Erdgefärbt

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Monochrom

Mitglied
Erdgefärbt

Am Bahndamm gruben sie
eine Höhle mit zwei Räumen einem Fenster.
Sperrmüllmöbel und eine Feuerstelle, einige blieben
über Nacht, wenn es zuhause krachte.

Im Strom der Zuckerrübenzüge zogen wir
ein und aus mit Schätzen, später
rauchten wir dort Joints, fickten
die angesagten Mädchen aus der unteren Schulklasse.

Von der Höhle blickten wir ins Tal,
auf den Bauhof und die Getränkefabrik,
in der fingen einige an zu arbeiten, blieben fern,
andere zogen weg und verschwanden.

Unsere Höhle ist eingestürzt, wir sind im Tal,
und die Droge ist Erinnern. Bevor die Tage enden,
mögen andere eingezogen sein,
noch ahnungslos, sie sind verurteilt zum Leben.
 
F

Frodomir

Gast
Hallo Monochrom,

dein Gedicht Erdgefärbt gefällt mir sehr gut. Es erinnert mich ein wenig an die Sprache in Clemens Meyers Roman Als wir träumten, aber das mag daran liegen, dass auch dein Gedicht eine verlorene Kindheit zu beschreiben scheint, deren Auswirkungen nun im Erwachsenenalter sichtbar werden.

Die erste Strophe stellt die Frage nach Heimat und Heimatlosigkeit:

Am Bahndamm gruben sie
eine Höhle mit zwei Räumen einem Fenster.
Sperrmüllmöbel und eine Feuerstelle, einige blieben
über Nacht, wenn es zuhause krachte.
Meiner Meinung nach hast du diese Frage sehr gut umgesetzt, da du den Bahndamm, der u.a. die Assoziationen Ferne, Reisen, Freiheit erlaubt, der Höhle gegenüberstellst, die ein zwar ungemütliches, aber sicheres Versteck darstellt. Durch die Probleme des eigentlichen Zuhauses wird dies ein Ort der Zuflucht, der sich durch die Nähe zum Bahndamm zu einem Ort der Flucht steigert. Die Sperrmüllmöbel und die Feuerstelle machen den flüchtigen Eindruck perfekt.

In der zweiten Zeile überlege ich, ob nicht ein Komma nach Räumen die bessere Variante wäre, da du ja eine durchgehend richtige Interpunktion verwendest, andererseits gefällt mit der Sprachfluss ohne Satzzeichen an dieser Stelle ganz gut.

In der zweiten Strophe ist der Wechsel des Personalpronomens besonders interessant, da er das Gedicht um eine Zeitebene nach vorn versetzt:

Im Strom der Zuckerrübenzüge zogen wir
ein und aus mit Schätzen, später
rauchten wir dort Joints, fickten
die angesagten Mädchen aus der unteren Schulklasse.
Damit wird der Symbolwert der Höhle deutlich, welche nunmehr einen Platz der Freiheit darstellt, den alle Kinder und Jugendlichen benötigen, um sich gegen die Erwachsenenwelt abzugrenzen. Die rohe Sprache (ficken) unterstreicht sowohl die Höhle als Ort, sich ungehemmt auszuleben als auch ein vermeintlich gescheitertes Elternhaus, in dem ungezügelte Sitten unter den Erwachsenen herrschen.

Die dritte Strophe macht dieses Werk ganz zu einem "Entwicklungsgedicht", da hier nun die Erwachsenenwelt nicht gerade vielversprechend droht:

Von der Höhle blickten wir ins Tal,
auf den Bauhof und die Getränkefabrik,
in der fingen einige an zu arbeiten, blieben fern,
andere zogen weg und verschwanden.
So wird mit dem Bauhof und der Getränkefabrik eine gewisse Perspektivlosigkeit der lyrischen Protagonisten offenbar, die sich dadurch verstärkt, dass beinahe beiläufig erwähnt wird, einige würden arbeiten, andere eben nicht. Eine alles-egal-Stimmung dominiert, die augenscheinlich durch mangelnde Perspektiven ausgelöst wird. Dadurch und durch das Verschwinden mancher Leute könnte dieses Gedicht ein sehr gutes Nachwendegedicht sein.

