Erinnerung

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Rafi

Mitglied
Halbe Brötchen

Wie jeden Morgen wachte er von alleine auf. Seine Hand streifte über das Kissen neben sich. Kalt war es, leer. So kalt seit acht Jahren schon, so leer.
Der Alte schob müde seine Beine aus dem warmen Bett, tastete mit den Füßen nach den Pantoffeln, schlüpfte hinein und stem­mte sich hoch. Er nahm den alten, längsgestreiften Morgen­mantel, der jede Nacht am Fußende seines Bettes darauf wartete, am Morgen mit Leben gefüllt zu werden. Er fand seine Brille auf dem Nachtschränkchen und setzte sie auf.
Langsam schlurfte er zur Toilette, ging dann in die Küche, um Frühstück zu machen. Wie immer deckte er den Tisch für zwei. Gerade so, als sei Johanna noch immer da, um ihm die obere Hälfte des Brötchens zu überlassen. Dabei hätte er manchmal lieber die untere, dünnere Hälfte gehabt. Aber er wollte Johanna nicht enttäuschen, und so nahm er eben immer die obere Hälfte. Um ihr einen Gefallen zu tun. Und sie liebte die untere Hälfte doch so.
Der Alte ließ sich ächzend auf den knarrenden Küchenstuhl fallen. Seine Beine taten weh. Sie hatten keine Lust mehr. „Dreiundachtzig Jahre sind genug“, sagten sie ihm, und oft blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sie zu hören.
Als er den ersten Schluck Kaffee trank, dachte er an Johanna. Sie hatte den Kaffee immer viel zu dünn aufgebrüht. Eine gute Frau war sie gewesen, eine wirklich gute Frau. So klaglos und so fleißig. Aufbrausend manchmal, aber nur ein bisschen. Nur Kaffee, den konnte sie nie kochen. Immer viel zu dünn, so ein Frauenkaffee.
Sie hatten eine gute Ehe geführt, glaubte der Alte, auch wenn sie es nie gelernt hatte, einen guten Kaffee zu kochen. Vierzig ewig lange Jahre hatten sie miteinander gelebt. Vierzig Jahre, in denen sie alles mitgemacht hatten, was in so langer Zeit auf zwei Menschen einstürmen kann. Höhen und Tiefen, gute und auch schlechte Zeiten. Und am Ende war sie gestorben. Einfach so. Er war morgens aufgewacht, hatte wie immer zu ihr rübergelangt, und da war sie ganz kalt gewesen. Einfach so gestorben war sie, in der Nacht, ohne dass er es bemerkt hatte.
Vielleicht, dachte er, während er die obere Hälfte seines Brötchens in den Kaffee tunkte, vielleicht war unsere Ehe gar nicht besonders gut gewesen. Aber auch nicht besonders schlecht. Eine ganz normale Ehe eben. Eine wie Hunderdtausende auch. Sie hatten so manche Krise gehabt. Einmal hatte Johanna ihren Koffer gepackt und war weggefahren. Bloß, weil er mal eine ganze Nacht lang nicht nach Hause gekommen war. Hatte halt die Zeit vergessen. Er wusste damals nicht, wo sie hin war. Aber dann stand sie drei Tage später doch wieder vor der Tür. Einfach so. Er hatte sie nicht gefragt, und sie hatte ihm nichts erzählt. Sie hatten einfach so weitergemacht wie immer. Als wäre nichts geschehen. Und es war ja auch nichts geschehen. Ein Eselsohr auf einer Seite in dem Buch, das jedes Leben schreibt. Nichts weiter. Eine gute Ehe hatten sie trotzdem.
Stefanie, ihre Tochter, hatte es nicht geschafft. Sie war nur sechs Jahre verheiratet gewesen. Dann hatte sie sich scheiden lassen, war mit dem kleinen Benjamin weggezogen. Ob Johanna damals bei Stefanie übernachtet hatte? So musste es wohl gewesen sein. Wo hätte sie denn auch sonst hin sollen?
Erst kürzlich hatte der Alte gelesen, dass heutzutage jede dritte Ehe geschieden wird. Vielleicht kann eine Ehe gar kein gutes Ende haben, wenn nicht einer von beiden stirbt. Von glücklichen Ehen reden die Leute doch immer nur, wenn einer von ihnen einen Unfall hatte oder einen Herzinfarkt. Wenn der Platz an der Seite des anderen auf einmal leer ist. Früh genug leer und kalt, um keine Gelegenheit für eine Scheidung zu haben. Wenn man plötzlich allein ist. Einfach so.
Er stand müde auf und räumte den Tisch ab. Die untere Hälfte des Brötchens würde er irgendwann später den Enten unten am Hafen bringen. Die freuten sich darüber. Er warf sie in eine Plastiktüte, die fast voll war von unteren Brötchenhälften. Er kam viel zu selten zu den Enten am Hafen.
Es klingelte an der Tür. Langsam schlurfte der Alte hin, drückte auf den Knopf, der den Hauseingang summend öffnete, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
„Morgen“, hörte er wenig später Tobias’ Stimme. „Keiner zu Hause, oder was?“
Der Alte ließ sich Zeit. Das war schließlich das Einzige, von dem er wirklich genug hatte. Zeit. Tobias machte auch ohne ihn alles richtig. War ja oft genug da, der Junge. Jeden Tag war er da. Sah nach dem Rechten. Als ob er das nötig gehabt hätte. Pah! Als ob er ein Kindermädchen brauchte. Einen Jungen, ausgerechnet! Die Sozial­station hatte ihn geschickt, damit er nicht ins Altenheim musste. Der Junge hatte einen Schlüssel, den er aber nie benutzte. Immer klingelte er.
„Alles klar, Herr Krawitz?“, hörte er Tobias.
„Ja ja, alles klar. Warum benutzt du nie deinen Schlüssel?“
„Damit ich Sie bloß nicht überrasche!“ Der Alte konnte fast durch die Tür sehen, wie der Bengel frech grinste. „Kann ich reinkommen?“
„Nein. Ich ziehe mich an.“
Wenig später stand er fertig in der Küchentür und schaute Tobias dabei zu, wie er das Geschirr abwusch. War ein netter Junge, aber auch komisch, irgendwie. Wie immer hatte er seine langen Haare zu einem Zopf gebunden, das störte den Alten. Sieht irgendwie weibisch aus, dachte er. Und das hatte er dem Bengel auch schon mal gesagt. Johanna hatte auch wunderschöne lange Haare gehabt. Irgend­­wann wurden sie weiß wie Schnee, und er hatte ver­gessen, wann das gewesen war. Johanna trug ihre Haare zu einem Knoten zusammengebunden. Das sah nicht weibisch aus. Überhaupt nicht. Das passte irgendwann zu ihr. Als die Haare so weiß geworden waren, passte es einfach besser. Und Falten hatte sie auch irgendwann bekommen, so richtige Runzeln. Dem Alten hatte das nichts ausgemacht; er fand es sogar schön irgendwie.
