Familienglück

4,00 Stern(e) 1 Stimme

philomena

Mitglied
Mutter - Vater - Sohn

Der Wecker schrillt penetrant in ihren traumlosen Schlaf. Wie beinahe jeden Morgen seit über zwanzig Jahren wollte sie die Beine aus dem Bett strecken und sich auf den Weg ins Bad machen.
Aber nein, heute nicht. Heute genauso wenig wie gestern und morgen. Wofür auch. Es wartete nichts auf sie, kein Mensch, keine Aufgabe.
Müde hält sie die Augen geschlossen, streckt die Beine einmal lang aus und fühlt, ob die Decke richtig lag. Müde war sie noch, einfach müde.

Die Nacht war wieder lang gewesen in ihrer Schlaflosigkeit. Bilder aus vergangenen Zeiten waren vor ihren Augen aufgetaucht, wann immer sie sie schloß.
Vorbei, es gab diese Zeiten nicht mehr. Aber die Erinnerung daran hatte sie wachgehalten bis in die frühen Morgenstunden.
Erst mit Beginn der frühen, vorsichtigen Dämmerung war sie in einen traumlosen Schlaf gefallen, aus dem sie jetzt durch das Klingeln des Weckers müder erwachte als sie zu Bett gegangen war.

Wovon sollte sie am Tag auch müde werden, es gab ja nichts mehr zu tun für sie. Eine Wohnung, in der sie sich alleine bewegte, kostete nicht viel Arbeit, um in Ordnung gehalten zu werden. Die Waschmaschine lief jetzt nur noch einmal in der Woche, das Bügeln war kaum der Rede wert.
Und Kochen - ja, für wen denn? Gegen den Hunger reichten auch Kleinigkeiten aus der Tiefkühltruhe oder eine Pizza aus dem Restaurant an der Ecke.

Mit einem Seufzer dreht sie sich auf die Seite. Jetzt sind sie doch wieder da, die Bilder aus der Vergangenheit. Als sie manchmal über zuviel Arbeit geschimpft hat.
Was gäbe sie heute für die Unordnung, die sie früher so gestört hat. Die Arbeit, das Chaos überall, nachts das Warten darauf, dass die Haustüre leise ins Schloß gedrückt wird, die Hetze, rechtzeitig eine warme, vernünftige, gesunde Mahlzeit auf den Tisch zu bekommen.
So oft hat sie darüber geschimpft, heute wünscht sie sich all das zurück. Zurück mit all dem Leben, das hier in der Wohnung einmal herrschte. Zurück mit dem Krach seiner Musik, zurück mit den Stimmen seiner Freunde, die beinahe mit zur Familie gehörten.

Sie wird ihn anrufen heute abend, wenn er sich bis sechs Uhr nicht gemeldet hat. Sie will seine Stimme hören, damit sie weiß, dass es ihm gutgeht.
Der Gedanke daran, an seine Stimme und sein liebes Gesicht lässt sie endlich wieder einschlafen. Die leise Frage ihres Mannes hört sie dabei nicht mehr.



„Stehst du nicht mit mir auf? Der Wecker hat geklingelt.“ Leise fragt er sie und hofft so sehr, dass sie ihn mit ihren schönen, schlafmüden Augen lächelnd ansieht, bevor sie ihr warmes Bett verlässt.
Nein, sie ist wieder eingeschlafen wie an so vielen Tagen in der letzten Zeit. Zärtlich betrachtet er ihr Gesicht im Schlaf. Ein bisschen entspannter sieht sie heute aus, beinahe kann er ein Lächeln um ihre Mundwinkel erkennen.

Wie sehr er sie immer noch liebt.
Seine Gedanken gehen zurück in die Zeit, in der sie sich kennengelernt haben. Sie hat ihm sofort gefallen, nein falsch, er hat sich sofort in sie verliebt, als er sie das erste Mal gesehen hat.
Dieses lustige, temperamentvolle, lebenssprühende Wesen sollte seine Frau werden, seine Partnerin, seine Vertraute und die Mutter seiner Kinder. Das stand bereits wenige Minuten nach ihrem Kennenlernen für ihn fest.

