Erinnerung, schmerzhaft, arm an Emotion

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Candice

Mitglied
Jetzt kann ich das. Situationen durchstehen ohne so total davon betroffen zu sein, so, daß nichts anderes mehr gleichzeitig geschehen kann.
Früher war das sehr schwer für mich, mit früher meine ich vor ungefähr dreißig Jahren. Mode kann Emotionen auslösen, Brillengestelle zum Beispiel. Die, mit denen die jungen Männer sich den besseren Durchblick verschaffen wollen, die Intellektuellen, nicht die Handwerker oder Sparkassenangestellten, die schauen wieder so aus wie damals.
Und dazu kommt noch, daß ich wieder einmal mit der Tram unterwegs war. Da stieg also ein junger Mann mit einer kastenförmigen, schwarzen Brille ein.
Das hat mir in dem Moment noch nicht besonders viel ausgemacht, ich glaube nur gedacht zu haben, daß ich solche Brillen schon immer häßlich fand.
Mir fiel erst viel später, genaugenommen vor einer halben Stunde, wieder ein, was es mit der Tram und diesen Brillen auf sich hat.
Ich war elf Jahre alt, fuhr jeden Morgen mit der Linie 9

zur Schule. Mit mir stieg ein junger Mann mit Brille ein.
Jeden Morgen. Die Tram war um diese Zeit gesteckt voll. Es fiel niemandem auf, wenn der junge Mann dicht hinter mir stand, mir vier Stationen lang seinen steifen Schwanz in`s Kreuz drückte und unbeteiligt aussah.Wie ich aussah weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich stumm war, starr vor Ekel und Angst, daß ich manchmal auf dem Weg zur Haltestelle mein Frühstück auf das Trottoir kotzte.
Ich habe niemandem davon erzählt. Wenn ich im Klassenzimmer saß, war mein Kopf nicht bei der Sache, mein Körper verspannt, meine Zunge taub.
Meine Mutter war traurig wenn sie vom Elternsprechabend nach hause kam, da die Lehrer mich zwar für intelligent aber unaufmerksam hielten. Ein Jahr später, nach den Sommerferien war der junge Mann nicht mehr da. Ziemlich sicher denkt er nicht mehr an mich, auch ich denke nur selten an ihn, außer wenn ich Tram fahre und die momentane Brillenmode so häßlich ist.
 
Hallo Candice!


Deine kleine Szene hat durchaus schöne Ansätze. Mir gefällt es, dass sich das Thema auf das Brillentragen konzentriert und die Brille Auslöser der (beklemmenden) Erinnerung ist. Man hätte die Brille, das, was sie ausmacht, noch näher beschreiben und akzentuieren können. Hier und da Satzbau und Kommasetzungen überarbeiten bzw. überprüfen.

Ein Problem sehe ich in der Glaubhaftigkeit der Bedrängungsszene in der Tram. Man kann sich vorstellen, dass so etwas einmal, zweimal passiert. Aber ein Leser wird nun denken, dass eine Tram nicht eben klein ist und es wohl auch für die Protagonistin des Textes eine Reihe von Möglichkeiten gibt, nicht immer ausgerechnet da zu stehen, wo der Herr mit Brille ihr seine Erektion in den Rücken drückt. Solche Vorkommnisse, das bestreitet wohl niemand, sind traurig, ja erschreckend und verdienen öffentlich gemacht zu werden.

Im Falle deines Textes frage ich mich aber eben, hat das Mädchen keine Freundinnen, mit denen es unterwegs ist? Dadurch ergeben sich doch ständig neue Konstellationen. Mal gibt es doch wohl auch einen Sitzplatz. Ein Tramwagen ist ziemlich lang. Manche Trams – gerade zu Hauptverkehrszeiten – haben auch mehrere Wagen. Dass der Mann jedes Mal ausgerechnet so direkt hinter ihr steht, entspricht nicht der Wahrscheinlichkeit – jedenfalls kommt es so nicht rüber -, sondern nur der Intention der Erzählerin hier eine wiederkehrende Situation zu konstruieren.