„Na, alles in Ordnung?“, fragte der Junge.
„Hm“, machte der Alte und drängte sich an ihm vorbei zum Tisch. „Hast du die Zeitung mitgebracht?“
„Klar! Ich werd’ doch Ihre Zeitung nicht vergessen“, sagte Tobias lachend. „Sie liegt im Flur. Neben dem Telefon auf der Kommode.“
Nach der Hausarbeit hatte Tobias noch Zeit, ehe er zu seinem nächsten Pflegefall musste. Zusammen mit dem Alten setzte er sich im Wohnzimmer auf die alte, fadenscheinig gewordene Couch.
Der Alte holte den abge­griffenen Schuhkarton hervor. Darin bewahrte er seine Heilig­tümer auf: Stapel von alten Fotos, Postkarten und Briefe, die Tobias schon Dutzende Mal gesehen haben musste. Der Junge war trotz allem doch ganz gut erzogen; er guckte sich den ganzen alten Kram wieder und wieder an. Dabei spielte er den Aufmerksamen. Der Alte wusste, dass er das nur tat, um ihn nicht zu verletzen. Der Bengel glaubt ja, ich hab sonst keinen, dachte er.
„Johanna“, sagte er und reichte Tobias eine der vergilbten Schwarz-Weiß-Foto­grafien aus dem Karton.
Eine junge Frau war darauf zu sehen. Sie trug ein alt­modisches Kleid mit Matrosenkragen, ihr langes braunes oder schwarzes Haar fiel in Locken über die schmalen Schultern. Sie stand vor einer Leinwand, auf der eine Berglandschaft aufgemalt war.
„Ist wohl im Studio aufgenommen worden?“
„Hm. In Dresden. Johanna hatte Geburtstag an dem Tag.“
Der Alte nahm das Foto zurück und hielt es eine ganze Weile lang zwischen den zittrigen Fingern. Versonnen starrte er darauf, ließ seine Erinnerungen weit, ganz weit zurückwandern. Johannas Lachen hatte immer wie ein Kichern geklungen. Und wie ihre Augen immer geblitzt hatten, wenn sie so kicherte! Ein kleines Mädchen war sie, ein Leben lang. Sein kleines Mädchen.
„Sie haben sie ziemlich lieb gehabt, was?“
„Ach, Firlefanz! Was hat das denn mit Liebe zu tun? Wenn man heiratet, dann nicht wegen der Liebe, merk dir das für später!“
„Und warum sollte man dann überhaupt heiraten?“, fragte der Bengel frech.
„Ach, was weiß denn ich“, brummte der Alte. „Jedenfalls nicht wegen Liebe, nicht deswegen! Die vergeht ja sowieso. Man bleibt mit einer Frau zusammen, weil’s einem gut tut. Vielleicht deshalb, vielleicht auch wegen der Steuer. Oder was weiß denn ich, weshalb. Mit Liebe hat das jedenfalls nicht zu tun. Am Anfang, ja, da denkt man immer, man wird ganz verrückt vor Liebe. Firlefanz! Man gewöhnt sich an den anderen, sonst nichts. Sonst gar nichts!“
Der Alte kramte weiter in der Kiste, bis er einen Briefumschlag hervorzog. „Hier, von Stefanie. Sie hat mir geschrieben.“ Er gab den Brief weiter an Tobias. „Ist aber schon zwei Jahre alt.“
Der Umschlag enthielt auch noch das Foto eines kleinen Jungen, der vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. „Und das ist wohl Ihr Enkel. Wie heißt er noch?“
„Benjamin. Er heißt Benjamin“, murmelte der Alte. „Vielleicht kommen die beiden mich bald mal besuchen. Aber Stefanie hat ja ziemlich viel zu tun.“
„Was macht sie denn?“
„Sie ist beschäftigt.“
Tobias legte Foto und Brief zurück in den Karton. „Na ja, ich bin leider auch beschäftigt. Ich muss dann mal wieder. Gibt’s noch etwas zu erledigen?“
„Gibt immer was zu erledigen“, brummte der Alte.
„Brauchen Sie noch etwas?“
„Nein, ich brauche nichts. Außer vielleicht – ja, du könntest mir ein Päckchen Tabak mitbringen.“
Tobias grinste. „Sie wissen, dass Sie nicht rauchen sollen. Sagt jedenfalls der Arzt.“
„Ist mir egal, was der Quacksalber sagt. Der hat ja mal überhaupt keine Ahnung, aber überhaupt keine! Bringst du mir jetzt den Tabak mit oder nicht? Sonst geh ich ihn mir selbst holen. Einfach so.“
„Schon gut. Ich denk morgen dran. Also dann.“
Der Alte hörte, wie Tobias die Wohnungstür zuknallte. Er war wieder allein.
Nach einer Weile packte er den Schuhkarton weg. Er hatte genug von den Erinnerungen, die doch nichts brachten und ihn nur quälten. Würde Johanna noch leben, dachte er, dann würde ich den kleinen Benjamin bestimmt öfter sehen. Johanna hat dafür gesorgt, dass alle zusammenhalten, immer. Sie war’s, die alle immer zusammengehalten hat. Auch mich und sie hat sie zusammengehalten. Wie ‘n Knopf konnte sie sein, wie ‘n Knopf.
Ohne Grund ging er zur Wohnungstür, öffnete sie und blickte hinaus auf den Flur. Gerade so, als suche er etwas, als erwarte er jemanden. Was? Wen? Er hätte es selbst nicht zu sagen gewusst. Die Frau von nebenan, der Alte konnte sich ihren Namen nicht merken, kam aus ihrer Wohnung. Sie schaute ihn überrascht an, lächelte. „Hallo, Herr Krawitz“, grüßte sie, winkte und wandte sich dann zur Treppe.
„Morgen“, murmelte der Alte still, aber sie war bereits einen Stock tiefer. Er fragte sich, woher sie seinen Namen kannte.
Er hatte sich noch nie so gut Namen merken können. Johanna schon. Sie kannte sogar alle Minister, die damals den ersten Bundestag gegründet hatten. Alle. Und die Nachbarn natürlich auch. Sogar die Namen von Stefanies Lehrern konnte sie sich merken. Ein tolles Gedächtnis hatte die Frau. Wirklich ein tolles Gedächtnis. Ich vergesse immer mehr, dachte der Alte nun. Nur Johanna, die vergess’ ich nicht. Die nicht. Nicht mein Mädchen.
