Enthauptungsschlag (Teil1)

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Empi

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Der kleine, unauffällige Transportgleiter bahnte sich langsam seinen Weg durch einen wahren Irrgarten aus Asteroiden und Wrackteilen alter Raumschiffe. Hier und dort waren sogar die Hüllen kompletter Schiffe zu sehen, bei näherer Betrachtung aber erkannte man rasch die geschwärzten Stellen und klaffenden Löcher; keines der hier zu sehenden Raumfahrzeuge war noch intakt, obwohl viele davon einst einer kampfstarken und stolzen Flotte angehört hatten.
„Wir sind bald da!“ rief Ted aus dem Cockpit.
Dexter drehte sich von der Scheibe weg, durch die er die letzte halbe Stunde gestarrt hatte. „Wir sollten uns fertig machen, Symon“, sagte er zu seinem Partner, während er selbst gleichfalls damit begann, seine Ausrüstung zu überprüfen: Intercom, Nachtsichtgerät, Messer, Würgeseil, Painkiller und die Hammer, eine extrem durchschlagkräftige, schallgedämpfte Handfeuerwaffe.
„Wie lange noch, Ted?“ fragte Dexter.
„Ungefähr zwei Minuten. Ich kann sie bereits sehen.“
Beide Agenten eilten ins Cockpit, um einen Blick auf die gewaltige Raumstation zu werfen, die sich, obwohl die Sicht teilweise von umhertreibenden Hindernissen blockiert wurde, vor ihnen aufbaute. Es war keine Raumstation im eigentlichen Sinne; keine moderne, symmetrische und dem Auge wohlgefällige Form - nein - dieses Ding vor ihnen war ein Hybrid, bestehend aus einer Unzahl unterschiedlichster Raumschiffe, welche über die Jahre hinweg einfach aneinander geschweißt worden waren. In der Galaxie nannte man das Gebilde nur den Moloch; es war das Sodom und Gomorra der Zukunft, ein Treff für alle, die ihre Laster hemmungslos ausleben wollten.
Würde allein der ungewünschte Bodensatz der Zivilisation dort sein Unwesen treiben, so hätte der Rat sicher beschlossen, das groteske Ding einfach in die Luft zu jagen. Aber dafür war es jetzt zu spät: mittlerweile war die verderbliche Saat des Molochs nämlich auch in den Reihen berühmter Künstler und Politiker aufgegangen. Immer mehr aufrechte Lebensformen erlagen dem unheilvollen Einfluss des Molochs. Kämen somit bei einem Angriff hohe Würdenträger verschiedener Staaten um, könnte die erst geformte Allianz daran zerbrechen. Infolgedessen hatte man entschieden, subtiler vorzugehen: um ein Ungeheuer zu töten, reichte es ja, wenn man ihm den Kopf abschlägt - und der Kopf des Molochs hieß Bedragu, Assimil Bedragu.
Die tiefe Stimme Symons riss Dexter aus seinen Gedanken. „Wie sollen wir unseren Informanten in diesem Riesending jemals finden? Das kann ja ewig dauern.“
Dexter zuckte nur mit den Schultern. „Farian hat mir gesagt, der Überläufer warte im Blutrausch auf uns. Mehr weiß ich auch nicht.“ Als Dexter den ungläubigen Blick - oder war es Angst? - seines Partners auffing, fügte er hinzu: „Keine Sorge. Wir finden den Informanten, dann dringen wir in Bedragus Privatbereich ein und legen den Kerl um. So einfach ist das.“
Simon nickte schwach. „Wenn du meinst.“
Dexter konnte seinen Partner verstehen; selbst ihn beschlich beim Anblick des unförmigen Kolosses ein ungutes Gefühl, das mehr war als bloße Anspannung. Obwohl er im Dienste der neuen Allianz bereits einige risikoreiche Aufträge erledigt hatte, war dieser Gang in die Höhle des Löwen schon ein extrem wagemutiges Unterfangen. Selbst ihre gute Ausrüstung würde sie nicht retten können, wenn ihr heimliches Eindringen bemerkt wurde. Bei dieser Mission war Unauffälligkeit ihr einzig wahrer Trumpf.
Mittlerweile waren sie an der untersten Stelle des Molochs, angekommen - ein schrottreifer Frachter, der nicht mehr benutzt wurde. Der Transportgleiter dockte sachte an.
„Meinst du, die haben uns geortet?“ fragte Symon beunruhigt.
