zusammen, rannte schlaftrunken auf den Flur, blickte sich um und steuerte Zimmer 11 an. Die Distanz schrumpfte konstant, doch Moira hatte das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen, als liefe sie gegen den Strom einen Fluss hinauf. Etwas hüpfte aus den Schatten hervor, quakte und hüpfte weiter. Ein Geruch, der ihr bekannt vorkam stieg ihr in die Nase, eitrig und intensiv und entfernte sich mit platschenden Geräuschen.
Mit zitternden Knien betrat sie Zimmer 11.
Im ersten Moment wirkte alles normal und ruhig, doch der Geruch nach Lavendel lag schwer in der Luft und verdrängte den eitrigen Gestank, der auf dem Flur herumquakte. Es gab es keine Anzeichen dafür, dass der Junge den Notdrücker betätigt hatte. Vielleicht war das Kontrollpult defekt. Moira blickte unsicher und müde in das Zimmer hinein, doch etwas hinderte sie daran, es zu betreten. Der Lavendelgeruch hatte sich mit etwas vermischt, das Moira an Erbrochenes erinnerte, doch sie meinte, dass das an ihren Kopfschmerzen liegen könnte. In der Ruhe liegt die Kraft, dachte sie sich und horchte dem Atem des Jungen. Er ging unregelmäßig und keuchend, sodass es fast wie ein Saugen klang, aber wahrscheinlich schlief er einfach nur schlecht und dafür war sie ja nun wirklich nicht zuständig.
Die Deckenbeleuchtung begann zu flackern. Spitze, das auch noch, dachte sie sich. Sie blickte nach oben zu den aufblitzenden Lampen und stöhnte. Ihre Kopfschmerzen pochten einen unerträglichen Beat und ließen keinen klaren Gedanken zu. Die Kreuzspinne, die sich neben ihrem Kopf abseilte, bemerkte sie gar nicht. Mit gekonnten Bewegungen setzte das Insekt auf dem Linoleumboden auf, trippelte mit zitternden Beinchen davon und wurde von Moiras Schuh zerquetscht. Begleitet vom Blitzlichtgewitter der Lampen hastete sie den Flur entlang, zu ihrem knarrenden Stuhl zurück. Als sie sich setzte, hörte das Flackern plötzlich auf und der Gang lag wieder in gleißend sterilem Licht. Auf dem Schreibtisch lag etwas, was eindeutig nicht dort hin gehörte. Rechteckige Gegenstände. Es waren Schwarz-Weiß-Fotos, die Moira aufnahm und betrachtete. Das Bild eines Konzentrationslagers, mit dem Zusatz: erbaut am elften des Monats November. Die Hiroshima-Bombe kurz vor dem Abschuss, den man mit Hilfe von elf Militärsatteliten kontrolliert hatte. Ein mittelalterlicher Pestreiter in wehender, schwarzer Kutte, hoch zu Ross. Das Original hing im Louvre, stammte von einem unbekannten Künstler und wurde geführt unter der Katalognummer elf. Ihr Gesicht in der Scheibe. Ein Knacken im Lautsprecher. „Nächste Station: Stevenson Street. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Stevenson Street.“ Wieder ein Knacken. Moira spürte etwas in ihrer Hand liegen. Ein Fieberthermometer, das sich glühend in ihre Handfläche brannte, doch der Schmerz war weit entfernt und unwirklich, wie die vorbeizischenden Signale.
Sie fuhren bereits langsamer. Noch drei Stationen, dann würde sie zu Hause sein, doch irgendwie ahnte sie, dass das nicht stimmte. „Sie haben mich gesehen.“ Seine Stimme war ein dröhnendes Glockenspiel im Innern einer bleiernen Kathedrale. Ausgehöhlt und leer schallte das Echo aus den Tiefen jeder erdenklichen Hölle zu ihr herauf. „Sie haben mich gesehen und haben nicht auf mich geachtet, sind der Verantwortung davongelaufen, wie immer, aber glauben sie mir...sie wird sie einholen.“
Moira konnte nicht mehr. Sie wollte nur noch nach Hause, schlafen, ruhen. „Ich bin der Herr der Stadt“, intonierte der Kerl im Trenchcoat. „Und sie...“ er blickte Moira verächtlich an, „...sie haben mich verraten, sind davongelaufen und haben ihr den Weg geebnet.“ Streng und mühsam verzerrten sich seine Gesichtszüge und vereinzelte Tränen pressten sich aus seinen müde stierenden Augen. „Sie ist angekommen und sie wird niemals wieder gehen.“ Resignierend drückte er sich in die Schatten des Abteils und verschmolz mit ihnen.
Der blumige Geruch breitete sich aus und drang in Moiras Nase. Schluchzend sah sie sich um. Lavendel, überall roch es nun danach. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Alte aus der U-Bahn den Stationsflur entlanggehen, lächelnd, triumphierend, mit gestreckten Schultern und hochgerecktem Haupt, wie sie in ihre Handtasche griff, eine alte Kamera herauszog und vor der Tür mit der Nummer 11 stehen blieb. Sie blickte sich kurz zu Moira um, warf ihr einen höhnischen Blick zu und betrat das Zimmer.
 



 
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