In der letzten Strophe kommt man nun endgültig in der Resignation an. Bevor die Tage enden ist dabei meiner Meinung nach ein besonders gut gewählter Nebensatz, da er die gescheiterte Entwicklung von der Kindheit an nun bis zum Tod weiterführt. Auch für die nachfolgenden Generationen gibt es wenig Anlass zur Hoffnung, nur das Wörtchen mögen impliziert eine geringe Möglichkeit zur Verbesserung der Lage, da es sonst hieße: werden andere eingezogen sein.

Das Einziehen ist wohl aber ein kleines Problem, da die Höhle zwei Zeilen weiter oben, wenn auch vielleicht nur symbolisch, eingestürzt ist. Textlogisch dürfte also nicht unerwähnt bleiben, dass die Anderen sich ihre Höhle erst noch graben müssen.

In meinen Augen hast du aber einen ganz starken Text verfasst, der noch gewinnen könnte, wenn die letzte Zeile hieße:

noch ahnungslos verurteilt zum Leben.

Viele Grüße
Frodomir
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo monochrom,

das ist ganz ausgezeichnet, ich bin begeistert und sprachlos!

Liebe Grüße
Manfred
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

@Frodomir:
Danke für das Lob.

Zu Deinen Einwänden:

Du hast sehr richtig erkannt, dass die Höhle immer wieder, Generationenweise,
zum Zufluchtsort wird.
Vom unbestimmten "sie" wechselt der Text zum persönlichen "wir".

Die Höhle entwickelt sich im Lauf der Textes ebenfalls. Sie wird von einem Objekt
zu etwas wie einer Heimat, einem Fluchtpunkt, und zum Ende ist sie ein
ideeles Konstrukt, das eben einstürzt, während es anderen, der kommenden Generation,
offen steht.
So könnte man eben zum Ergebnis kommen, dass die Höhle etwas ganz anderes sein kann,
sie ist ein Begriff, der sich der bildlichen Vorstellung entzieht. Es könnte ein Baumhaus
sein, eine Ruine, ein Dorfplatzeckchen, eben all die Orte, an denen sich Subkultur bildet.

@Franke:
Danke für die Sprachlosigkeit, die ich ebenfalls verspüre, wenn etwas auftaucht, was
in mir einen Blitz der Erinnerung entzündet. Mensch, was waren wir frei und so
unglaublich unschuldig dumm.

Bis denne,
Monochrom
 

wüstenrose

Mitglied
Hi Monochrom,

bei den Texten, die ich ab und an von dir gelesen habe, fand ich bislang keinen Zugang, war mir immer zu abstrakt, ungreifbar.

Das ist hier ganz anders, anschaulich und kräftig. Es beeindruckt mich, wie du das sprachlich gestaltet hast, absolut gelungen!

lg wüstenrose
 

anbas

Mitglied
Ja, dieses Werk ist anders als die Texte, die ich bisher von Dir gelesen habe - und mir gefällt das, was ich hier lese wirklich gut!

Nun steht es auch in der "Bestenliste" - und da gehört es auch hin. Glückwunsch!:)

Liebe Grüße

Andreas
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Monochrom,
schon eine ganze weile kreise ich um diesen Text. Und bleibe immer am letzten Vers hängen. Genauer, es ist dieses "verurteilt". Ist Leben Strafe an sich? Worin besteht das mögliche Vergehen, das Leben als Strafandrohung nach sich zieht?

Zwar ahne ich evtl., was Du zum Ausdruck bringen möchtest: Leben ist selten nur ein Spaziergang, manchmal eine Schinderei, vorgezeichnete Langweilerei, es gibt keinen Menschen, der über seine eigene Geburt verfügt etc., doch es derart grundlegend als Strafe aufzufassen, als Gefängnis, weiß nicht. In meinen Augen trifft der Begriff nicht das, was eigentlich zu sagen wäre. Hirne schon eine zeitlang daran herum, um Dir etwas brauchbares anzubieten (die Latte hängt hoch) und nicht nur zu meckern, kommt aber (noch) nix gescheites: angewiesen, eingeladen, gebeten, ..., das ist doch alles Mist.

However,
ich möchte Dir allerdings den Stern der Besten damit keineswegs versauen, sondern gratuliere einstweilen erst mal.


lg
die dohle
 
D

Die Dohle

Gast
... Nachtrag

So etwas in der Art vielleicht?:

###

noch ahnungslos sind sie hingeworfen
in ihr Leben.