„Kann ich mir nicht vorstellen,“ antwortete Ted. „Unser Schiff ist so klein und wir sind extrem langsam geflogen, so dass man uns inmitten der Trümmer und Asteroiden kaum hätte entdecken können.“ Ted fasste Dexter an die Schulter. „Viel Glück. Ich warte hier auf euch.“
„Danke. Können wir gebrauchen. Es kann eine Weile dauern.“
Ted zwinkerte. „Kein Problem.“
Symon und Dexter betraten daraufhin die Schleuse und krochen durch einen gummiartigen Schlauch, bis sie an der Bordwand des alten Frachters angelangt waren. Es dauerte fünf Minuten, dann hatten sie ein kleines Loch in die Hülle gebrannt. Mit dem Kopf voran quetschten sie sich hindurch und fanden sich in einem völlig dunklen Laderaum wieder. Sie aktivierten ihre Nachtsichtgeräte.
„Ab jetzt nur noch Handzeichen,“ flüsterte Dexter.
Symon hob den Daumen.
Während sie sich wie auf Samtpfoten durch das verlassene Schiff bewegten, dachte Dexter daran, wie überflüssig diese Mission jetzt wäre, hätte man dem Treiben Bedragus früher Einhalt geboten. Nach dem großen Krieg war Bedragu - damals ein berüchtigter Waffenschieber - in finanzielle Schwierigkeiten geraten, weil ihm eine stattliche Waffenladung abhanden gekommen war. Bis auf eines hatte er all seine Schiffe verkaufen müssen, um seine Schulden zu begleichen. Danach war Bedragu hier hergekommen; genau an die Stelle, wo die letzte und entscheidende Schlacht des großen Krieges stattgefunden hatte. Einige Jahre hatte er sich über Wasser gehalten, indem er die überall zu findenden Wracks ausgeschlachtet hatte. Keiner hatte ihn auf der Rechnung gehabt, bis eben die Kunde von Mord, Drogen und exzessiven Ausschweifungen langsam die Runde gemacht hatte. Aber selbst dann hatte man die Gefahr noch nicht erkannt, und Assimil Bedragu hatte Zeit gehabt, sein böses Netz immer weiter zu spinnen. Man munkelte sogar, er habe inzwischen eine neue, nicht nachweisbare Droge entwickelt, die Menschen (und Nichtmenschen) zu willenlosen Marionetten machte - wenn das stimmte, war höchste Eile geboten!
Sein Partner, der vor ihm ging, spähte um eine Biegung und hob plötzlich die Hand. Dann reckte er zwei Finger in die Höhe. Dexter verstand. Symon und er waren ein perfektes Team. Über die Jahre hinweg hatten sie sich meisterhaft aufeinander abgestimmt. Während Symon im Nahkampf unübertroffen war und daher immer vorausging, blieb Dexter stets ein wenig zurück, um seine Treffsicherheit mit Waffen jeglicher Art wirksam einsetzen zu können.
Mit lautlosen Schritten schlich sich Dexter nun ebenfalls an die Biegung und lugte um die Ecke: Zwanzig Meter entfernt, im Lichtkreis einer kleinen Lampe, standen zwei Männer mit Waffen und unterhielten sich leise. Dexter blickte zu Symon, zeigte ihm fünf Finger und begann rückwärts zu zählen. Bei Null schnellten beide Agenten aus ihrer Deckung und feuerten ihre Waffen ab. Nur das eigentümliche Zischen der Schalldämpfer war kurz zu hören, dann sackten die Wachen in sich zusammen.
Nachdem sie die Leichen in einen kleinen, dreckigen Raum geschleift hatten, durchsuchte Symon die beiden Toten und fand eine Chipkarte, mit der sich eine verschlossene Tür öffnen ließ. Dahinter lag ein beleuchteter Korridor, der bis auf ein paar vergammelte Kartonreste leer war.
Die Agenten schalteten ihre Nachtsichtgeräte aus und bewegten sich vorsichtig weiter. Einige Minuten verstrichen als Symon und Dexter versuchten, einen Weg durch ein wahres Labyrinth aus Gängen suchten. Einmal wären sie beinahe einer Patrouille in die Arme gelaufen, doch hatten sie sich gerade noch in eine finstere Nische pressen können. Da ihnen bewusst war, dass sie noch stundenlang durch die verfallenen Wracks irren könnten, ohne einen Zugang zu den Hauptbereichen des Molochs zu finden, gingen sie das Risiko ein, der Patrouille zu folgen.