Er ging zum großen Fenster am Balkon. Manchmal, wenn die Sonne schien, setzte er sich hinaus und ließ sich wärmen. Heute war alles grau. Es nieselte sogar ein bisschen. Der Winter würde bald kommen. Der Alte mochte den Winter nicht. Alles war grau und nass und kalt. Das zog in die Knochen und auch ins Gemüt. Wenn’s draußen nicht richtig hell wurde, dann fühlte er sich meistens einsam. Allein war er dann, viel mehr, als wenn die Sonne schien. Dann hat man ja nichts, das man angucken kann außer seinen eigenen Gedanken. Dann kommen sie angeschlurft, die alten Erinnerungen und machen einen einsam. Wenn’s kalt ist und grau. Dann war Johanna viel weiter weg als sonst. Früher waren die Winter anders. Es gab immer Schnee. Johanna kicherte wie verrückt, wenn sie Schlitten fahren waren. Nicht oft, nur manchmal. Damals, als sie noch jung gewesen waren. Das war ihr das Größte. Da konnte sie kichern und ihre Augen blitzen lassen. Aber das war schon lange her. Heute zog ihm das Wetter nur noch in die Knochen.
Bedächtig nahm er einige Krümel von dem trockenen Tabak, der noch in der Dose war, ließ sie auf ein Blättchen Papier rieseln, drehte es sorgsam zusammen, be­feuchtete den Klebestreifen mit seiner Zunge und zündete sich die Zigarette an. Er rauchte nicht viel, nur wenn ihm langweilig war. Eigentlich war ihm immer langweilig, aber er rauchte trotzdem nicht allzu viel. Das hatte er nie getan, auch wenn er manchmal gewollt hätte. Aber Johanna mochte es nicht. Dass es in der ganzen Wohnung nach dem Kraut stinken würde, hatte sie immer gesagt, und dass sie den Gestank niemals aus dem Teppich und aus den Gardinen herausbekommen würde. Darum rauchte er immer nur wenig, oft auch draußen auf dem Balkon. Wenn die Sonne schien.
Als er die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand er wieder auf, ging zum großen Fenster, dann in die Küche. Auf dem Herd stand das Essen, das Tobias mitgebracht hatte. Der Alte musste es nur noch aufwärmen.
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging wieder zurück zum großen Fenster.
Aus der Wohnung über sich hörte er Geräusche. Etwas polterte auf den Boden, die Stimme eines Mannes, laut, aggressiv. Dann die einer Frau, kreischend. Der Alte kannte diese Leute nicht. Aber er hörte manchmal, wie sie sich stritten. Und dann glaubte er auch, dass der Mann die Frau schlug. Es ging ihn nichts an. Er hatte Johanna nie geschlagen. Es gab auch nie einen Grund dafür. Sie war eine gute Frau gewesen. Und er ein guter Mann.
Er ging wieder zurück in die Küche, schaute aus dem Fenster. Unten auf der Straße sah er einige Leute. Sie hasteten über den Bürgersteig. Er sah Arbeiter mit gelben Schutz­helmen. Drüben an einem der dunklen Hafenhäuser aus Backstein hing eine große Uhr. Sie verriet ihm, dass der Tag auch wirklich verging.
Nach dem Mittagessen legte er sich auf die Couch. Er war müde. Meistens hielt er seinen Mittagsschlaf bis zum Abend. Dann schaltete er den Fernseher ein, bis er wieder müde wurde und ins Bett ging. Früher, als Johanna noch lebte, hatten sie gar keinen Fernseher gehabt. „Was haben wir damals nur gemacht?“, murmelte er, während er an die Decke blinzelte. „Wir hatten doch keine Langeweile.“
Er erinnerte sich, dass sie manchmal Scrabble gespielt hatten. Oder sich einfach nur unterhalten. In beidem war Johanna gut gewesen: Beim Scrabble erfand sie ganz neue Worte, und er hatte nie beweisen können, dass es so etwas wie „Yaxmal“ oder „Irdenland“ nicht gab. Darum hatte sie meistens gewonnen. Wenigstens dabei.
Wenn sie sich unterhalten hatten, behielt meist er das Oberwasser. Da machte ihm keiner so schnell etwas vor, nicht beim Reden. Aber verloren hab ich dann am Ende ja doch, dachte der Alte. Dich.
Irgend etwas machte ihn nervös. Es war, als würde er auf etwas warten, ohne zu wissen, worauf. Ob er Besuch bekommen würde? „Ach was! Wer soll mich denn besuchen?“
Vielleicht würde Stefanie heute kommen. Dann würde er endlich den kleinen Benjamin kennenlernen. Aber warum sollte sie heute kommen? Wenn sie kommen würde, dann hätte sie doch angerufen. Vielleicht wollte sie ihn überraschen?
Verärgert stemmte er sich hoch, schlurfte in den Flur und nahm sich die Zeitung von der Kommode. Wie immer blätterte er zuerst die Seite mit den Todesanzeigen auf. Er las die Namen, schaute, ob er einen davon kannte. Aber es war niemand dabei, den er einmal gekannt hatte. Noch nie hatte er einen bekannten Namen entdeckt. „Ob die alle noch leben?“, fragte er sich.
Vom Lesen tränten seine Augen. Er legte sich wieder hin, rückte das Kissen zurecht. Einen Moment ausruhen, dachte er, dann war er eingeschlafen. Einfach so …
Tobias hatte an den Tabak gedacht. Als er klingelte, öffnete ihm niemand. Zum ersten Mal benutzte er den Schlüssel. Der Geruch von abgestandener Luft und kaltem Rauch kam ihm ent­gegen. Wie immer.
„Herr Krawitz, ist alles in Ordnung?“, rief er im Flur. Er bekam keine Antwort.
Im Wohnzimmer fand er den Alten. Er lag auf der Couch, als würde er schlafen. Seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht blass. Neben ihm auf dem Boden lag zerknittert die Zeitung von gestern, im Aschenbecher ein kalter Zigarettenstummel.
Tobias nahm den alten Schuhkarton aus dem Schrank, zog den Brief der Tochter hervor. Jemand musste sie informieren. Sie hatte zu lange mit ihrem Besuch gewartet.
Er fand das alte, abgegriffene Bild von Franziska in ihrem Matrosenkleid vor der gemalten Berglandschaft. Lange betrachtete er es, dann steckte er es ein. „Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr Krawitz. So kann ich mich besser an Sie erinnern.“
Er ging in den Flur, wo das Telefon stand. Vor dem altmodischen Spiegel unter der unbenutzten Hutablage blieb er stehen. „Deine Haare sehen weibisch aus“, meinte er eine mürrische Stimme zu hören.
„Warum?“, fragte Tobias frech.
„Einfach so …“
Die Luft war feucht und grau, als die Männer den Blechsarg in ihren schwarzen Wagen schoben. Tobias stand daneben und schaute ihnen zu. In der Hand hielt er eine große Plastiktüte, die fast voll war mit steinharten halben Brötchen. Es waren nur die unteren Hälften.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Rafi,