Überglücklich war er, als sie heirateten. Die ersten Ehejahre waren wie im Traum vergangen und als ihr Kind geboren war, waren sie eine wirklich glückliche Familie.

Er hatte eingesehen, dass sie sich von da an vor allem um den Kleinen kümmern musste, dass er zurücktreten sollte vor dem Wohlergehen des Kleinen. Das fand er selbstverständlich, liebte er ihn doch ebenso, obwohl er mit leisem Bedauern an die wunderschönen Stunden zu zweit zurückdachte.
Er hatte sich mit dem Gedanken getröstet, dass sie irgendwann wieder einmal zu zweit wären, noch jung genug, um all das zu genießen, was sie jetzt gerne der Familie opferten.

Er hatte sich auf ruhige Morgenstunden gefreut, gemeinsam mit ihr am Frühstückstisch. Auf spontane Unternehmungen, Wochenendreisen, Kino, Theater, Restaurantbesuche.
Er träumte von Waldspaziergängen im Regen wie in der ersten Zeit ihrer Ehe. Von Lachen und Glücklichsein und dem Vertrauen, das mit den Jahren immer mehr gewachsen ist.
Er träumte davon, ihr wieder zu zeigen, wie schön sie für ihn ist, immer gewesen ist, und wie begehrenswert.
Er wünschte sich so sehr die Unbeschwertheit ihrer ersten Jahre zurück, bereichert um die Vertrautheit, die in den Jahren ihrer Ehe zwischen ihnen stetig gewachsen war.

Ein wenig ratlos schaut er nun in ihr schlafendes Gesicht. Vorsichtig und zärtlich zieht er die Bettdecke höher über ihre Schulter, bevor er sich mit einem Seufzer erhebt, um sich für den Tag fertig zu machen und zu frühstücken. Wann würde sie erwachen?



Eine Hand kam unter der Bettdecke hervor und stellte das Klingeln des Weckers ab. Nö, noch nicht, nicht um die Uhrzeit.
Gestern nacht war er spät nach Hause gekommen, nachdem er mit seinen Freunden einen ausgiebigen Zug um die Häuser gemacht hatte. Jetzt brummte sein Schädel, aber egal. Er genoß seine Freiheit, jeden Tag ein Stück mehr.
Endlich niemand mehr, der ihn fragte, ob alles in Ordnung wäre, wenn er nachts nach Hause kam. Niemand, der ihm morgens mit heiterer Stimme einen guten Tag wünschte und ihn so lange rief, bis er sich aus dem Bett gequält hatte.

Jetzt schlief er einfach weiter, bis er keine Lust mehr dazu hatte. Frühstück, Mittagessen, egal, wenn er Hunger hatte, fand sich schon was zu essen. Oder seine Freundin machte was und sie aßen gemütlich zusammen im Bett.
Früher hatte er nicht mal Lust, über Nacht bei ihr zu bleiben, weil ihm die besorgten Fragen und Ermahnungen am nächsten Morgen so lästig waren.

Nee, nee, war schon alles ok so. Hatten die beiden früher ja auch nicht anders gemacht, wie er ihm gestern erzählt hatte, als sie miteinander telefoniert hatten. Er fand es ja auch in Ordnung, dass er nicht ständig wieder daheim auflief. Schließlich konnten die beiden sich so ja auch ein richtig nettes Leben machen. Gönnte er ihnen ja auch.

Obwohl er ja das Gefühl hatte, so ganz klappte das nicht. Naja, sind wohl schon zu alt dafür.

Aber eins ist sicher. Heute abend ist er unterwegs, irgendwo. Ihren Anruf will er nicht annehmen, wenn sie ganz sicher pünktlich fünf Minuten nach sechs anruft, weil er sich bis sechs noch nicht gemeldet hat.
Ehrlich, dann ist er ganz sicher nicht mehr hier in seiner Studentenbude.
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo philomena,

Deine Geschichte ist grausam real. Gut aufgebaut, weil jedes Familienmitglied zu Wort kommt. Sie beschreibt sicher häufigen Alltag. Vielleicht will sich deswegen niemand zu ihr äußern? Sie gefällt mir und sie gefällt mir nicht. Ich spüre, wie ich mich bewusst von ihr distanzieren will. Vielleicht, weil sie so grausam real ist?
 



 
Oben Unten