Erinnerung

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Karinina

Mitglied
Villa Thorwaldsen

Ende der Fünfziger Jahre wohnte ich im Mädchenstudentenwohnheim auf der Schillerstr. 12.

Die Villa Thorwaldsen lag in einem ansteigenden parkartigen Anwesen unterhalb des Ardenneschen Areals, und vom sogenannten Eulennest, einem viereckigen Turmzimmer mit einem großen runden Fenster, konnte man weit über das Elbtal und in die Stadt hinein- und drüben die Höhenzüge des Vorgebirges je nach Jahreszeit in den verschiedensten Farben vor den bläulichen Bergen in der Ferne sich darbieten sehen.
In der Villa Thorwaldsen befand sich ein großes Treppenhaus mit weißen Marmorstufen und einem polierten Holzgeländer bis hinauf in den zweiten Stock, über dem sich eine Kuppel aus matten Glas befand, durch die tagsüber ein weiches Licht fiel , in dem die seitlichen Gänge zu den Zimmern der Mädchen sich im Halbdunkel verloren und das schöne Holzpaneel an den Wänden wie Ebenholz schimmern ließ. Die weiß geflieste Küche, in der wir Mädchen unsere bescheidenen Abendessen selbst zubereiten konnten, war im Souterrain. Kam man die Treppe herauf und ins Erdgeschoss ging es gerade zu in den holzgetäfelten Musiksaal, der sich nach einem Wintergarten und seitlich zu einer großen Sommerterrasse öffnete. Wenn an den warmen Sommertagen die Sonne über die großblättrigen Bäume des Parkes hinweg durch den Wintergarten in den Saal hineinfiel, lag alles in einem hellen grünen Licht, in dem die Schattenbilder der sich ständig in Bewegung befindenden Äste, Zweige und Blätter auf dem glänzenden Parkett ihr unruhiges Spiel trieben.
Ich liebte dieses Haus, ich liebte es noch mehr, als wir im letzten Jahr unserer ABF- Zeit zu dritt hinauf in das Eulennest ziehen durften. Wir fühlten uns wirklich wie in einem Nest, denn das Zimmer hatte nur dieses eine große runde Fenster nach der Elbe zu und eine schmale Tür zu einer engen Holztreppe, die wiederum durch eine unscheinbare Tür im zweiten Stock in das Treppenhaus hinein führte.
An den Wochenenden war ich häufig allein. Im ganzen Haus war dann Ruhe. Manchmal spielte eine Lehrerin, die zwei kleine Zimmer im rechten Flügel des Hauses bewohnte, im Musiksaal Klavier. Dann saß ich oben bei geöffneten Türen in unserem Zimmer am Fenster, sah hinunter auf das jenseitige Blasewitzer Elbufer mit den weiten Grasflächen und den in weitläufigen Gärten liegendenVillen, die sich am Käte- Kollwitz- Ufer bis hinein nach Johannstadt aneinander reihten. Ich hörte das Klavierspiel durch das Treppenhaus hallen, manchmal hörte ich entferntes Türenschlagen, sanfte Geräusche im Haus, Ziehen, Streichen und das Aufrauschen und Abflauen des Windes in den Baumkronen, und ich ließ mich fallen in diese merkwürdige Einsamkeit, die durch die Zimmer und Gänge des Hauses wanderte, an Türen stieß, durch die Fenster flutete und voller nie gehörter Töne war. . .
Im Winter, wenn der Schnee abends still hernieder fiel und im Licht der Laternen im Park funkelte, wenn er die Zweige der Bäume bedeckte, die Geräusche der Autos erstickte und mit sanfter Gewalt über das ganze Elbtal hinwegzog und zum Gebirge zu wie in der Ferne verschwimmender Nebel dahinglitt, war die Stille im Haus oft so eindringlich, dass sie mich an meine Kindertage unter der großen Eiche erinnerte und ich Lust verspürte, aufzuschreiben, wie sich mir langsam die „ Mysterien des Lebens“ erschlossen hatten.

