Extraausgabe

Raniero

Textablader
Extraausgabe

Hugo Hagedorn, der Leiter der Lokalredaktion einer überregionalen Tageszeitung mit übergroßer Auflage, traute seinen Augen kaum, als er mit dem Wagen auf dem Nachhauseweg in die kleine Seitenstraße einbog.
Diese Straße mündete nach einigen hundert Metern in einen kleinen Platz und dort hatte sich, so bemerkte Hugo aus der Entfernung, eine große Menschenmenge versammelt.
Es war in den frühen Abendstunden, an einem sonnigen Spätsommertag, und Hugo Hagedorn hatte sich ein paar Stunden freigenommen, um zu Hause einmal in Ruhe einige dringende private Angelegenheiten, die er schon seit längerer Zeit vor sich hergeschoben hatte, zu erledigen.
Selbstverständlich aber stand er in Rufbereitschaft, über Mobiltelefon, mit seiner Redaktion, für den Fall, dass eventuelle Neuigkeiten aus der lokalen, regionalen bis zur weltweiten Szene Handlungsbedarf oder Entscheidung seinerseits erfordert hätten, denn so ein Chefredakteur, sei es auch nur einer lokalen Zeitungsebene ist eigentlich immer im Dienst, das hat er mit hohen Vertretern einer Staatsregierung gemeinsam.
Hagedorn war nicht wenig verwundert über das, was sich vor seinen Augen im Hintergrund der Straße auf dem kleinen Platz auftat, glaubte er doch fest daran, zumindest über die planbaren und geplanten Maßnahmen auf den Straßen seiner Heimatstadt auf dem laufenden zu sein.
Typisch, dachte er sich, da nimmt man sich einmal ein paar Stunden Auszeit, einmal innerhalb von Jahren, und da ereignet sich etwas direkt vor seiner Nase, ohne dass er einen besonderen Riecher dafür gehabt hätte.
Es musste sich dabei um eine Demonstration handeln, eine nicht genehmigte, spontane Aktion, selbstredend, denn sonst hätten sein Team und er selbst ja davon etwas gewusst, im Vorfeld? Aber selbst wenn es eine solche war, so war er doch verblüfft darüber, dass es keinerlei Vorzeichen gegeben und nichts im Voraus darauf hingewiesen hatte.
Hagedorn stellte sein Fahrzeug auf dem Parkstreifen an der Straßenseite ab, denn es war ohnehin kein Durchkommen möglich, mit dem Auto; zudem war seine professionelle Neugier geweckt und er beschloss, die merkwürdige Versammlung einmal von der Nähe aus in Augenschein zu nehmen.
Vielleicht ergab sich daraus etwas Geeignetes für eine Extraausgabe, das wäre doch mal was, wie lange hatte seine Zeitung eine solche nicht mehr herausbringen können.
Bevor er jedoch den Wagen verließ, schaltete er sein Handy ein und wählte die Rufnummer seiner Redaktion; es konnte ja sein, dass bei den Kollegen irgendetwas hinsichtlich dieses Menschenauflaufes durchgesickert oder eingetroffen sei, eine Meldung der örtlichen Polizeistellen oder gar ein anonymer Anruf.
In der Redaktion jedoch lag nichts dergleichen vor; niemand hatte Kenntnis von einem Hinweis oder einer Benachrichtigung über eine unvorhergesehene Aktion in diesem Stadtbezirk.
Während er noch mit seiner Stellvertreterin telefonierte, wäre ihm fast das Mobiltelefon aus der Hand entglitten; die ersten Teilnehmer der Versammlung verließen den kleinen Platz und kamen ihm auf der Straße entgegen. Was ihn entsetzte, war die Tatsache, dass all diese Personen, männlichen wie weiblichen Geschlechtes, eine Zeitung in der Hand hielten.

Ein Extrablatt, dachte Hugo empört, aber nicht eine Extraausgabe meiner Zeitung!
In überaus scharfem Tonfall machte er sofort seine Stellvertreterin am anderen Ende der Leitung zur Schnecke, und schrie in den Hörer, wie es sein könne, dass die Konkurrenz ein Extrablatt herausbringe, während seine eigene Mannschaft offensichtlich den Druck eines solchen verschlafen habe.
Seine Stellvertreterin fand in der Tat keine Antwort auf das Geschrei ihres Chefs, und sie gab seine Unmutsäußerungen in gleichem Tonfall und gleicher Lautstärke an die übrigen Redaktionsmitarbeiter weiter.
Indem er weiterhin in sein Handy brüllte, stellte Hugo zu seiner Überraschung fest, dass alle die Personen, die dort mit den Extrablättern winkten, ausnahmslos der älteren Generation angehörten - keinen von ihnen schätzte er unter sechzig Jahre ein – und alle trugen sie einen glückseliges, fast entrücktes Lächeln auf den Lippen.
Handelte es sich gar um eine öffentliche Kundgebung einer Sekte, einer dieser heilsversprechenden und unheilbringenden Vereinigungen?
Hugo stieg aus seinem Auto und näherte sich vorsichtig einem dieser glückseligen Passanten und bat ihn behutsam, einen Blick in diese Extraausgabe werfen zu dürfen, nur zur reinen Information.
Bereitwillig reichte ihm der Entrückte die Zeitung.
Als Hugo das Blatt zur Hand nahm und einen Blick darauf warf, erlitt er einen Schwächeanfall.
‚Apothekenumschau‘ las er in dicken Lettern auf der Titelseite der Ausgabe.

Hugo erholte sich allerdings schnell von diesem Anfall, denn gottlob befand sich ja eine Apotheke in unmittelbarer Nähe, direkt an dem kleinen Platz, und der Inhaber dieser Apotheke, ein feinfühliger Mann sondergleichen, wartete bereits voller Anteilnahme auf ihn.
 



 
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