ein klarer, ruhiger Text, der den letzten Tag eines alten Mannes sehr einfühlsam beschreibt und den man gern liest.
Zwei kleine Bemerkungen:
Er fand das alte, abgegriffene Bild von Franziska in ihrem Matrosenkleid
Wer ist Franziska? Müsste es hier nicht Johanna heißen?

Vom Optischen her wirkt es besser, wenn Du für jede wörtliche Rede einen neuen Absatz beginnst. Insgesamt könnten einige Absätze mehr den Text leichter lesbar machen. Vielleicht kannst Du da noch einmal drübergehen.

Ein sehr guter Einstand bei der LL!

Gruß Ciconia
 

herziblatti

Mitglied
Hallo Rafi, gefällt mir gut, dein Text. Idee und Schreibweise klingen zusammen, die Sprache hat das passende Tempo.
Er stand müde auf und räumte den Tisch ab. Die untere Hälfte des Brötchens würde er irgendwann ...
hier verschenkst du dein Gold, weil die in diesem Absatz zu häufig genannten unteren Brötchen-Hälften die Schlusspointe versemmeln. Davon ab, eine in ihrer Schlichtheit sehr berührende Geschichte. LG - herziblatti
 

Rafi

Mitglied
Danke, Ciconia – natürlich hast Du recht, da hat mich der Teufel der Unaufmerksamkeit gebissen. Klar muss es Johanna heißen und nicht Franziska (ich war mir anfangs noch nicht so ganz im Klaren über die Namen …). Wird geändert, ebenso die Absätze ;-)

Herziblatti: Vielen Dank für Deine positive Kritik. Und die Bezeichnung „Gold“ (wenn auch ein verschenktes …) finde ich in diesem Zusammenhang natürlich „Gold wert“.
 

