Fabelhafte Nachtmaskierung

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Und sie warten
und sie hoffen
und sie trinken
und verfallen rettungslos dem Karneval der Nacht.

[P.M.: "Karneval der Nacht"]



Karneval: Menschen verkleiden sich bunt, tragen Masken, trinken kaltes Bier und zimmerwarmen Wein; Wagen fahren durch die Straßen, über die Zauberer, Clowns und Hexen flanieren; Alte tratschen, Kinder fangen Duplos und Milkaschokolade, und Mädchen in Mariechenkostümen grölen „Alaaf“ von den Wagen, die pappene Karrikaturen schmücken; Kneipen haben bis spät in den Abend geöffnet und befeuchten trockene Kehlen gegen Bares.
Karneval am Tag: Frohsinn schillert, wohin man auch sieht; vom Morgengrauen an torkelt geschminktes Narrentum über Pflastersteine, die Müll präsentieren als wäre es eine neue Pflanzengattung.
In der Nacht aber ist alles anders; das dämmernde Licht entzieht der feiernden Welt die Gesetze und tauscht sie gegen die Regeln der Dunkelheit; die Rituale verfinstern sich, die Menschen zeigen ungeschminkte Schatten ihrer Seele und tauchen in die Abgründe anderer Nachtschwärmer.
Aachen ist eine große Stadt und ihr Schrecken ist gigantisch – dies soll nur einen Einblick geben, fragmentarisch wie ein einzelnes Kapitel eines Buches. Der ganze Wahnsinn dieser Stadt ist nicht zu ertragen, man kann nicht davon erzählen und danach guten Gewissens einschlafen. Man wüsste von der Nachtmahr, die man bereitet, man sähe, wie die Seele, die dies erführe, sich durch die Nacht winden würde, wie sie ihr Kissen und ihre wollene Decke mit Schweiß schwängerte. Nein, man ertrüge es nicht, den ganzen Schrecken zu erzählen, der wahr und doch zu böse wuchert, als dass man ihn aushalten oder gar begreifen könnte.
Am Kaiserplatz treffen sich Abhängige, die sich Drogen in die Adern drücken. Sie sind der Dorn im Auge der sittsamen Anwohner. Aber nachts spendet ein Junkie, den das große H träumen lässt, die einzige Geborgenheit, die in diesem Viertel zu finden ist. Die Abhängigen träumen chemisch, rotten sich zusammen wie Wölfe, fletschen ihre Zähne und zeigen Krallen - sie sind die Einzigen, die schützen, nachts, wenn die Spiele im Viertel beginnen, wenn Kellerfenster erwachen und Menschen die Masken der Nacht anlegen.
Nur davon soll hier berichtet werden.

Der Kaiserplatz existiert nicht nur oberirdisch.
In der Nacht schlafen die Geschäfte im Dunkeln und machen Platz für Orte tief unter der Erde.
Ein Laden liegt unterhalb des alten Kinos, und an Karneval strömen geschminkte Schwärme hinein und begutachten und konsumieren seine Perversitäten.
Eine Treppe, die mit der Stadt altert, führt über morsches Holz unter staubigen Spinnweben hindurch in das Geschäft. Es besteht aus zwei Räumen: kalt und kahl wie Kerker, orientieren sie sich am Kundenstamm, der hier kauft.
Der hintere Raum ist dem menschlichen Strom unzugänglich, aber den Kunden entzieht sich nicht das Geschehen: gewöhnlich laufen Rinnsale gerinnenden Blutes über brüchige Fliesen im Türrahmen, begleitet von Stimmen, die stöhnen und gurgeln, ehe sie für eine Ewigkeit verstummen werden.
Sie jammern, sie hoffen, sie beten und sie sterben.
Der Mann, der den Laden betreibt, nennt sich selbst Kop, und er trägt stets ein Skalpell bei sich, das meist tiefrot trieft.
Sein schütteres Haar wächst wirr, sein Gesicht verunstalten Narben, seine Augen verbreiten Härte – doch die Nacht begnadigt sein Antlitz wie ein milder Richter.
Die Produkte des Ladens sind, dem Anlass entsprechend, auf die Wünsche der Kunden zugeschnitten: Perücken mit blutroten Strähnen auf schwarzem, blondem und braunem Haar. Auf rotem Haar zeigen sich die roten Strähnen bescheiden, als wären sie schüchtern und wollten im Hintergrund bleiben.
Die Kunden aber lieben den Laden eines Produktes wegen, das nirgendwo sonst verkauft wird. Sie betreten den Laden und äußern, was sie wünschen, wer sie zu Anlass des Festes sein wollen: alte Frauen wünschen sich ein kindliches Antlitz, junge Männer wollen sehen, wie sich ihr Rumpf unter fremdem Flaum macht. Kop stellt keine Fragen – er ist ein Handwerker und hat ein tiefgehendes Verständnis für die Wünsche seiner Kundschaft. Er betreibt den Laden aus Leidenschaft. Nach den närrischen Tagen verlässt er Aachen. Das Geschäft blüht, und er verdient genug, um den Sommer in Rio de Janeiro zu erleben und dort seinem Geschäft nachzugehen. Auch in Rio feiern die Menschen, auch dort gibt es Keller und auch dort wird es Nacht.
Die Kunden lachen sich an, als sie in ihr blutwarmes zweites Gesicht schlüpfen, denn die Nacht und der Alkohol verzerren die Sinne und nehmen den Ekel.
Im zweiten Raum verstummen die klagenden Laute sehr bald, denn Kop besitzt einen Brennofen. Die Flammen züngeln die blutige Unordnung aus skalpierten Kadavern hinweg.
Kop hat kein schlechtes Gewissen, wegen dem, was er tut, denn die Seelen mussten damit rechnen, ihr Gesicht zu verlieren.
Sie haben sich zu einer Zeit in das Viertel gewagt, zu der sie dort nichts verloren hatten.
Nachts, wenn Laternen leuchten und Gassen gähnen, spielen die Einwohner am Kaiserplatz das Spiel.

