Erzählung

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para_dalis

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Die Anwaltsbrille

Die Anwaltsbrille

Brillen bilden Persönlichkeiten. Das ist nicht neu.
Manchmal können sie ihren Besitzer aber auch beherrschen- oder gar seinen Blick auf die Welt verändern,
wie eine nicht ganz frei erfundene Geschichte zeigt...

Paul Otto Schmolz war ein erfolgreicher Rechtsanwalt Anfang fünfzig.
Auffällig waren seine zynischen Züge, die ein fester Bestandteil seines Gesicht zu sein schienen.
Sein Gang war schleppend, seine schwarzen Anzüge, maßgeschneidert aus feinstem Stoff, saßen perfekt. Die blütenweißen Kragen seiner Hemden waren ohne die kleinste Falte und seine Krawatten jeden Tag exakt gebunden.
Sein schon etwas gelichtetes Haar, das einst füllig und dunkel gewesen war, trug er stets gleich frisiert. Und auf seiner Nase saß, wie schon sein ganzes Leben lang, die Anwaltsbrille, ein klassisch-konservatives Stück, das ihm ein stilsicheres Auftreten verlieh. Die Art und Weise, mit der Paul Otto seine Brille trug, ließ sie recht auffällig wirken; auf manche seiner brillenlosen Geschäftspartner wirkte sie sogar richtig aufdringlich. Und sie schien keinen Widerspruch zu dulden. Die perfekte Brille also für einen Anwalt, der allein durch seinen Ehrgeiz und das Streben nach Reichtum seinen Weg gefunden hatte. Der Tatsache, dass seine Brille die Welt in ein "davor" und ein "dahinter" teilte, war sich Paul Otto Schmolz durchaus bewusst. Denn als Sohn eines Optikers war er mit Brillen und ihren Besitzern aufgewachsen. Und auch sein Vater selbst hatte zeitlebens das Haus nie ohne seinen antiken Kneifer in Wiener Form verlassen. Nicht so sehr, um tatsächlich besser zu sehen. Sondern weil er erkannt hatte, dass solche Kneifer als äußeres Zeichen von Intelligenz und Wohlstand galten. Als Paul Ottos Vater verstarb, hatte er seinem Sohn jedenfalls eine durchaus respektable Sammlung seltener und ausgefallener Brillen hinterlassen. Doch so sehr in diese frühen Zeugen der Brillenmacherkunst immer wieder entzückten, wenn er sie in der eigens angefertigten Vitrine liegen sah- sie auch zu benutzen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Denn schon seit seinen Studientagen trug er immer seine massive schwarze Brille, ohne die sein Gesicht nicht einmal ihm selbst noch vorstellbar schien. Ob diese "Anwaltsbrille" seine Persönlichkeit geformt hatte oder er umgekehrt sein Leben nach dieser Brille ausgerichtet hatte, hätte er selbst nach so vielen Jahren kaum mehr sagen können; sie war einfach ein Teil seines Ichs geworden. Ihr galt der erste Griff am Morgen, noch vor dem aufstehen und der letzte abends beim Zubettgehen. Sie machte aus Paul Otto den erfolgreichen Rechtsanwalt Dr.Schmolz.
In jungen Jahren hatte er damit auch seine Gattin Marie Luise beeindruckt. Diese war eine eher unscheinbare, zurückhaltende Person, die schon als junge Frau immer deutlich älter gewirkt hatte als sie tatsächlich war, grau und farblos. Und mit der Leidenschaft ihres Gatten für Brillen konnte sie nie etwas anfangen.
Dabei hätte ihr seiner Meinung auch manches hübsche Stück aus seiner Sammlung wirklich gut zu Gesicht gestanden.
Doch Marie Luise vertrat den Standpunkt, dass diese Brillen einfach nicht zu den von ihr innig geliebten Häkelpullovern passen würden. Und außerdem wollte sie möglichst nicht auffallen. Wichtig war für sie allein das Wohlergehen und die Reputation ihres Gatten, stets gelang es ihr, ihn ins rechte Licht zu rücken und sich dabei selbst absolut zurückzunehmen, blass bis hin zur absoluten Unauffälligkeit. Und immer brillenlos.
Bei den Empfängen, die sie regelmäßig veranstaltete und bei denen nicht wenige der weiblichen Besucher die ausgefallensten Brillen trugen, stand sie regelmäßig im Schatten dieser - zumindest nach eigener Einschätzung - besseren Damen der Gesellschaft. Kaum jemand schien sie, die Gastgeberin, wirklich wahrzunehmen. Selbst Paul Otto hatte außer einem gelegentlichen gedankenlosen Tätscheln nichts mehr für sie übrig. Erlaubte sie sich dennoch, das Wort an ihren Gatten zu richten, brachte sein gönnerhaftes: "Na siehst du!" sie meist sofort wieder zum verstummen, nur als gespannte Zuhörerin diente sie ihm am Frühstückstisch, wenn er vermeintlich witzige Begebenheiten aus der Kanzlei erzählte und auf ihre lachende Anteilnahme wartete.
Bis zu jenem Sonntag Nachmittag, als Paul Otto schlief und sie - ohne genau zu wissen, warum - seine schwarze Brille aufsetzte, die er wie immer neben sich gelegt hatte. Mit einem Schlag sah die Welt anders aus, und als sie aus dem Fenster schaute, erschrak sie:
Kein Mensch schien mehr freundlich und nett zu sein, alle wirkten mit ihren verzerrten Gesichtern nur noch bedrückt und maskenhaft. Als sie sich danach selbst im Spiegel betrachtete, sah sie sich in ihrem grauen Häkelpullover, blass und farblos mit hängenden Schultern. Und ihre Gesichtszüge, die in Wirklichkeit harmlos und ein wenig nichtssagend waren, wirkten plötzlich bösartig und hässlich. Schnell setzte Marie Luise die Brille wieder ab. In ihr keimte ein schrecklicher Verdacht: War ihr Mann wegen seiner Brille so hart geworden? Hatte er sie all die Jahre so grau und farblos gesehen wie sie sich selbst gerade eben im Spiegel? Bilder aus gemeinsamen Kindertagen tauchten wieder auf, als er noch keine Sehhilfe trug. War sie wirklich mit dem gleichen Menschen verheiratet, mit dem sie damals unbeschwert gespielt hatte, bis sie eines Tages gemerkt hatte, dass sie eine tiefe Liebe mit ihm verband?