Rafi

Mitglied
Halbe Brötchen

Wie jeden Morgen wachte er von alleine auf. Seine Hand streifte über das Kissen neben sich. Kalt war es, leer. So kalt seit acht Jahren schon, so leer.
Der Alte schob müde seine Beine aus dem warmen Bett, tastete mit den Füßen nach den Pantoffeln, schlüpfte hinein und stem­mte sich hoch. Er nahm den alten, längsgestreiften Morgen­mantel, der jede Nacht am Fußende seines Bettes darauf wartete, am Morgen mit Leben gefüllt zu werden. Er fand seine Brille auf dem Nachtschränkchen und setzte sie auf.
Langsam schlurfte er zur Toilette, ging dann in die Küche, um Frühstück zu machen. Wie immer deckte er den Tisch für zwei. Gerade so, als sei Johanna noch immer da, um ihm die obere Hälfte des Brötchens zu überlassen. Dabei hätte er manchmal lieber die untere, dünnere Hälfte gehabt. Aber er wollte Johanna nicht enttäuschen, und so nahm er eben immer die obere Hälfte. Um ihr einen Gefallen zu tun. Und sie liebte die untere Hälfte doch so.
Der Alte ließ sich ächzend auf den knarrenden Küchenstuhl fallen. Seine Beine taten weh. Sie hatten keine Lust mehr. „Dreiundachtzig Jahre sind genug“, sagten sie ihm, und oft blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sie zu hören.
Als er den ersten Schluck Kaffee trank, dachte er an Johanna. Sie hatte den Kaffee immer viel zu dünn aufgebrüht. Eine gute Frau war sie gewesen, eine wirklich gute Frau. So klaglos und so fleißig. Aufbrausend manchmal, aber nur ein bisschen. Nur Kaffee, den konnte sie nie kochen. Immer viel zu dünn, so ein Frauenkaffee.
Sie hatten eine gute Ehe geführt, glaubte der Alte, auch wenn sie es nie gelernt hatte, einen guten Kaffee zu kochen. Vierzig ewig lange Jahre hatten sie miteinander gelebt. Vierzig Jahre, in denen sie alles mitgemacht hatten, was in so langer Zeit auf zwei Menschen einstürmen kann. Höhen und Tiefen, gute und auch schlechte Zeiten. Und am Ende war sie gestorben. Einfach so. Er war morgens aufgewacht, hatte wie immer zu ihr rübergelangt, und da war sie ganz kalt gewesen. Einfach so gestorben war sie, in der Nacht, ohne dass er es bemerkt hatte.
Vielleicht, dachte er, während er die obere Hälfte seines Brötchens in den Kaffee tunkte, vielleicht war unsere Ehe gar nicht besonders gut gewesen. Aber auch nicht besonders schlecht. Eine ganz normale Ehe eben. Eine wie Hunderdtausende auch. Sie hatten so manche Krise gehabt. Einmal hatte Johanna ihren Koffer gepackt und war weggefahren. Bloß, weil er mal eine ganze Nacht lang nicht nach Hause gekommen war. Hatte halt die Zeit vergessen. Er wusste damals nicht, wo sie hin war. Aber dann stand sie drei Tage später doch wieder vor der Tür. Einfach so. Er hatte sie nicht gefragt, und sie hatte ihm nichts erzählt. Sie hatten einfach so weitergemacht wie immer. Als wäre nichts geschehen. Und es war ja auch nichts geschehen. Ein Eselsohr auf einer Seite in dem Buch, das jedes Leben schreibt. Nichts weiter. Eine gute Ehe hatten sie trotzdem.
Stefanie, ihre Tochter, hatte es nicht geschafft. Sie war nur sechs Jahre verheiratet gewesen. Dann hatte sie sich scheiden lassen, war mit dem kleinen Benjamin weggezogen. Ob Johanna damals bei Stefanie übernachtet hatte? So musste es wohl gewesen sein. Wo hätte sie denn auch sonst hin sollen?
Erst kürzlich hatte der Alte gelesen, dass heutzutage jede dritte Ehe geschieden wird. Vielleicht kann eine Ehe gar kein gutes Ende haben, wenn nicht einer von beiden stirbt. Von glücklichen Ehen reden die Leute doch immer nur, wenn einer von ihnen einen Unfall hatte oder einen Herzinfarkt. Wenn der Platz an der Seite des anderen auf einmal leer ist. Früh genug leer und kalt, um keine Gelegenheit für eine Scheidung zu haben. Wenn man plötzlich allein ist. Einfach so.
Er stand müde auf und räumte den Tisch ab. Die untere Hälfte des Brötchens würde er irgendwann später den Enten unten am Hafen bringen. Die freuten sich darüber. Er warf sie in eine Plastiktüte, die fast voll war von unteren Brötchenhälften. Er kam viel zu selten zu den Enten am Hafen.
Es klingelte an der Tür. Langsam schlurfte der Alte hin, drückte auf den Knopf, der den Hauseingang summend öffnete, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
„Morgen“, hörte er wenig später Tobias’ Stimme. „Keiner zu Hause, oder was?“
Der Alte ließ sich Zeit. Das war schließlich das Einzige, von dem er wirklich genug hatte. Zeit. Tobias machte auch ohne ihn alles richtig. War ja oft genug da, der Junge. Jeden Tag war er da. Sah nach dem Rechten. Als ob er das nötig gehabt hätte. Pah! Als ob er ein Kindermädchen brauchte. Einen Jungen, ausgerechnet! Die Sozial­station hatte ihn geschickt, damit er nicht ins Altenheim musste. Der Junge hatte einen Schlüssel, den er aber nie benutzte. Immer klingelte er.
„Alles klar, Herr Krawitz?“, hörte er Tobias.
„Ja ja, alles klar. Warum benutzt du nie deinen Schlüssel?“
„Damit ich Sie bloß nicht überrasche!“ Der Alte konnte fast durch die Tür sehen, wie der Bengel frech grinste. „Kann ich reinkommen?“
„Nein. Ich ziehe mich an.“
Wenig später stand er fertig in der Küchentür und schaute Tobias dabei zu, wie er das Geschirr abwusch. War ein netter Junge, aber auch komisch, irgendwie. Wie immer hatte er seine langen Haare zu einem Zopf gebunden, das störte den Alten. Sieht irgendwie weibisch aus, dachte er. Und das hatte er dem Bengel auch schon mal gesagt. Johanna hatte auch wunderschöne lange Haare gehabt. Irgend­­wann wurden sie weiß wie Schnee, und er hatte ver­gessen, wann das gewesen war. Johanna trug ihre Haare zu einem Knoten zusammengebunden. Das sah nicht weibisch aus. Überhaupt nicht. Das passte irgendwann zu ihr. Als die Haare so weiß geworden waren, passte es einfach besser. Und Falten hatte sie auch irgendwann bekommen, so richtige Runzeln. Dem Alten hatte das nichts ausgemacht; er fand es sogar schön irgendwie.
„Na, alles in Ordnung?“, fragte der Junge.
„Hm“, machte der Alte und drängte sich an ihm vorbei zum Tisch. „Hast du die Zeitung mitgebracht?“
„Klar! Ich werd’ doch Ihre Zeitung nicht vergessen“, sagte Tobias lachend. „Sie liegt im Flur. Neben dem Telefon auf der Kommode.“
Nach der Hausarbeit hatte Tobias noch Zeit, ehe er zu seinem nächsten Pflegefall musste. Zusammen mit dem Alten setzte er sich im Wohnzimmer auf die alte, fadenscheinig gewordene Couch.
Der Alte holte den abge­griffenen Schuhkarton hervor. Darin bewahrte er seine Heilig­tümer auf: Stapel von alten Fotos, Postkarten und Briefe, die Tobias schon Dutzende Mal gesehen haben musste. Der Junge war trotz allem doch ganz gut erzogen; er guckte sich den ganzen alten Kram wieder und wieder an. Dabei spielte er den Aufmerksamen. Der Alte wusste, dass er das nur tat, um ihn nicht zu verletzen. Der Bengel glaubt ja, ich hab sonst keinen, dachte er.
„Johanna“, sagte er und reichte Tobias eine der vergilbten Schwarz-Weiß-Foto­grafien aus dem Karton.
Eine junge Frau war darauf zu sehen. Sie trug ein alt­modisches Kleid mit Matrosenkragen, ihr langes braunes oder schwarzes Haar fiel in Locken über die schmalen Schultern. Sie stand vor einer Leinwand, auf der eine Berglandschaft aufgemalt war.
„Ist wohl im Studio aufgenommen worden?“
„Hm. In Dresden. Johanna hatte Geburtstag an dem Tag.“
Der Alte nahm das Foto zurück und hielt es eine ganze Weile lang zwischen den zittrigen Fingern. Versonnen starrte er darauf, ließ seine Erinnerungen weit, ganz weit zurückwandern. Johannas Lachen hatte immer wie ein Kichern geklungen. Und wie ihre Augen immer geblitzt hatten, wenn sie so kicherte! Ein kleines Mädchen war sie, ein Leben lang. Sein kleines Mädchen.
„Sie haben sie ziemlich lieb gehabt, was?“
„Ach, Firlefanz! Was hat das denn mit Liebe zu tun? Wenn man heiratet, dann nicht wegen der Liebe, merk dir das für später!“
„Und warum sollte man dann überhaupt heiraten?“, fragte der Bengel frech.
„Ach, was weiß denn ich“, brummte der Alte. „Jedenfalls nicht wegen Liebe, nicht deswegen! Die vergeht ja sowieso. Man bleibt mit einer Frau zusammen, weil’s einem gut tut. Vielleicht deshalb, vielleicht auch wegen der Steuer. Oder was weiß denn ich, weshalb. Mit Liebe hat das jedenfalls nicht zu tun. Am Anfang, ja, da denkt man immer, man wird ganz verrückt vor Liebe. Firlefanz! Man gewöhnt sich an den anderen, sonst nichts. Sonst gar nichts!“
Der Alte kramte weiter in der Kiste, bis er einen Briefumschlag hervorzog. „Hier, von Stefanie. Sie hat mir geschrieben.“ Er gab den Brief weiter an Tobias. „Ist aber schon zwei Jahre alt.“
