Extrem

Raniero

Textablader
Extrem

„Was machen Sie denn da, Mann? Kommen Sie sofort daraus!“ rief Rufus Schlottböhmer, der Schwimmeister des städtischen Freibades empört.

So etwas war ihm noch nicht untergekommen, in seiner langjährigen Laufbahn.
Für eine Minute nur, nicht länger, das konnte er beschwören, hatte er den Blick abgewandt, von dem großen Schwimmbecken, um von seinem Aufsichtsturm mit einem Feldstecher durch eigene Inaugenscheinnahme zu prüfen, ob sich der Bikini einer Schönen in einem weit entfernten Winkel des Freigeländes, den diese gerade mit ihrem nassen Einteiler wechselte, im tadellosem Zustand befand, doch als er sich wieder umwandte, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen.
Da machte sich doch tatsächlich ein Taucher bereit, in das Schwimmbecken zu springen, in voller Montur. Was hatte der denn hier zu suchen, er jedenfalls hatte den nicht herbestellt. Die übrigen Badegäste hatten ebenfalls den Taucher entdeckt und schauten eher belustigt, im Gegensatz zu Rufus, auf dessen Gesicht sich eine dicke Zornesfalte abzeichnete, dem ungewöhnlichen Treiben zu. Der Mann schien jedoch die lautstarke Aufforderung des Bademeisters nicht gehört zu haben, jedenfalls zeigte er keinerlei Reaktion, sondern ließ sich mit seiner kompletten Ausrüstung einschl. Sauerstofflasche ins Wasser plumpsen, wobei er, das hatten alle gesehen, in der rechten Hand einen kleinen rechteckigen in einer Plastikfolie eingeschweißten Gegenstand hielt.
Was hatte er vor, dieser Verrückte? Wollte er eine Bombe deponieren, auf dem Boden des Schwimmbeckens. Ein Freibadterrorist?
In Windeseile verließ Schlottböhmer seinen Turm und hastete zum Becken hinunter.
Im Laufen riss er sich das Hemd vom Leib, doch gerade, als er zu einem Hechtsprung ansetzte, um todesmutig den vermeintlichen Terroristen zu stellen, da tauchte der Taucher wieder auf, ohne den ominösen Gegenstand, und schwamm auf den Beckenrand zu. Dort zog er sich mit beiden Armen hoch und setzte sich auf den gefliesten Rand.
Der Bademeister trat einen Schritt zurück, und die Badegäste in seiner Nähe taten es ihm gleich.
„Was haben Sie da gemacht, Sie Wahnsinniger“, schrie der Rufus vor Wut und Angst, „was haben Sie da unten versteckt?“
Der Mann am Beckenrand nahm seine Tauchermaske ab und blickte in die entsetzten Gesichter der Umstehenden. Hier war offensichtlich Erklärungsbedarf vonnöten.
„Aber beruhigen Sie doch, werte Herrschaften“, rief er lächelnd, „es ist nicht so, wie es scheint, es besteht absolut keinerlei Grund zur Sorge, ein ganz harmloses Unterfangen. Lieber Hüter der wassergefüllten Becken, verehrter Herr Bademeister“, wandte er sich Rufus Schlottböhmer zu, „haben Sie einen Augenblick Zeit? Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen?“
Rufus zögerte.
Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Auf der einen Seite sah der Mann tatsächlich nicht aus, wie ein Terrorist, und seiner gepflegten Ausdrucksweise schien er es auch nicht zu sein, aber andererseits, ganz normal verhielt er sich auch nicht gerade.
„Folgen Sie mir auf den Turm!“ beschied er schließlich dem Fremden.
„Darf ich mich zuvor meiner Unterwassergewänder entledigen?“
„Tun Sie das, ich bitte darum!“

