Familie Bulotti und der Fluch der Missinterpretationen.

pleistoneun

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Vater Bulotti, Mutter Bulotti und Sohn Jörgen legten jedesmal ihre guten Manieren ab, wenn sie die Straßen in der Stadt mit ihren schlechten Graffiti verzierten. Die drei Bulottis besaßen - jeder für sich - die Fähigkeit aus ihrer Nase zu sprayen, aber anders als man es vom Niesen kennt. Und es war auch weniger eine Fähigkeit, mehr eine Krankheit, ein Fluch, denn eine innerer Zwang trieb diese Leute zum ungehemmten Sprayen. Ein mutiertes Gen produzierte die Farben wie bei einem Farbdrucker und eine überdimensionierte Lunge schleuderte die Körpersubstanzen an die Wand. Sie verstanden sich weniger als Laune der Natur sondern vielmehr als eine neue, künstlerische Epoche - und das jeder für sich, denn keiner wusste vom anderen, dass dieser ebenfalls die Sprayerfähigkeiten besaß. Und so saßen sie zuhause immer brav beim Abendbrot, und alle drei waren in Gedanken schon bei der nächsten unbefleckten Wand und sprayten was ihre Nasen hergaben.

Als Sohn Bulotti eines Tages mit blauem Nasenbluten vom angeblichen Spielen abends nachhause kam, war Mutter Bulotti klar, dass sie ihr ungezügeltes Gen direkt weiter vererbt hatte. Mitfühlend reinigte Mutter Bulotti den Riech- und Spraykolben ihres Sohnes und tauschte seine Farbpatrone. Sie mussten es vor Vater Bulotti geheim halten, so gut es eben ging. Wer weiß, wie er reagieren würde? Bestimmt könnte er es nicht verstehen und wäre entsetzt über den Familienfluch. Nein, gar nicht auszudenken.

Die beiden hüteten das Geheimnis gut, bis viele Jahre später Mutter Bulotti im Sterbebett lag. Sie war schon schwach und gebrechlich geworden und die beiden Männer kümmerten sich Tag und Nacht um sie. Aber nach wenigen Wochen vergeblicher Pflege fühlte Mutter Bulotti den nahenden Tod und flüsterte deshalb leise zu ihrem Sohn die Worte: "Denk an unser Geheimnis, bewahre es gut vor der Welt." Dann verließen sie die Kräfte und schied dahin. Sohn Bulotti heulte Rotz und Tinte, er konnte es nicht verhindern. Er weinte und weint und weinte rot. Das ganze Bett war rot und orange vollgeheult, das Gesicht der Mutter von den Umarmungen verschmiert mit Farbe und das ganze Szenario machte auf den gerade eintretenden Vater den Eindruck, als hätte gerade ein schreckliches Blutbad stattgefunden. Sofort packte er den Sohn beim Arm und riss ihm vom Bett der Mutter. Der jammernde Sohn fiel in seiner Trauer so unglücklich zu Boden, dass er sich den Kopf aufschlug und verblutete. Das bemerkte der Vater nicht, weil rot von rot nicht mehr zu unterscheiden war.

Die Polizei fand einen fassungslosen Vater Bulotti mit rotgefärbten Händen im Zimmer stehen. Für die Beamten war klar, dass hier ein Familienmörder sein grausames Werk vollendet hatte und führten den schweigenden Mann ab. Vater Bulotti war es nicht möglich, das Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen und fristete deshalb ein paar furchtbare Monate im Todestrakt der Haftanstalt.

Bei der Hinrichtung saß er gefasst am Stuhl und ergab sich seinem bestechlichen und ungerechten Schicksal. Nachdem der Akt vollzogen war, konnte man beobachten, wie langsam blaue Flüssigkeit aus Ohr und Mundwinkel Vater Bulottis trat, woraufhin sich die Beamten vorsichtig näherten, um die offensichtlich nicht-von-dieser-Welt stammende Erscheinung zu erkunden. Schnell war klar, dass man es mit einem Außerirdischen zu tun hatte, der in humanoider Form nach menschlichem Leben trachtete. Eine falsche Annahme führte zur nächsten. Es wird niemals enden.

Zu viele Fehldeutungen und Ängste vor Unverständnis kosteten schon zu vielen Menschen das Leben. Plakatieren wir jedoch unsere gesellschaftlichen Abweichungen und Andersartigkeiten, passiert uns dasselbe.
 



 
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