Das Spiel begann an dem Tag, der das Fest gebar. Menschen legten Masken an, feierten hell, legten die Masken ab, ersannen neue und feierten wieder. Ein Wandel wie Gezeiten, bei dem die Ebbe Frohsinn fortspült und die Flut Gewalt, erzwungenen Sex, Mord, Verrat und pathologisches Heldentum anschwemmt.
Das Spiel kennt zwar Regeln, doch niemand beachtet sie, weil sich niemand daran hält und keiner da ist, um zu richten.
Am Kaiserplatz gibt es keinen Helden, der fliegt, keinen Retter, der das Böse jagt, keinen Spinnenmann, der dem Opfer hilft. Da gibt es die karnevalistische Eheberatung, die Männern das Messer, die Pistole und die Säge in die Hand gibt, um sich ihrer Frau zu entledigen. Weil Karneval herrscht, lacht man sich hier nur an und vergisst das Beratungshonorar.
Am Kaiserplatz übernehmen Cowboys, Vampiere und andere karnevalistische Kreationen bei Sonnenuntergang die Straßenwacht. Die Frau, die vor Ihrem Mann flieht – der erst trinkt und dann prügelt –, stolpert in die Arme der alkoholisierten und kostümierten Hirnwindungen; sie rennt, um nicht geschlagen zu werden, und findet dunkle Nachtseelen, die lästern, lachen, Bäuche treten, Hälse würgen und in Körper eindringen. Die Frau, die zittert und sich ängstigt, hat verloren; sie hätte zu Hause bleiben sollen, sie hätte die Schläge ihres Mannes und seinen Speichel in Ihrem Gesicht erdulden sollen. Bitter verdammt sie sich: wie konnte sie nur auf Hilfe hoffen?
Doch nun ist es zu spät. Das Spiel hat begonnen. Delierende tragen Masken aus Kops Laden – Männer werden zu jungen Mädchen, und junge Mädchen tragen das Antlitz alter Männer. Manchmal besudelt Blut das neue Gesicht und dann wissen sie: Kop hat geschlampt.
Dennoch werden sie die Fliehende an Kop übergeben, nachdem sie mit ihr fertig sind, denn das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Vielleicht wird ein Narr bald das Gesicht der Frau, zum Schrei verzerrt, stumm spazieren führen wie einen toten Hund.
Sie hätte sich retten können, doch sie wusste es nicht: es gibt eine Zone, die Schutz gewährt, und sie ist jedem zugänglich, der es schafft, sie zu erreichen. Direkt am Kaiserplatz, gegenüber von der Suchtberatung, ist die Zone: ein Rettungsring in der Nacht, ein Hol, wie es Kinder nennen, wenn sie Fangen spielen. Kop bearbeitet, getreu seiner kundenorientierten Geschäftsphilosophie, kein vergiftetes Fleisch: wer es schafft, den Platz zu erreichen und sich einen Schuss zu setzen wird verschont. Bis der Rausch vorbei ist – und, wenn man Glück hat, auch die Nacht.
Das sind die Regeln des Spiels. Doch spielen seine Teilnehmer nur selten fair.