Wenn ich nicht allein war, dann gingen wir freitags und sonnabends drüben am Blasewitzer
Elbufer in den Schillergarten zum Tanz. Der Schillergarten war beliebt unter den Studenten der damaligen TH Dresden, denn hier spielten zum Tanz einige Mitglieder von Günter Hörigs Tanzsinfoniker, die gerade anfingen bekannt zu werden. Eine Eintrittskarte zu bekommen war Glückssache. Wenn ich mich richtig erinnere, so standen die Studenten donnerstags nachmittags bis vor zum Schillerplatz an, um Karten zu ergattern.
Aber in der Stadt der Technischen Hochschule waren Mädchen in der Minderzahl, und so gelang es uns meistens, Einlass zu bekommen. Es gefiel uns gut im Schillergarten, in den Tanzpausen konnte man im Sommer in den spärlich beleuchteten Gastgarten treten, sich an die Sandsteinmauer lehnen und auf das schnell dahinziehende Wasser der Elbe blicken, in dem sich die Lichter von beiderseits der Ufer spiegelten. Die Brückenbögen des „Blauen Wunders“ wölbten sich schwarz über den Fluss, O- Bus und Straßenbahn ratterten darüberhin bis weit in die Nacht hinein. Von den jenseitigen Loschwitzhöhen leuchteten die Lichter vom Louisenhof herab, in dem die betuchteren Leute ihren mondänen Vergnügungen nachgingen.
Oder man zog sich in das für damalige Zeiten noch etwas ungewohnte Mysterium „Bar“ zurück, wo man in weichen Sesseln an niedrigen Tischen oder aber am Tresen auf den hohen runden Barhockern sitzen und unter dem Muschepupu-Licht der dämmrigen Barbeleuchtung „Prärieauster“, „Manhattan“ oder aber von jenem verhängnisvollen Wermutwein schlürfen konnte, der auch als „Bretterknaller“ bekannt war und dessen Folgen vor allem am nächsten Morgen nur mit Eisbeuteln auf der Stirn zu bekämpfen waren.

In jener Bar bin ich eines nachts Karl begegnet. Karl war der Chef vom Schillergarten und weitaus älter als ich. Wie es dazu kam, dass ich mich am nächsten Morgen trotzdem auf seinem Sofa wiederfand, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Karl lud mich zum Mittagessen ein, ich lehnte ab. Ich hatte Grund dazu. Ich war neunzehn, aber das Essen mit Messer und Gabel hatte ich noch nicht erlernt. Das war weder in der Gesindestube auf dem Bauernhof, noch später im Hause meiner Großmutter üblich gewesen. In der Mensa versuchte ich mehr schlecht als recht damit fertig zu werden, aber unter den kritischen Augen eines Gastwirts... nein, das traute ich mir nicht zu.
Als ich es ihm schließlich auf sein Drängen hin bekannte, lachte er und sagte: „Ich kenne wenig, die ordentlich „speisen“ können, glaub mir das, diese Neureichen heutzutage bilden sich das sowieso nur ein. Wenn du ihnen was von Tafelspitz erzählst, dann denken sie, dein Hund liegt unterm Tisch.“

Und so führte Karl mich eines sonntags in die Küche des Schillergartens zum „Essen“ aus.
Ein junger Kellner servierte uns den Wein. Er blinkerte vergnügt und langbewimpert, als er sah, wie ich mein Gesicht verzog beim ersten Schluck. Weißwein, grünlich golden schimmerte er im Glas, verführerisch, und während Karl genussvoll mit der Zunge schnalzte, war es mir, als hätte ich ausversehen Essig getrunken. Also das war nichts für mich. Und noch weniger, als der junge Mann sich hinter mich stellte, meine Hände umfasste und langsam mit mir das Handhaben von Messer und Gabel zelebrierte.

Was mag er sich wohl gedacht haben über diese junge Gage, die sich von dem alternden Galan mit den schon angesilberten Schläfen zum Essen ausführen ließ?
Karl war unerbittlich. Irgendwann habe ich alles gelernt, was mit „Speisen“ zu tun hatte. Nur an den Wein habe ich mich nicht gewöhnt, ich durfte schließlich bei klarem Wasser bleiben. Und dann kam der Sonntag Mittag, wo er mich in das Hotel „Waldpark“ führte und „Tafelspitz“ mit feinem Wurzelgemüse servieren ließ. Er lobte mich und seither fühlte ich mich wohl an seiner Seite, wo immer es auch war.

In den Wintermonaten fanden im großen Saal des Hygienemuseums die Studentenkonzerte statt.
Als ich das erste Mal Karl dazu einlud, machte er wieder seine ironischen Bemerkungen über die „halbgebildeten Plebse, die Schweinetreiber und Holzlatschenjunker“. Aber ich wusste schon, er war neugierig auf diese „Plebse“, mit denen ich die Schulbank drückte, und außerdem auch etwas geschmeichelt, ausgerechnet mit einem so jungen Mädchen in so einer Gesellschaft gesehen zu werden.
Es war die „Leningrader Sinfonie“ von Schostakowitsch, und wie immer man dazu auch stehen mochte, es war einfach gewaltig. Und auch für Karl muss es gewaltig gewesen sein, denn lange nachher noch war er still, keine dreiste Bemerkung entschlüpfte ihm.

Als wir uns zum Ende des Sommers, ehe ich zum Studium ging, getrennt haben, sagte er zu mir:
„Ich hab jetzt das Dessert genossen, aber es wird Zeit für mich, erst einmal an das Hauptgericht zu denken.“
Karl war geschieden, er hatte zwei Kinder. Ich wusste, er wollte wieder heiraten, aber es fiel mir schwer, mich mit der Trennung abzufinden. Mehrmals habe ich versucht, ihn zurück zu bekommen, ich schrieb ihm, dass ich nach Hause käme, er solle doch Theaterkarten besorgen und mich vom Bahnhof abholen. Er kam nie. Einmal schrieb er mir, dass ausgerechnet das Konzert es gewesen sei, was ihm gezeigt habe, dass ich einer anderen Generation angehören würde und zwischen uns eigentlich eine ganze Welt, ja vielleicht der Krieg gelegen habe.
Ich weiß nicht, ob ich wirklich mein Leben mit ihm hätte verbringen wollen, aber damals schien es mir doch ein bitterer Verlust zu sein, vielleicht hatte er mir ja auch nur den Vater ersetzt, den ich nie besessen hatte...