Schon als sie meinten, dass sich dieses Vorgehen als nutzlos erweisen würde, fasste Dexter seinem Partner an die Schulter und bedeutete ihm innezuhalten. Der letzte Mann der Patrouille verschwand gerade in einem abzweigendem Gang. Als die Fußschritte verhallt waren, war ein schwaches Brummen zu hören, das aus einer Passage zu ihrer Rechten kam. Beide Agenten nickten einander zu und folgten dem Geräusch, das mit jedem Schritt an Stärke zunahm. Was sich eingangs wie ein großes, summendes Insekt angehört hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als dumpfe Musik.
„Wir können wieder reden. Die Musik übertönt unsere Stimmen“ raunte Symon.
„Wir müssen einen Weg finden, um in den Kern des Molochs zu gelangen. Das hier waren bis jetzt ausschließlich unbenutzte Außenbezirke.“
„Für unbenutzte Außenbezirke sind sie aber gut bewacht,“ gab Symon zu bedenken.
Dexter überlegte kurz. „Stimmt. Aber das ist normal, denke ich. Bedragu ist nicht dumm. Er muss wissen, dass seine Station der neuen Allianz ein Dorn im Auge ist.“
„Und wir sind hier, um ihn zu ziehen.“
„Richtig!“ Dexter klopfte seinem Partner ermutigend auf die Schulter.
Mittlerweile waren sie sich sicher, dass die Musik über ihnen dröhnte, denn die Lautstärke veränderte sich nicht mehr, auch als sie weitereilten.
„Vielleicht ist irgendwo ein Aufzug“, bemerkte Symon, während er wachsam die Umgebung im Auge behielt.
Dexter wollte eben zustimmen, da hörten sie das Zischen von Gleittüren, das aus einem Korridor zu ihrer Linken kam. Kurz darauf war ein Stimmengemurmel wahrzunehmen. Symon und Dexter zogen ihre Waffen und schlichen vorsichtig bis an die Ecke heran.
„Haltet die Augen offen,“ befahl jemand barsch.
„Wird gemacht, Boss.“ Der Sprecher der Antwort wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich seine Augen in Kürze für immer schließen würden.
Dann erklang erneut das Zischen, begleitet von einem Surren, das schnell schwächer wurde. Der erhoffte Aufzug befand sich anscheinend direkt vor ihrer Nase.
Plötzlich war ein Schnüffeln zu hören, begleitet von einem tiefen Grunzen.
„Hey! Brutus scheint etwas gewittert zu haben!“ rief eine Stimme.
Beide Agenten warfen sich alarmierte Blicke zu, dann fuhr sich Dexter symbolisch mit dem Zeigefinger über die Gurgel. Simon nickte grimmig. Sie sprangen aus ihrer Lauerstellung hervor und ließen die Waffen sprechen.
Zwei Männer waren nur wenige Meter entfernt, als die Projektile sie trafen. Beide wurden durch die Wucht von den Beinen gefegt. Bevor sie überhaupt eine Chance hatten, zu reagieren, lagen drei weitere Wachen tot am Boden. Der letzte Überlebende wollte fliehen, aber ein gezielter Schuss Dexters riss ein faustgroßes Loch in dessen Rücken. Ohne einen Laut stürzte der Mann zu Boden.
Ein schwarzer Schatten schoss mit einem Mal aus einer dunklen Ecke hervor und stürzte sich auf Symon. Beide gingen zu Boden. Das wilde Biest war ein Kruul: wenn aufgerichtet war es mannshoch, und seine scharfen Klauen und reißenden Kiefer konnten Muskeln und Sehnen mühelos durchtrennen. Das musste wohl Brutus sein. Nur auf Grund seiner Kraft und schnellen Reflexe konnte sich Symon vorerst retten. Sein Unterarm wurde zwar von den Krallen aufgeschlitzt, es gelang ihm aber, sein Gesicht zu schützen. Dexter ließ die Hammer fallen, zog das im Stiefel verborgene Messer und trieb es tief in den Hals des Ungetüms. Mit einem Röcheln brach der `Wachhund` zusammen. Dexter legte das Messer beiseite und kümmerte sich um seinen Partner, nachdem er sich vergewissert hatte, das vorerst keine weiteren Gefahren auf die zwei Agenten lauerten.
Symon keuchte vor Schmerz und hielt seinen aufgerissenen Unterarm mit der rechten Hand umklammert. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Dein Bruder hat doch gesagt, dieser Bereich sei nicht übermäßig gesichert!“ Symons Stimme war vor Schmerz verzerrt.