Der Kirchturm am Kaiserplatz ist alt und hoch – er erstreckt sich 80 Meter über die Faschingsverrückten, die um sein Fundament ziehen. Die Treppe führt einen Lebensmüden - eine suizidäre Seele – über brüchige Steinstufen, auf denen Moos wächst und Löwenzahn spriest, hin zu einem Plateau. Von hier hat man einen wunderschönen Ausblick auf die diesigen Straßen – meist regnet und nebelt es an Karneval – und leblose Bauten, ehe der Tod einen hinabwinkt. Der Suizidär ersteigt Stufe um Stufe, atmet tief, keucht, schenkt seine letzten Atemzüge einer Welt, die er nicht will – auf dass sie ihm vergibt. Die Katholiken werden es nicht tun. Als sein Schuhwerk Sprosse um Sprosse das Geländer besteigt, wirbelt der Wind durch sein müdes Haar und trägt ihm einen Laut zu. Der Suizidär erschrickt, schaut, wendet seinen Kopf weg von der lockenden Tiefe und hin zu finsteren Fenstern und flüsternden Pfaden. Auch die Schatten ruhen regungslos, doch da! Ein Wesen huscht, kichert und wird von dem Schatten, der in der Nische wartet, verschluckt. Der Suizidär schreit und flucht: "Wer ist da? Kann ich nicht mal in Ruhe sterben? Kommt raus, wer immer ihr seid, und verschwindet! Lasst mich, verdammt noch mal, wenige Minuten allein. Ihr seht doch, es sollen meine letzten sein!"
Doch die Schatten schweigen stumm und der Suizidär dreht sich dem Abgrund zu, um sein Werk zu vollenden. Letzte Gedanken zucken, versuchen ihn zu überreden, dazubleiben, zu vergessen und zu leben. Die oberste Sprosse ist bereits erklommen, als die Zweifel den suizidären Geist heimsuchen, um ihn zu überwältigen. Sie wollen ihn davon abbringen, es zu tun, schwirren durch sein Inneres, säubern seinen Schmerz, nähen eine Wunde, die tödlich klafft. Und fast, so scheint es, heilt seine Seele: soll er wirklich sterben? Er hat schließlich irgendwo noch zu leben, Dinge zu sehen und noch mehr Unglück zu erfahren. Und so vertagt er schließlich den letzten Sprung. Er will die Sprossen hinab, als zwei Hände, klein und schmal, seine Fußgelenke umfassen; eine dritte wirft sich in sein Kreuz und schubst, bis der Suizidär, aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzt. Ein letztes Bild von drei Gestalten, - ihre Gesichter die von Männern, die Körper aber klein und ungeformt -, bevor des Suizidärs Masse ihn hinabträgt. Dann schlägt Fleisch auf Beton, der die Knochen knacken und die Qual verstummen lässt.
"Das war toll", erklingt eine Mädchenstimme unter des Mannes Fassade. "Für den war heute schon Aschermittwoch."
Am Aschermittwoch ist alles vorbei.

Der Löffel tropft, als das Feuer, das warm unter dem Löffel brennt, das Heroin verflüssigt. Eine zitternde Hand strafft das Gummiband, welches das Blut hindert zu fliessen.Ein Finger drückt den Kolben und die Spritze speit ihr Gift in den Kreislauf. Die Synapsen durchflutet Wärme, die Pupillen rotieren orgasmisch. Beine strecken sich, Arme fallen taub zur Seite, der Kopf bequemt sich und sinkt gegen die Wand, die stützt.
Der Stoff dröhnt in des Junkies Innerem: sein benebelter Geist fliegt und begegnet auf seinem Weg dem suizidalen Geist, der ihm entgegen stürzt. Keine Zeit zum Gruß und schon zerfetzt des Betons Härte die hinfällige Hülle, terminiert den Torso, als Stein den Schädel spaltet; Blut spritzt, befleckt das Gesicht des vergifteten Körpers, der gegen die Wand lehnt und in seinem Rausch ruht. Das Blut ist warm, aber die Temperatur eisig, hier am Kaiserplatz neben der Drogenberatung.
Eine Hupe lärmt, eine Pfeife schrillt und verkündet: Karnevalisten nähern sich. Sie trampeln über den Platz, an dem gefixt wird, bemerken, wo sie sind und gehen einen Bogen; die Szene – ein bedröhnter Drogenfreak und ein zerschmetterter Körper – ekelt sie an. Ein Karnevalist schmeißt zwei rosa Bonbons über den Platz – eins prallt in das Gesicht des Junkies, das Andere badet in Bächen von Blut, das einst in den Adern des Suizidärs floss. Ein Konfektregen folgt, prasselt auf das Haupt des Junkies und sinkt in die unmenschlich verrenkten Knochen der Seele, die man verstieß.
Die Karnevalisten haben ihre närrische Pflicht getan. Einer der Faschingsnarren, mit dem Gesicht eines Mannes und dem Körper eines Kindes, verkündet laut: "Oche Alaaf!"
Ein zweiter Narr, dessen Haupt eine Perücke ziert, schwenkt ungeduldig seine Guccihandtasche. "Lass uns weitergehen – dat will ich net sehen." Ein Seufzen. "Morgen machen die Geschäfte auf. Dann können wir endlich wieder shoppen gehen."
Karneval.
 