Der Umschlag enthielt auch noch das Foto eines kleinen Jungen, der vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. „Und das ist wohl Ihr Enkel. Wie heißt er noch?“
„Benjamin. Er heißt Benjamin“, murmelte der Alte. „Vielleicht kommen die beiden mich bald mal besuchen. Aber Stefanie hat ja ziemlich viel zu tun.“
„Was macht sie denn?“
„Sie ist beschäftigt.“
Tobias legte Foto und Brief zurück in den Karton. „Na ja, ich bin leider auch beschäftigt. Ich muss dann mal wieder. Gibt’s noch etwas zu erledigen?“
„Gibt immer was zu erledigen“, brummte der Alte.
„Brauchen Sie noch etwas?“
„Nein, ich brauche nichts. Außer vielleicht – ja, du könntest mir ein Päckchen Tabak mitbringen.“
Tobias grinste. „Sie wissen, dass Sie nicht rauchen sollen. Sagt jedenfalls der Arzt.“
„Ist mir egal, was der Quacksalber sagt. Der hat ja mal überhaupt keine Ahnung, aber überhaupt keine! Bringst du mir jetzt den Tabak mit oder nicht? Sonst geh ich ihn mir selbst holen. Einfach so.“
„Schon gut. Ich denk morgen dran. Also dann.“
Der Alte hörte, wie Tobias die Wohnungstür zuknallte. Er war wieder allein.
Nach einer Weile packte er den Schuhkarton weg. Er hatte genug von den Erinnerungen, die doch nichts brachten und ihn nur quälten. Würde Johanna noch leben, dachte er, dann würde ich den kleinen Benjamin bestimmt öfter sehen. Johanna hat dafür gesorgt, dass alle zusammenhalten, immer. Sie war’s, die alle immer zusammengehalten hat. Auch mich und sie hat sie zusammengehalten. Wie ‘n Knopf konnte sie sein, wie ‘n Knopf.
Ohne Grund ging er zur Wohnungstür, öffnete sie und blickte hinaus auf den Flur. Gerade so, als suche er etwas, als erwarte er jemanden. Was? Wen? Er hätte es selbst nicht zu sagen gewusst. Die Frau von nebenan, der Alte konnte sich ihren Namen nicht merken, kam aus ihrer Wohnung. Sie schaute ihn überrascht an, lächelte. „Hallo, Herr Krawitz“, grüßte sie, winkte und wandte sich dann zur Treppe.
„Morgen“, murmelte der Alte still, aber sie war bereits einen Stock tiefer. Er fragte sich, woher sie seinen Namen kannte.
Er hatte sich noch nie so gut Namen merken können. Johanna schon. Sie kannte sogar alle Minister, die damals den ersten Bundestag gegründet hatten. Alle. Und die Nachbarn natürlich auch. Sogar die Namen von Stefanies Lehrern konnte sie sich merken. Ein tolles Gedächtnis hatte die Frau. Wirklich ein tolles Gedächtnis. Ich vergesse immer mehr, dachte der Alte nun. Nur Johanna, die vergess’ ich nicht. Die nicht. Nicht mein Mädchen.
Er ging zum großen Fenster am Balkon. Manchmal, wenn die Sonne schien, setzte er sich hinaus und ließ sich wärmen. Heute war alles grau. Es nieselte sogar ein bisschen. Der Winter würde bald kommen. Der Alte mochte den Winter nicht. Alles war grau und nass und kalt. Das zog in die Knochen und auch ins Gemüt. Wenn’s draußen nicht richtig hell wurde, dann fühlte er sich meistens einsam. Allein war er dann, viel mehr, als wenn die Sonne schien. Dann hat man ja nichts, das man angucken kann außer seinen eigenen Gedanken. Dann kommen sie angeschlurft, die alten Erinnerungen und machen einen einsam. Wenn’s kalt ist und grau. Dann war Johanna viel weiter weg als sonst. Früher waren die Winter anders. Es gab immer Schnee. Johanna kicherte wie verrückt, wenn sie Schlitten fahren waren. Nicht oft, nur manchmal. Damals, als sie noch jung gewesen waren. Das war ihr das Größte. Da konnte sie kichern und ihre Augen blitzen lassen. Aber das war schon lange her. Heute zog ihm das Wetter nur noch in die Knochen.
Bedächtig nahm er einige Krümel von dem trockenen Tabak, der noch in der Dose war, ließ sie auf ein Blättchen Papier rieseln, drehte es sorgsam zusammen, be­feuchtete den Klebestreifen mit seiner Zunge und zündete sich die Zigarette an. Er rauchte nicht viel, nur wenn ihm langweilig war. Eigentlich war ihm immer langweilig, aber er rauchte trotzdem nicht allzu viel. Das hatte er nie getan, auch wenn er manchmal gewollt hätte. Aber Johanna mochte es nicht. Dass es in der ganzen Wohnung nach dem Kraut stinken würde, hatte sie immer gesagt, und dass sie den Gestank niemals aus dem Teppich und aus den Gardinen herausbekommen würde. Darum rauchte er immer nur wenig, oft auch draußen auf dem Balkon. Wenn die Sonne schien.
Als er die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand er wieder auf, ging zum großen Fenster, dann in die Küche. Auf dem Herd stand das Essen, das Tobias mitgebracht hatte. Der Alte musste es nur noch aufwärmen.
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging wieder zurück zum großen Fenster.
Aus der Wohnung über sich hörte er Geräusche. Etwas polterte auf den Boden, die Stimme eines Mannes, laut, aggressiv. Dann die einer Frau, kreischend. Der Alte kannte diese Leute nicht. Aber er hörte manchmal, wie sie sich stritten. Und dann glaubte er auch, dass der Mann die Frau schlug. Es ging ihn nichts an. Er hatte Johanna nie geschlagen. Es gab auch nie einen Grund dafür. Sie war eine gute Frau gewesen. Und er ein guter Mann.
Er ging wieder zurück in die Küche, schaute aus dem Fenster. Unten auf der Straße sah er einige Leute. Sie hasteten über den Bürgersteig. Er sah Arbeiter mit gelben Schutz­helmen. Drüben an einem der dunklen Hafenhäuser aus Backstein hing eine große Uhr. Sie verriet ihm, dass der Tag auch wirklich verging.
Nach dem Mittagessen legte er sich auf die Couch. Er war müde. Meistens hielt er seinen Mittagsschlaf bis zum Abend. Dann schaltete er den Fernseher ein, bis er wieder müde wurde und ins Bett ging. Früher, als Johanna noch lebte, hatten sie gar keinen Fernseher gehabt. „Was haben wir damals nur gemacht?“, murmelte er, während er an die Decke blinzelte. „Wir hatten doch keine Langeweile.“
Er erinnerte sich, dass sie manchmal Scrabble gespielt hatten. Oder sich einfach nur unterhalten. In beidem war Johanna gut gewesen: Beim Scrabble erfand sie ganz neue Worte, und er hatte nie beweisen können, dass es so etwas wie „Yaxmal“ oder „Irdenland“ nicht gab. Darum hatte sie meistens gewonnen. Wenigstens dabei.
Wenn sie sich unterhalten hatten, behielt meist er das Oberwasser. Da machte ihm keiner so schnell etwas vor, nicht beim Reden. Aber verloren hab ich dann am Ende ja doch, dachte der Alte. Dich.
Irgend etwas machte ihn nervös. Es war, als würde er auf etwas warten, ohne zu wissen, worauf. Ob er Besuch bekommen würde? „Ach was! Wer soll mich denn besuchen?“
Vielleicht würde Stefanie heute kommen. Dann würde er endlich den kleinen Benjamin kennenlernen. Aber warum sollte sie heute kommen? Wenn sie kommen würde, dann hätte sie doch angerufen. Vielleicht wollte sie ihn überraschen?
Verärgert stemmte er sich hoch, schlurfte in den Flur und nahm sich die Zeitung von der Kommode. Wie immer blätterte er zuerst die Seite mit den Todesanzeigen auf. Er las die Namen, schaute, ob er einen davon kannte. Aber es war niemand dabei, den er einmal gekannt hatte. Noch nie hatte er einen bekannten Namen entdeckt. „Ob die alle noch leben?“, fragte er sich.
Vom Lesen tränten seine Augen. Er legte sich wieder hin, rückte das Kissen zurecht. Einen Moment ausruhen, dachte er, dann war er eingeschlafen. Einfach so …
Tobias hatte an den Tabak gedacht. Als er klingelte, öffnete ihm niemand. Zum ersten Mal benutzte er den Schlüssel. Der Geruch von abgestandener Luft und kaltem Rauch kam ihm ent­gegen. Wie immer.
„Herr Krawitz, ist alles in Ordnung?“, rief er im Flur. Er bekam keine Antwort.
Im Wohnzimmer fand er den Alten. Er lag auf der Couch, als würde er schlafen. Seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht blass. Neben ihm auf dem Boden lag zerknittert die Zeitung von gestern, im Aschenbecher ein kalter Zigarettenstummel.
Tobias nahm den alten Schuhkarton aus dem Schrank, zog den Brief der Tochter hervor. Jemand musste sie informieren. Sie hatte zu lange mit ihrem Besuch gewartet.
Er fand das alte, abgegriffene Bild von Johanna in ihrem Matrosenkleid vor der gemalten Berglandschaft. Lange betrachtete er es, dann steckte er es ein. „Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr Krawitz. So kann ich mich besser an Sie erinnern.“
Er ging in den Flur, wo das Telefon stand. Vor dem altmodischen Spiegel unter der unbenutzten Hutablage blieb er stehen. „Deine Haare sehen weibisch aus“, meinte er eine mürrische Stimme zu hören.
„Warum?“, fragte Tobias frech.
„Einfach so …“
Die Luft war feucht und grau, als die Männer den Blechsarg in ihren schwarzen Wagen schoben. Tobias stand daneben und schaute ihnen zu. In der Hand hielt er eine große Plastiktüte, die fast voll war mit steinharten halben Brötchen. Es waren nur die unteren Hälften.
 