Einer plötzlichen Eingebung folgend beschloss Marie Luise, ihr Leben und das Bild, das ihre Umwelt von ihr hatte, zu ändern. Der Empfang für den neuen Landesgerichtspräsidenten an diesem Tag schien eine geeignete Gelegenheit zu sein, obwohl sie sich als Gastgeberin bei solchen Veranstaltungen immer bis fast zur Selbstverleugnung zurücknahm. Sie hatte das immer nur für die Karriere von Paul Otto getan; ihr selbst bedeutete der Austausch der immer gleichen Belanglosigkeiten mit den immer gleichen Menschen, von denen die meisten sich für die bessere Gesellschaft hielten, wenig bis nichts.
Doch heute fühlte sie sich beseelt von dem Wunsch, auf sich aufmerksam zu machen und endlich einmal als sie selbst wahrgenommen zu werden und nicht nur als die unscheinbare, stille Ehefrau des erfolgreichen Rechtsanwalts. Deshalb legte sie den blassen Häkelpullover, den sie bei solchen Gelegenheiten schon seit Jahren zu tragen pflegte, zurück in den Schrank und nahm statt dessen ein Kleid ihrer Mutter heraus. Sie hatte es all die Jahre sorgfältig gehütet und gepflegt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, es anziehen zu können. Dieser Tag war diese Gelegenheit! Das Kleid war aus lachsfarben Taft und eng tailliert. Marie Luises Brüste präsentierten sich darin, von einer fischbeinverstärkten Korsage hochgepresst, wie Früchte auf einer Obstschale. Ihre hochgesteckten Haare und der alte Schmuck ihrer Mutter passten perfekt dazu. Marie Luise erkannte sich damit selbst kaum wieder. Wie eine Königin schritt sie die Treppe zur Empfangshalle herab. Die meisten Gäste verstummten und sahen sie an. Ihren Gatten Paul Otto, der sie im ersten Moment nicht erkannt hat, schien jedoch das Entsetzen zu packen. Denn diese elegante Dame hatte nicht mehr viel mit der unscheinbaren Frau gemeinsam, als die man seine Gattin bei solchen Anlässen kannte. Paul Ottos Gesichtsmuskeln waren aufs Äußerste gespannt; sein Anwaltsgehirn suchte fieberhaft nach einer Erklärung der Situation, die den Gästen einleuchten würde. Doch selbst seine Brille half ihm in diesem Moment nicht weiter. Sie schaffte es einfach nicht, die Wirklichkeit zu verzerren und aus seiner Frau wieder das unscheinbare Persönchen zu machen, das er gewohnt war und mit dem er nach Belieben umspringen konnte. Nur ein kleines Lächeln huschte über Marie Luises Gesicht, als sie erhobenen Hauptes an ihrem Mann und den umstehenden Gästen vorbei in Richtung der Tür zum Park schritt, aber eigentlich blickte sie ihn gar nicht an, sondern an ihm vorbei. Kurz vor der Tür wurde sie von einem Mann aufgehalten.
Er war Anfang vierzig, groß und breitschultrig, und Marie Luise hatte ihn in ihrem Haus zuvor noch nie gesehen. Das Auffälligste an ihm war eine rosafarbene Brille mit auffallend großen runden Gläsern. Aber auch seine legere, dem Anlass nicht unbedingt angemessene Kleidung und ebenso seine langen, gepflegten Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, waren außergewöhnlich. Marie Luise fragte sich unwillkürlich, wie die Welt durch eine solche Brille wohl aussehen würde. Einfach rosa?
Oder vielleicht noch bunter als in Wirklichkeit? Der Fremde wirkte ruhig und ausgeglichen und gleichzeitig wie ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft von mehr oder minder gleich aussehenden Menschen.
Es brauchte keine Worte. Gern würde er sie irgendwohin fahren, einfach an ihrer Seite sein und ihren Worten lauschen, signalisierten seine tiefblauen Augen hinter den rosa Brillengläsern. Er könne ihr eine andere, schönere Welt zeigen, wenn sie ihn nur ließe. Dann nahm er seine Brille ab und hielt sie Marie Luise wortlos und leise lächelnd hin. Zögernd griff sie danach, setzte sie auf -
und ein Strahlen ging über ihr Gesicht. Zwar erkannte sie die Menschen um sich herum noch immer als ihre Gäste, aber plötzlich waren deren Eitelkeit und Boshaftigkeit wie weggeblasen. Ihre sonst scharfen und misstrauischen Gesichtszüge schienen sanft und freundlich. Selbst die schrillen Stimmen der Damen, mit denen diese sich beim Erzählen irgendwelcher Begebenheiten gegenseitig zu übertrumpfen versuchten und ihr künstliches Gelächter über nicht anwesende Dritte waren plötzlich zu einer gedämpft harmonischen Geräuschkulisse geworden. Der ganze Raum war ein Lächeln.
In diesem Moment wusste Marie Luise, dass sie nie mehr in Augen schauen wollte, die hinter den Brillengläsern einer schwarzen Anwaltsbrille verborgen waren wie hinter Panzerglas. Das dieses Haus, dieser Mann und all das Graue und Freudlose nie wirklich ihre Welt gewesen waren. Ihre kleine schmale Hand ergriff die Hand des Fremden, und ohne einen Blick zurück verließ sie mit ihm den Raum durch die Tür zum Park.
Sie
soll an der Seite dieses Mannes aufgeblüht und sehr glücklich geworden sein.