###

lg
die dohle
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Monochrom,

ein starker Text, der in seinen gut beschriebenen Etappen zeitlich einen weiten Weg sichtbar macht.

Die Einfachheit Deiner Erzählweise und die Treffsicherheit der Etappen sowie das Doppelte, so dass man einerseits etwas Gegeständliches deutlich vor sich sieht und andererseits doch ahnt, dass hier eine Metapher gemeint sein könnte; diese Dinge sprechen mich sehr an.

Auch Deine letzte Zeile trifft für mich ins Schwarze. Das Leben enthält Prüfungen, denen man sich so manches Mal entziehen möchte, aber es geht weiter, es muss fließen und so kann man sich schon manchmal verurteilt fühlen, weil man auf der Erde zurecht kommen muss.

Ich erfreue mich an Deinem Text.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Monochrom

Mitglied
Thx

Hi,

erstmal vielen Dank für die Wertungen und freundlichen Kommentare.

Ich muss da allerdings gestehen, dass ich meine "hermetischen" Texte
weitaus besser finde, da bei diesen, um mal anzunehmen, dass ich
dazu in der Lage bin (neben Biertrinken und so), mehr Denkarbeit und Komposition,
und auch mehr Rhythmik, also insgesamt mehr Arbeit, drin steckt.
Diese tragen auch viel mehr an Bildkraft und Aussage.
Ich finde es da schon Schade, dass die Wahrnehmung des Menschen sich in der
Neuzeit soweit geändert hat, dass Menschen sich der Sprache und dem Wort nicht
mehr so hingeben können...

Dieser Text ist da einer aus ner Reihe, in der es um die eher direktere Sprache geht.

"Verurteilt zum Leben":
Ich habe eine Weile überlegt, "verurteilt zu leben" zu schreiben.
Das ist aber nicht so endgültig wie die Verurteilung "zum" Leben.
Ich sehe das schon so als Urteil. Ein Urteil ist eine Zuweisung, aufgrund eines
Sachverhalts. Das muss ja nicht umhin etwas kriminelles sein, es ist aber etwas,
dass der Mensch als Gegeben, als eben Gesetz hinnimmt, so wie Dinge
auf der Erde von oben nach unten fallen. Dabei ist die Verurteilung ja bloß ein Gedanke, kein Stein, grins...
ein Urteil, das nicht existiert :)

Bis denne,
Monochrom
 

wüstenrose

Mitglied
Hi Monochrom,

natürlich steht es dir frei, die Qualität deiner Texte nach deinem Dafürhalten zu gewichten - - - aber, vielleicht ist es so wie beim allseits bekannten Publikumsjoker (Günther lässt grüßen): das Publikum ist so doof nicht, es hat oft ein sehr gutes und feines Gespür.
Also trage das fette Lob, das du hier zu Recht erhälst, mit breiter und stolzer Brust!
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Monochrom,
ich glaube, Deine Sicht ist die derzeit maßgebliche, da das vorherrschende gesellschaftliche Moralingerüst wesentlich aus Schuld und Urteil schöpft. Die moderne Kultur funktioniert nur, wenn der Arbeitslose an seinem Schicksal ausschließlich selbst Schuld trägt. Das Urteil: Der taugt halt nix. Insofern muß demzufolge der Begriff "verurteilt" eine irgendwiegeartete positive oder wenigstens neutrale Prägung erfahren, will man sich hüben wie drüben dem fügen. Mithin, man richtet sich ein.

Ich weigere mich aus guten Gründen, diesem Verfahren zu folgen. Daher meine Anmerkung. Man muß einem Jugendlichen nur oft genug sagen, er sei ein Verurteilter, dann glaubt der das. Demgegenüber sind Umstände vorzufinden, unter denen das Leben eine dem Geschenk näherkommende Prägung erfährt. Unter diesen erwirkt der Gedanke "verurteilt zum Leben" in dem Zusammenhang eher eine absurde Note.
Noch ein Gedanke, um Missverständnissen vorzubeugen:
Es kommt sehr darauf an, wie man die Außenwirkung eines Gedichtes auffasst. Aus meiner Sicht sind Gedichte auch unmissverständliche Botschaften, die gegenüber dem Tresenplauder Anspruch auf gesteigerten Wahrheitsgehalt erheben. Insoweit versuchte ich Dein Gedicht als Klage zu lesen. Gelingt aber nicht unbedingt, da der Grund der Schuld verschwiegen wird, auch zwischen den Zeilen. Wollte man die dort verorten, wo die Rede vom Schichtarbeiter im Getränkebetrieb geht, dann habe ich dort höchstens ein Klischee vor mir, da auch Schichtler nicht zwingend zum Leben verurteilt sind.