Einige Minuten später bestieg der Fremde unter den neugierigen Blicken der Badenden den Aufsichtsturm, wo Rufus bereits ungeduldig auf ihn wartete, voller Spannung darauf, was sich hinter diesem mehr als ungewöhnlichen Auftritt verbarg.
„Verehrter Herr Bademeister“, begann der Taucher, „ich darf mich Ihnen erst einmal vorstellen, in aller Form. Das war ja eben nicht so recht möglich“.
Rufus schwieg. Was war das denn für ein Kauz?
„Also, mein Name ist Roland Burger“.
„Angenehm, Rufus Schlottböhmer“, entgegnete der Bademeister knapp.
„Ja, sehen Sie, Herr Schlottböhmer“, fuhr der Taucher fort, „Sie werden sich gewiss mit berechtigtem Interesse fragen, was ich da vorhin in Ihrem Schwimmbecken veranstalte habe, und dazumal noch in einem solchen Outfit“.
„Das frage nicht nur ich mich, mit berechtigtem Interesse“, antwortete Rufus und wies auf die immer größer werdende Schar der Badegäste, die unverwandt mit neugierigen Augen nach oben starrte.
„Natürlich, Herr Bademeister, Sie haben Recht, doch gleichwohl bin ich der Meinung, dass ich nur Ihnen gegenüber verpflichtet bin, mein Verhalten aufzuklären, nicht denen da unten“.
„Wir werden sehen, aber nun schießen Sie endlich los!“
„Gut, okay. Eines muss ich vorausschicken, ich habe ein ganz spezielles Hobby“.
„Was hat das denn damit zu tun?“ verdrehte der Bademeister die Augen.
„Nur Geduld, nur Geduld. Also, dieses spezielle Hobby ist es nämlich, was mich zu der ganzen Sache veranlasst hat. Ich bin ein leidenschaftlicher Bookcrosser“.
„Was sind Sie?“ verstand der gute Schwimmeister die Welt nicht mehr.
„Ich bin ein Bookcrosser. Meine Leidenschaft ist das bookcrossen.“

Rufus Schlottböhmer fand, dass es doch ein wenig voreilig von ihm gewesen war, den Taucher aufzufordern, ihm auf den Turm zu folgen. Der Mann schien ja doch gestört zu sein, in irgendeiner Form.

„Noch nie davon gehört? Ich erkläre es Ihnen, in kurzen Zügen“, fuhr der Taucher unbekümmert fort. „ein Bookcrosser ist jemand, der eine Vorliebe für bestimmte Bücher oder andere Druckerzeugnisse hat, sich aber nicht nur damit zufrieden gibt, diese zu lesen, sondern sie einem größeren Personenkreis weiter zu empfehlen“.
„Das tun andere auch“, gab Rufus ironisch zurück, „haben Sie schon mal was von Verlagen gehört, oder von Buchhändlern? Oder von professionellen Buchkritikern, Rezensenten nennt man die.“
„Vollkommen richtig“, überhörte der Taucher die Ironie, „aber all diese Leute tun das auf sehr konventionelle Art, das müssen Sie doch zugeben. Wir Bookcrosser jedoch haben da eine ganz andere Methode entwickelt; wir nehmen die Druckerzeugnisse, die uns gefallen und deponieren diese an passenden Orten und Stellen, bis sie von Gleichgesinnten gefunden werden, die sich in den Büchern verewigen und diese dann auf ähnliche Weise weiterempfehlen.“

Rufus begann es zu dämmern, wenn auch nicht einzuleuchten.