So sehr er sie übersehen hatte, als sie noch da war, so wenig überwand Paul Otto den Weggang seiner Gattin. Nach außen war er zwar immer noch der von allen Gegnern gefürchtete erfolgreiche Rechtsanwalt. Aber privat zog er sich mehr und mehr zurück.
Auch die Abendgesellschaften gab es bald nicht mehr.
Die Optiker der Umgebung wussten allerdings von einem namenlosen Unbekannten zu berichten, der über die Jahre immer wieder Brillen mit Gläsern in allen Farben des Regenbogens kaufte.
Ob Paul Otto Schmolz dieser Unbekannte war, weiß niemand so genau. Denn wenn er das Haus verließ, um zu seiner Kanzlei oder zum Gericht zu gehen, trug er immer nur das Objekt auf der Nase, das sein Leben in ein "innen" und ein "außen", in "schwarz" und "weiß" und in "gut" und "böse" zu teilen schien:
Seine schwere, schwarze Anwaltsbrille...

(c)heike hultsch
 

itsme

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Eine schöne Parabel über die individuellen Filter unserer Wahrnehmungen, lebendig erzählt, gefällt mir.

Ich weiß wie unbemerkt sie sich in Texte schleichen, die unschönen Hilfsverben. Oft lassen sie sich aber durch das Präteritum eines Verbs ersetzen. Schau dir doch mal die Häufigkeit von "war" und "hatte" an.

Grüßlinge
itsme
 



 
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