Nina H.

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Zunächst einmal gefällt mir, dass du eine deutsche Stadt als Schauplatz gewählt hast. Man merkt einfach, dass du kennst, was du beschreibst.
Von der Stimmung her gefällt mir die Geschichte auch recht gut!

Hier noch ein paar Sachen, die man noch verbessern könnte:

Man wüßte von der Nachtmahr, die man bereitet, man sähe, wie die Seele, die dies erführe, sich durch die Nacht winden würde, wie sie ihr Kissen und ihre wollene Decke mit Schweiß schwängerte.
"Wüßte" schreibt man mit "Doppel-S".

Aber Nachts spendet ein Junki, den das große H träumen läßt, die einzige Geborgenheit, die in diesem Viertel zu finden ist.
"Nachts" schreibt man klein und "Junki" mit langem "I". "Läßt" mit Doppel-S. (Nach der alten Rechtschreibung wäre es richtig, aber so, wie ich sehe, wurde ja grundsätzlich die neue verwendet.)

Nur davon soll hier berichtet werden.
Meiner Ansicht nach ein unnötiger Satz, der die mühsam aufgebaute Stimmung zerstört. Kann man ruhig streichen.

Das Spiel kennt zwar Regeln, doch niemand beachtet sie, weil sich eh niemand daran hält und keiner da ist, um zu richten.
"Eh" ist zwar in der gesprochenen Rede häufig, ist aber Umgangssprache und klingt deshalb in einem geschriebenen Text nicht gut.

Weil Karneval herrscht, lacht man sich hier nur an und vergisst das Beratunghonorar.
Es müsste "Beratungshonorar" heißen. (S fehlt)

Sie hätte sich retten können, doch sie wußte es nicht:
"Wußte" nach neuer RS mit Doppel-S.

Als sein Schuhwerk Sproße um Sproße das Geländer besteigt, wirbelt der Wind durch sein müdes Haar und trägt ihm einen Laut zu.
"Sproße" mit Doppel-S.

Die oberste Sproße ist bereits erklommen, als die Zweifel den suizidären Geist heimsuchen, um ihn zu überwältigen.
Hier ebenfalls.

Sie wollen ihn davon abringen, es zu tun, schwirren durch sein Inneres, säubern seinen Schmerz, nähen eine Wunde, die tödlich klafft.
"Abringen" mit zwei "b".
 

Bugs

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Hi Nina!

Vielen Dank für deine vielen nützlichen Tips. Ich habe fehlerhafte Stellen korrigiert - jetzt muss ich mir noch die anderen Geschichten vorknöpfen.
Ja, mit der neuen Rechtschreibung und ihren Tücken habe ich noch ganz schön Probleme. Zumal mein Rechtschreibprogramm, wie es scheint, noch die alte unterstützt.
Bugs
 

Nina H.

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Freut mich, dass ich dir weiterhelfen konnte.
Ja, so eine Rechtschreibprüfung beseitigt zwar nicht alles, zahlt sich aber schon aus. Es lohnt sich auf jeden Fall, Geschichten durch eine neue Rechtschreibprüfung durchrennen zu lassen. Ich habe mehr oder weniger auf diese Weise unbewusst umgelernt (in der Schule bin ich dem drohenden Unheil durch die Reform gerade noch entwischt - da waren zuletzt noch beide Versionen erlaubt und da habe ich bewusst noch die alte beibehalten, da Mischformen als Fehler gerechnet worden wären.)
Aber ich verstehe auch, dass man kein funktionierendes Word löschen will. Vielleicht hast du ja ein anderes Programm mit Rechtschreibprüffunktion neueren Datum, z.B. Outlook?
 



 
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