Rafi

Mitglied
Danke, Ciconia – natürlich hast Du recht, da hat mich der Teufel der Unaufmerksamkeit gebissen. Klar muss es Johanna heißen und nicht Franziska (ich war mir anfangs noch nicht so ganz im Klaren über die Namen …). Wird geändert, ebenso die Absätze ;-)

Herziblatti: Vielen Dank für Deine positive Kritik. Und die Bezeichnung „Gold“ (wenn auch ein verschenktes …) finde ich in diesem Zusammenhang natürlich „Gold wert“.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Rafi, sprachlich hat mir dein Einstand hier ganz gut gefallen, aber die Geschichte scheint in einer völlig anderen Zeit zu spielen. Eine Frau als 'gut' zu bezeichnen, nur weil sie 'klaglos' und 'fleißig' ist? Ich weiß nicht. Da sträubt sich in mir was. Das schmeckt mir so nach Aufbaujahre. Als dein Paar sich das Jawort gegeben hat, muss es so um 1970 gewesen sein. Also; Stones, Sex, unerlaubte Substanzen und all das Zeug. Damals sicher nicht Jedermanns Sache, aber heute doch schon fast Mainstream. Denke mal, dass selbst Senioren nun im dritten Jahrtausend angekommen sind.
LG Vagant
 