Dexter musste ihm leider zustimmen. Bislang war sein Bruder Farian, der wie er für die GET (Geheime Eingreif-Truppe) arbeitete, mit seinen Nachforschungen stets richtig gelegen. Durch seine gute Missionsplanung hatte Farian schon viele brenzlige Missionen erheblich entschärft. Das er sich so täuschte, was die Sicherheit des zu infiltrierenden Objekts anbelangte, war für Dexter ein Rätsel. Nach Farians Erkundigungen hätte in diesem Bereich höchstenfalls ein altersschwacher Greis den Fahrstuhl sichern sollen. Andererseits war es bis jetzt keinem außer Farian gelungen, überhaupt etwas über den Moloch in Erfahrung zu bringen. Wie dem auch sei - diese Überlegungen brachten ihn momentan auch nicht weiter und lenkten ihn obendrein nur bei der Versorgung von Symons Verletzung ab. Dexter kramte einen Painkiller hervor und injizierte die schmerzhemmende Flüssigkeit in Symons Arm. Fast augenblicklich entspannten sich dessen Gesichtszüge.
„Danke“, hauchte er erleichtert. „Verdammt schmerzhafte Sache.“ Dexter verband danach den Unterarm und betrachtete Symon kritisch. „Ich glaube es ist besser, wenn du zu Ted zurückkehrst.“
„Blödsinn“, entgegnete sein Partner. „Ist nur ein Kratzer. Wir ziehen das zusammen durch.“
„Der Painkiller wirkt bestenfalls zwei Stunden.“
„Dann nehme ich eben noch einen.“
„Mehr als ein Painkiller kann Halluzinationen hervorrufen; zudem macht er müde und vermindert die Konzentr-.“
Simon hatte sich inzwischen aufgehockt, den Zeigefinger belehrend gehoben und äffte Dexter nach.
„Du bist ein Idiot, Symon.“
„Ich liebe dich auch, Dexter!“
Die nächsten fünf Minuten verbrachten sie damit, die Leichen in einen mit zerbrochenen Holzkisten übersäten Raum zu schaffen. Dann schlüpften die Agenten aus ihren schwarzen Anzügen, die sie bis dahin getragen hatten. Darunter kamen abgewetzte Hosen und schmuddelige Oberteile zum Vorschein.
„Jetzt sehen wir genauso aus wie die!“ sagte Symon, während sein Finger auf die aufgetürmten Körper zeigte. „Lauter verkommene Drogenjunkies.“
Dexter packte der Ekel, als er an sich hinabsah. Er schätzte ein gute Tarnung, aber sich als dieses Pack auszugeben ging ihm gegen den Strich. „Lass uns zum Aufzug gehen.“ Am liebsten hätte er den Moloch mitsamt dem hier herumvegetierenden Abschaum - Politiker hin oder her - mit gut platzierten Sprengladungen pulverisiert.
Im Lift angelangt, bekam Dexters Laune noch einen zusätzlichen Dämpfer. „Toll. Der Aufzug hat nur zwei Tasten. Ergo: Wir kommen nur eine Ebene nach oben. Bei unserem Glück landen wir wahrscheinlich in der Küche.“ Trotzdem drückte Dexter den oberen Knopf - was für eine andere Wahl hatten sie auch? Möglicherweise war dies der einzige Aufzug in weitem Umkreis. Mit einem Ruck ging die Fahrt nach oben. Entgegen der Befürchtungen Dexters kamen, als die Türen wieder auseinander glitten, keine Kochutensilien zum Vorschein, sondern nur ein kurzer, schwarz angestrichener Gang. Symon und Dexter steckten ihre Waffen weg - keine Menschenseele war zu sehen. Der Gang endete in einem großen geöffneten Tor, aus dem weiße Nebelschwaden hervorkrochen. Dahinter lag Dunkelheit, die nur ab und an von grellen Lichtblitzen durchzuckt wurde. Laute, dumpfe Musik brandete ihnen entgegen.
„Anscheinend sind wir doch richtig,“ meinte Symon.
„Sieht so aus. Lass uns reingehen. Vielleicht erfahren wir hier, wo das Blutrausch zu finden ist.“
Als sie in die Dunkelheit vordrangen, bemerkten die beiden Agenten jedoch rasch, dass die hier versammelten Lebensformen nicht mehr in der Lage waren, eine ordentliche Wegbeschreibung abzugeben. Wann immer die Scheinwerfer kurz aufflammten, sahen sie wankende und taumelnde Formen, und auch solche, die am Boden lagen und sich gar nicht mehr regten. Der süßliche Geruch von berauschenden Kräutern aller Art schwängerte die Luft; die große Halle war ein einziger Drogenpfuhl. Da ein längerer Aufenthalt hier nur Zeitverschwendung wäre, begaben sie sich zügig zum gegenüberliegenden Ausgang.
 



 
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