Es wäre eine Überlegung wert, ob man nicht die Szene um einen „einmaligen“ Vorfall herum gestaltet. Das kann genauso eindringlich sein. Und es wirkt am Ende glaubwürdiger.

Was das Stilistische angeht, hier beispielhaft ein Satz, an dem man feilen könnte.
Mit mir stieg ein junger Mann mit Brille ein.

An diesem Satz hadere ich mit dem Klang, das doppelte "mit mir" / "mit Brille" in dieser Kürze. Ich finde ihn auch fast zu knapp, denn dieser Satz ist ja fast ein Schlüsselsatz der gesamten Szene und eben ein heikler Punkt, weil hier die Frage sich stellt, was heißt „mit mir“. Der Satz könnte ein wenig mehr Fleisch haben, etwa so nur als Verdeutlichung: An derselben Station stieg zur selben Zeit (jedes Mal) ein junger Mann ein, der eine schwarze Brille trug.

Ach, und noch eine Kleinigkeit: Es wirkt so, als sollten in deinem Text gerade auch Intellektuelle besonders ins Visier genommen werden: Es ist also eine Brille für „die Intellektuellen, nicht die Handwerker oder Sparkassenangestellten“.
Nun ja, wenn das denn so ist... Mir scheint, dass nicht nur Männer, sondern auch junge Frauen solche schwarzen Brillen tragen, die einen hübschen Kontrast zum feineren Gesicht bilden. Eine Mode, die auch schon fast wieder vorüber ist.

Alles in allem: Eine von der Idee her gute Szene, die viele Ansätze zu einer überzeugenden Ausgestaltung bietet.
Beste Grüße

Monfou
 

Candice

Mitglied
Hallo Monfou Nouveau,
ich freue mich sehr über deine lange Antwort und die Gedanken, die du dir zu meinem Text gemacht hast. Befinde mich gerade am Anfang eines Weges, so als hätte ich eben erst laufen gelernt, und wage mich mutig hinaus in die Welt. Also, vielen Dank nochmal, ich habe jetzt wieder neuen "Rohstoff zur Erleuchtung".
Candice
 

gareth

Mitglied
Hallo Candice,

ich hab es jetzt sehr viel einfacher als Monfou, dessen sauberer Analyse ich mich einfach anschließen kann. Mir gefällt Deine Sprache und ich würde mich freuen, wenn Du den zweifels- und arbeitsreichen Weg des Schreibens weitergehst und es bald mehr von Dir zu lesen gibt

Freundliche Grüße
gareth
 

Candice

Mitglied
Hallo gareth,
tausend Dank für die ermutigenden Worte.
Ich werde mir Mühe geben, die in mich gesetzte Hoffnung zu erfüllen...
Ich habe auch noch millionsiebzehn Ideen im Köpfchen.
Candice
 
I

IKT

Gast
Mir gefällt Deine Art zu schreiben. Ich habe mir, nachdem ich die anderen Komm. gelesen habe, das Ganze nochmals durchgelesen. Meine Gedanken: Vielleicht war es ein ein - oder zweimaliger Vorfall. Aber als Kind empfindet man so etwas wohl noch viel intensiver, schrecklicher. Dadurch kann es schon geschehen, dass man selbst dann glaubt, das Ganze sei mehrfach passiert.
Ansonsten kann ich mich eigentlich nur den vorhergehenden
Komm. anschließen.
VielSpaß weiterhin! IKT
 

Candice

Mitglied
Liebe IKT,
aus der Sicht eines Kindes gibt es noch viel mehr "immer" und "nie" als bei uns Erwachsenen, da hast du einen ganz entscheidenden Punkt erkannt. Das Interessante am Schreiben ist für mich- zumindest in diesem Augenblick- solche Einsichten zu gewinnen.
Ich danke dir sehr für deine Antwort, mit wahrhaft herzlichem Gruß, Candice
 



 
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