Rafi

Mitglied
Danke, Vagant, für Deine Beurteilung. Aber wie kommst Du darauf, die Geschichte müsse heute spielen? Vielleicht – das mag ein jeder sich denken, so er will – handelt sie ja gerade in den von Dir beschriebenen 70er-Jahren. Davon abgesehen: Ich glaube nicht, dass heute jeder Senior automatisch einem Mainstream, bestehend aus Sex and Drugs and Rock'n'Roll folgt. Sowenig jeder 70-Jährige seine Selbsterfüllung im Basejumping findet oder darin, mit der Harley um die Welt zu reisen, um mal all seine Facebook-Kontakte persönlich kennenzulernen.
Ich finde, eine Erzählung – gleich welchen Genres – muss nicht unbedingt in der aktuellen Zeit spielen, muss nicht einem sprachlichen oder inhaltlichen Mainstream folgen und schnodderig geschrieben und in der Partyszene des nächtlichen Berlin angesiedelt sein.
Ich gebe zu, dass „Halbe Brötchen“ ein wenig altbacken (;-)) und vielleicht auch ein bisschen zu nostalgisch, wenn nicht „verstaubt“ rüberkommt. Einen Nachteil jedoch sehe ich gerade darin nicht.
Trotz allem jedoch noch einmal: ganz lieben Dank dafür, dass Du‘s gelesen und dass Du deine Gedanken darüber mit mir geteilt hast.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
aber die Geschichte scheint in einer völlig anderen Zeit zu spielen.
Eine merkwürdige Argumentation, die Vagant da bringt und die ich bei einem meiner Texte auch schon mal gehört habe.

Es ist doch gerade das ein wenig Altmodische, Gemächliche, aus der Zeit Gefallene, das den Reiz dieser Geschichte ausmacht. Warum wird ein solcher Stil von einigen Lesern hier immer wieder bemängelt?

Gruß Ciconia
 

Rafi

Mitglied
Ganz meine Meinung, Ciconia. Ich hab ja schon ein bisschen meiner Ansichten dazu in der Antort geschrieben …
 

Vagant

Mitglied
Hallo Rafi, hallo Ciconia; Ciconia, wo liest du eine Kritik am Stil? Also bitte schön; Augen auf beim Lesen!
Zum 'gemächlichen' Stil, der hier wunderbar zum Plot passt, habe ich keine Silbe verloren.
Es ist die Denkart des Protagonisten, der mit diesem Satz (die Frau war gut, weil klaglos und fleißig) die Sympathie, die er bis dahin bei mir hatte, unnötig verspielt hat.
Ich denke nicht, dass der Autor dies damit beabsichtigte.
Rafi, Ich denke, dieser Satz ist nicht so wichtig für die Geschichte. Sie würde mir halt ohne ihn besser gefallen. Zum andern meine ich, dass hier mit 'gut', 'klaglos' und 'fleißig' auf engstem Raum zu viel behauptet wird, und zu wenig gezeigt.
Vagant.
 
U

USch

Gast
Hallo Rafi,
eine Geschichte, die gut geschrieben besinnlich daherkommt. Ein gelungener Einstieg in die LL. Doch jede Geschichte ist immer noch verbesserungsfähig. Da fängt die Arbeit erst an.
Zu der Bemerkung
Zum andern meine ich, dass hier mit 'gut', 'klaglos' und 'fleißig' auf engstem Raum zu viel behauptet wird, und zu wenig gezeigt.
von Vagant:
Da könntest du z.B. noch dran arbeiten. So banal muss es nicht gesagt werden. Schöner und literarischer wird´s, wenn du es etwas ausführlicher beschreibst, die Charakterisierung durch eine Handlung verdeutlichst. Z.B. Die Frau ist nicht einfach nur klug, der Leser möchte sehen, wie sie etwas Kluges sagt oder tut.

LG USch
 
Hallo Rafi!

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Insbesondere Deine Fähigkeit, die persönliche Sehnsucht des Protagonisten so auszudrücken, wie sie einerseits kaum alltäglicher sein könnte, gleichzeitig aber einzigartig ist.
Ich finde es immer wieder ansprechend, wenn jemand gekonnt beschreiben kann, wie ein noch so einfaches Objekt (wie halt ein Brötchen, oder auch nur eine Hälfte davon) nur der Definition nach für alle das ist, was es scheint, in Wirklichkeit aber so viele unterschiedliche Bedeutungen haben kann, wie individuelle Erinnerungen damit verbunden sind.
So würde auch der graue Himmel als Polychromie erscheinen, würde er die Gefühle der Menschen widerspiegeln, die ihn betrachten.

Schöne Grüße!
Raphael.
 

Rafi

Mitglied
Hallo, USch – ganz lieben Dank für Deine Kritik. Allerdings finde ich gerade das Knappe im Gedanken des Alten reizvoll. ER denkt so – der Rest der Welt vielleicht nicht. Dass seine Frau klug war, zeigt sich unter anderem daran, dass sie bei Scrabble-Spiel ihren Mann mit neu erfunden Worten überraschte und immer gewann. Sie zog offensichtlich die Tochter groß, kümmerte sich um den Haushalt, kochte Kaffee … für den Alten war sie schon dadurch fleißig. SEINE Gedanken sind es, mehr muss er im Rekapitulieren seines Lebens nicht mehr darüber denken. Er ist vielleicht ein ganz einfacher Mann, für den diese Attribute in der Erinnerung ausreichen, um seine Frau ganz schlicht als „gut“ zu empfinden. Die Behauptungen in diesem einen Satz werden meiner Meinung nach durchaus in der Erzählung an anderen Punkten bestätigt. Wie klänge es wohl, würde ich schreiben „Sie war eine kluge Frau, weil sie im Scrabble gewann. Und fleißig war sie, weil sie Kaffee kochte, wenn auch einen zu dünnen …“ Meiner Meinung nach wäre eine solch direkte Erklärung (quasi mit dem Holzhammer ins Auge des Lesers gedroschen) zu flach, zu banal. Dies ist allerdings natürlich nur meine Meinung, eine jede andere sei gerechtfertigt :)


Hallo, Raphael. Vielen Dank für Deine Beurteilung. Ich bin absolut Deiner Meinung, ich erkenne Verstehen und Verständnis in Deinen Worten. So, wie Du es beschreibst, war es von mir gemeint.
 
U

USch

Gast
Hallo Rafi,
nichts für ungut, dann lass´ den Satz doch einfach weg. Aber so wichtig ist es nicht im Rahmen einer Erzählung.
LG USch
 

Rafi

Mitglied
Eigentlich ein guter Tipp, USch. Sätze, die man weglassen kann, ohne dass dann etwas in der Geschichte fehlt, sind ohnehin unnötig. Danke Dir … :)
 

annagreta

Mitglied
Hallo Rafi, habe Deine Geschichte einfach gern gelesen und konnte mich gut hineinversetzen. Wie geht sie wohl zu Ende? LG annagreta
 



 
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