Am Käthe- Kollwitz- Ufer gab es in einer dieser luxuriösen Villen die „Kaskade“, auch eine von den neuartigen Bars, die aber, heute sage ich leider, für uns tabu war. Wir waren sogenannte anständige Mädchen, und die „Kaskade“ war berüchtigt. Hin und wieder fanden dort Razzien statt, dann wurde das Etablissement geschlossen, um etwas später als „Lipsi- Bar“ wieder eröffnet zu werden. Weder dort noch im sogenannten „Heuboden“ am Schillerplatz bin ich je gewesen, ich kann gar nicht sagen, warum nicht, es hat sich einfach nicht ergeben.

Dafür aber gingen wir Mädchen aus der Villa Thorwaldsen gerne ins Kino am Schillergarten.
Dieser klassizistische Bau hatte ursprünglich als Eishaus für die Gaststätte gedient. Seit wann es Kino war, wussten wir nicht, modern jedenfalls war es nicht, im Gegenteil. Altes Gestühl, muffige, feuchte Luft, im Sommer allerdings angenehm kühl, im Winter nur mit Pelz und Decken erträglich. Trotzdem liebten wir es. Ach, was haben wir für Filme gesehen. „Der Idiot“ zum Beispiel, „Die Kraniche ziehen.“, „Karussell“, und natürlich auch „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ mit der jungen Romy Schneider, die so jung war wie wir und genauso töricht.

Ein wahrhaft lukullisches Vergnügen, das wir uns aus finanziellen Gründen selten leisten konnten, war ein Besuch im Cafe „Toscana“. Hier schwelgten wir an den Tagen, an den es Stipendium gab, oder aber an Ultimo, nämlich dann, wenn tatsächlich noch 5 Mark vor dem Ersten übrig waren und es gerade kein Buch mehr geschafft hatte, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.

Natürlich gingen wir auch hin und wieder in die damals noch „Neue Mensa“ in der Mommsenstraße.
Immerhin spielte dort mitunter eine Band, die heute weitaus bekannter ist als damals: Die „Elb- Meadow- Ramblers“. Dixi natürlich. Und pur und zum Anfassen.

Obwohl es für uns auch günstig gewesen wäre, ins Parkhotel auf den „Weißen Hirsch“ zu gehen, kann ich mich an dortige Tanzvergnügen nicht erinnern, nur das Kino hatte einen gewissen Charme. In diesem Kino habe ich einen der für mich eindrucksvollsten Filme gesehen: „Trotta“, nach einem Roman von Joseph Roth, der lange mein Lieblingsautor war. Allerdings muss dieses Filmerlebnis in einer viel späteren Zeit gewesen sein. . .

Im Sommer endeten die Tanz- oder Kinoveranstaltungen nicht selten im hohen Gras in den Elbwiesen. Die dunklen Himmel über dem Wasser, die noch dunkleren Loschwitzhänge gegenüber, die feuchte Kühle im Gras gegen Morgen, das durchscheinende Grün im Osten, ehe das erste Rosa hervorbrach, die unruhige Stille der Nacht, das Plätschern im Wasser, die Straßenbahnen, die ihre Runden fuhren und, fast schon Tag, das beginnende Leben auf den Straßen zur Brücke zu.

Oder der Weg nach Hause, über die Brücke gingen wir barfuss, denn mit den hohen Pfennigabsätzen blieb man zwischen den Holzbohlen des Fußweges neben der Fahrbahn hängen. Dann die Schillerstraße, die steilen, moosbewachsenen Sandsteinmauern, hin- und wieder unterbrochen von den Portalen , die zu den höher gelegenen Villen führten, das Hallen der Absätze auf dem Pflaster, das Rauschen der großen Bäume oberhalb der Mauer in den Parks darüber, der unwiderstehliche Elbgeruch, der mit dem kühlen Hauch vom Wasser heraufzog, oder der süße Lindenblüten- und Fliederduft im Mai, im späteren Sommer der Jasmin. . .

Im Sommer 1961 verließ ich die Stadt und die Villa Thorwaldsen. Ich habe andere Städte und andere Landstriche gesehen. Warum ich mich immer noch erinnere?
Es war das unbeschwerteste, das schönste Stück meines Lebens...
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Karinina,

beim "Stöbern" habe ich diesen interessanten Text eben entdeckt.
Sehr gern gelesen.

Liebe Grüße
HelenaSofie
 



 
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