„Verstehe ich Recht, Sie verstecken praktisch Ihre Bücher und warten darauf, dass die gefunden und dann anderswo versteckt werden, von Ihren Freunden. So eine Art Schneeballsystem?“
„Na, ja so kann man es sehen, aber wir verstecken sie nicht, die Bücher, wir deponieren diese an passenden Orten“.
„Aha, Sie deponieren sie an passenden Orten. Sie halten den Boden eines Schwimmbades für einen passenden Ort, um ein Druckstück zu deponieren? Ist ja eigentlich logisch, ich wüsste auch keinen besseren Platz“, schüttelte sich Rufus vor Lachen, „da muss es ja jeder finden.“
„Nun gut“, räumte der Taucher ein, „es ist schon eine recht ungewöhnliche Stelle, aber keine unpassende. Es gibt nur zwei Orte, wo wir keine Bücher deponieren, das sind Buchhandlungen und Büchereien“
„Natürlich“, erwiderte Rufus, „da haben Bücher ja schließlich nichts verloren.“
Wieder wurde er von einem Lachanfall heimgesucht.
„Aber sagen Sie mal, Herr Burger“, fuhr er im väterlichen Tonfall fort, „hielten sie es nicht für angebracht, die Bücher dort zu verstecken oder meinetwegen zu deponieren, wo sie, na, wie soll ich mich ausdrücken, mit etwas weniger Aufwand entdeckt werden; ich will damit sagen, dass beispielsweise meine Mutter, nun gut, sie ist schon eine betagte Dame, enorme Schwierigkeiten hätte, Ihr Buch da unten herauszuholen.“
Wiederum drohte er vor Lachen loszuplatzen, konnte sich aber gerade noch beherrschen.
„Das soll sie ja auch nicht tun, Ihre Frau Mutter; das tun andere, wie gesagt, Gleichgesinnte wie wir. Eigentlich sind wir ja auch keine normalen Bookcrosser.“
„Sie sind keine normalen Bookcrosser? Das hätte ich aber nicht gedacht.“
„In der Tat, Herr Schlottböhmer, wir nennen uns Extrembookcrosser. Wir haben sogar einen eingetragenen Verein.“
„Wie bitte?“
Der Bademeister verstand die Welt nicht mehr.

„Ja, in der Tat, wir unterscheiden uns erheblich von den ordinären Bookcrossern, die ihre Bücher einfach überall liegenlassen. Wir verfügen über weitaus andere Möglichkeiten“.
„Und über welche Möglichkeiten außer der da unten“, wies Rufus wieder auf das Schwimmbecken, „verfügen Sie noch so?“
„Nun, ja, Kirchturmsspitzen, Gipfelkreuze, beispielsweise. Ein sehr origineller Ort ist auch der Rumpf von Flugzeugen, natürlich, während die Maschine sich in der Luft befindet.“
„Natürlich“, bekräftigte Rufus, sonst wären Sie ja nur ein stinknormaler Bookcrosser. Eine Frage habe ich noch, Herr Burger.“
„Fragen Sie“.
„Welche Art von Lektüre hinterlegen Sie denn da so, Sie und Ihre Freunde?“
„Oh, das ist jedem Crosser natürlich freigestellt. Meistens aber ist es die Lieblingslektüre, die hinterlegt wird, und nicht selten handelt es sich um hochgeistige Literatur von Weltruf.“
„Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen“, wurde der Bademeister plötzlich förmlich, obwohl seine Augen einen listigen Ausdruck annahmen „gut, dass Sie mich so erschöpfend informiert haben. Und das Buch da unten, wird das denn auch wirklich abgeholt und weitergereicht?“
„Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen“, bekräftigte der Taucher, „wir sind überall unterwegs, es wird nicht lange dauern, dann wird es gefunden, und wer weiß, vielleicht durch ein anderes ersetzt“, knipste er Rufus ein Auge zu.

Einige Tage später betrat in der Tat ein anderer Taucher das Bad. Bevor er sich jedoch ins Becken plumpsen ließ, meldete er sich vorsichtshalber bei Rufus an.
Der Bademeister hatte keine Einwände.
Als der Taucher wieder an die Oberfläche zurückkehrte, staunte er nicht schlecht.
Auf der Suche nach dem Buch war er auf eine andere Art Lektüre gestoßen; ein Herrenmagazin, mit vielen Abbildungen nackter weiblicher Körper, wasserdicht verpackt.
„Sind Sie fertig, mit dem crossen?“ rief Rufus von seiner Kanzel herunter und bog sich vor Lachen.
 

Raniero

Textablader
Nun ja, die Steigerung vom Bookcrosser über einen Extrembookcrosser bis zum Playboycrosser, das ist doch schon mal was.

Gruß Raniero
 



 
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