Ich finde, Dein Gedicht ist sehr nahe dran, der letzte Kniff fehlt mir noch. Ich bitte das nicht als negative Kritik aufzufassen, sondern als anregenden Wunsch, dran zu bleiben. Also weniger Urteil, vielmehr Anregung. Hoff, es ist mir gelungen, in diese Richtung zu formulieren.

lg
die dohle
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

sehr gut, dass Du das erkannt hast. Ich sehe diese "Verurteilung", dass habe ich auch schon geschrieben, ebenfalls nicht als rein negative Wertung.

"Verurteilung zum Leben" umrahmt die Zeit in der Metapher und auch andere Zeiten.
So absurd ist es auf jeden Fall, es gibt keine Ausnahme darin.
Ich finde nicht, dass ich da zu einer Klage reiche, denn es gibt
weder einen Angeklagten noch ein Opfer, außer, wir alle wären das, Täter und Opfer zugleich unseres Seins. Es gibt keine Schuld, diese muss dann auch nicht zwischen die Zeilen...
aber ich finde es ehrhaft, dass Du den Text diametral erfasst und jedes Wort abklopfst.

Das wahre Klischee liegt für mich in der Vorstellung, dass gedacht wird, dass es so sein muss und nicht anders sein kann. Und in der Unvermeidbarkeit, dass es trotzdem so ist.

Bis denne,
Monochrom
 

Jenno Casali

Mitglied
Hallo Monochrom,
Starker Text, starker Titel!!!
Ich schließe mich aber Frodomir bzgl. des letzten Verses an:
noch ahnungslos, [strike]sie sind[/strike] verurteilt zum Leben.
LG
Jenno C.
 

Ralf Langer

Mitglied
Erdgefärbt

Am Bahndamm gruben sie
eine Höhle mit zwei Räumen einem Fenster.
Sperrmüllmöbel und eine Feuerstelle, einige blieben
über Nacht, wenn es zuhause krachte.

Im Strom der Zuckerrübenzüge zogen wir
ein und aus mit Schätzen, später
rauchten wir dort Joints, fickten
die angesagten Mädchen aus der unteren Schulklasse.

Von der Höhle blickten wir ins Tal,
auf den Bauhof und die Getränkefabrik,
in der fingen einige an zu arbeiten, blieben fern,
andere zogen weg und verschwanden.

Unsere Höhle ist eingestürzt, wir sind im Tal,
und die Droge ist Erinnern. Bevor die Tage enden,
mögen andere eingezogen sein,
noch ahnungslos, sie sind verurteilt zum Leben.



welch starke und eingängige bildersprache du hier ein leben schenkst. So untypisch für die art von gedichten
die du sonst veröffentlichst.ja so ganz anders und wirklich wunderbar.

so traurig und doch angesiedelt in dem elend das heimat sein kann, in dem heimat nicht mehr ist als eine höhle an der die zeit vorbeigeht, bis auch dort andere einziehen und ihr „nest“ finden, bevor sie flügge werden, oder irre, oder leise zugrunde gehen.

meine begeisterung ist grenzenlos

melancholisch, traurig und doch ist hier jemandes zuhaus

danke
ralf
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

@Jenno C.: Danke fürs Lesen und das Lob. Ich bin mir da nicht sicher, ob der Text da noch Ausdruck gewinnt. Auch gefällt mir der zusätzliche Betonungsausschlag an dieser Stelle.

@RL: Mensch Ralf, Dein Lob ehrt mich. Ohne Scheiß, Deine Bestärkung bedeutet mir sehr sehr viel.

Ciao,
Monochrom
 

revilo

Mitglied
der hier dagegen, lieber mono, kommt bei mir an, trifft voll auf den Punkt......er erinnert mich sehr an Wondratschek....LG revilo
 



 
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