Engel des Lichts
Mitglied
Familiengrab
Der Himmel blickt auf die Trauergemeinde herab, die sich auf dem Friedhof versammelt hat und sich um das Grab schart.
Monoton bewegen sich die Lippen im Gebet, ihr Sprechgesang geleitet den Toten in seine letzte Ruhestätte, die eigens für ihn geschaffen wurde.
Der Sarg wird hinuntergelassen. Langsam, Stück für Stück gleiten die Seile, die ihn halten, durch die Hände der Männer, die ihn mit zusammengebissenen Zähnen vorsichtig hinablassen. Der Priester steht in einiger Entfernung daneben und beobachtet sie, gibt acht, daß auch alles mit der angemessenen Würde geschieht. Hinter ihm warten die Meßdiener, tragen Weihwasser, Schaufel und Kerzen. Direkt darauf folgen die Familienmitglieder des Toten. Alle in Schwarz. Alle mit bedecktem Haupt. Manche betupfen sich die Augen, zücken die schwarzen Taschentücher, die sie nur aus diesem Anlaß in ihrem Schrank aufbewahren. Man sieht ihre Schultern zucken. Wenn man es nicht besser wüßte, könnte man denken, daß sie lachen.
Auch der Himmel weint. Kalt und nass ist er in einem dezenten Grau auf dem Friedhof erschienen, hat nicht gewagt, in goldenem Sonnengewand zu erscheinen, wäre zu auffällig und unpassend gewesen. Man hätte über diese Unhöflichkeit den Kopf geschüttelt. Also grau, mit vielen Wolken, damit wirklich kein Gold zu sehen ist. Als stiller Begleiter wohnt er der Zeremonie bei, wartet ab, was geschehen wird.
Die Familienmitglieder stehen geschlossen am Grab, halten sich an den Händen, weinen sich einander die Schulter nass, können immer noch nicht fassen, daß einer der Ihren ihnen entrissen wurde. Der Tote entschwindet ihren Blicken und mit aller Kraft versuchen sie sich sein Gesicht bis in alle Einzelheiten einzuprägen. Die Form seines Gesichtes, das sie schon allzu lange nicht mehr gesehen haben, den Mund, den sie schon lange nicht mehr reden hörten, die Augen, die sie schon lange nicht mehr angeblickt haben. Und zum Schluß bedecken sie den Bruder, Vater, Onkel, Cousin, Schwager mit kalter, feuchter Erde, verhüllen das Gesicht, das sich wieder aus ihrer Erinnerung herauszulösen drängt, nehmen Abschied von einem ihrer Lieben, der zu dem fremden Stern zurückkehrte, auf dem er immer gewesen war.
Geschlossen ziehen sie vom Friedhof, in Eintracht vereint. Nichts trübt die Harmonie in ihrer Gemeinschaft, die Ausdruck in der Stille findet. Das Schweigen der Totengräber verlassend, dem Schweigen ihrer Gedanken folgend, wandern sie über die Straßen, die vom Friedhof zu den Hallen ihrer eigenen Toten führen. Die Harmonie ist durchsetzt von Spannung, in ein fast gleichförmiges Schachbrett unterteilt, auf dessen Feldern sie die einzelnen Figuren sind. Von weiß zu schwarz, von schwarz zu weiß, doch nie berühren zwei Figuren gleichzeitig dasselbe Harmonie- oder Spannungsfeld.
Auf ihrem Weg begleitet sie der Himmel, folgt der Trübe ihrer Schritte, der Spur ihres Dämmerzustandes, die sie zum Haus des Familienmitgliedes führen, dessen Heim dem Friedhof am nächsten war, sich nicht entschlossen hatte, vor seiner Zeit ein neues Domizil zu beziehen.
In kleiner Runde, so viele Verwandte eben zum Geleit des Verstorbenen anwesend zu sein vermochten, wird das anschließende Kaffeekränzchen abgehalten. Ein festlich gedeckter Tisch mit vielen Kerzen, deren Flammen im Windzug verlöschen, wartet auf die Familie. In dem dunklen Zimmer sind die Gesichter kaum zu erkennen, und auch die Stimmen klingen auf einmal gedämpfter, undeutlicher. Es ist schwer, sie einander zuzuordnen, die Menschen ähneln mehr denn je Fremden. Das Grau hat sich in den Raum und in die Augen geschlichen. Die Luft ist mit unbekannten Teilchen gefüllt, die sich auf Haar und Kleidung setzen und neue Schichten bilden. Matt blinkt das Zahnweiß im bleiernen Gemütszustand.
Man hört Stühlerücken. Das Klappern der Teller und das Rascheln der Servietten heben den Schleier vor den Augen. In der Mitte des Tisches prangt die Sahnetorte, leistet dem Strudel, der in weichen Apfelkissen versunken Schlaf sucht, Gesellschaft. Es ist nicht zu sagen, welche der Köstlichkeiten von dem Verstorbenen wirklich bevorzugt wurde, doch schließlich belegt die Sahnetorte den ersten Platz. Die Diskussion erstirbt bevor sie begonnen hat.
Von den Wänden starren fremde Gesichter auf die Kaffeegesellschaft, beäugen den Familienkreis, dessen Angehörige ihnen vor langer Zeit weichen mußten und aus den Bilderrahmen entschwunden sind. Nun sind es nicht mehr die Verwandten, die die kahlen Wände schmücken, sie wurden ersetzt von Unbekannten, deren Augen durch sie hindurch blicken, die Stille finden, in der die Samen der Lautlosigkeit geräuschlos keimen, in der das Schweigen wächst und gedeiht.
Die Verwandten sitzen nun auf ihren Stühlen, rücken unbehaglich hin und her. Das vor sich hinplätschernde Gespräch ist nur noch ein dünnes Rinnsal, das im Kampf gegen die trockenen Münder unterliegt und letztendlich versiegt. In der Wüste des Schweigens scheitern die telepathischen Versuche, die Kommunikation beschränkt sich auf das Einschenken des Kaffees, der zur Zeit der Favorit in der Werbung ist. Frisch aufgebrüht verbreitet er den Duft Brasiliens, der in Nebelschwaden in die Nasenlöcher dringt und dessen exotische Weichheit in der Fremde Wurzeln schlägt. Die Melodie der Ferne erklingt, wird als Echo zurückgeworfen. Das kurzweilige Zusammenspiel der Welten ist beendet, sie driften erneut auseinander, verflüssigen sich, gehen in den gasförmigen Zustand über. Auf diese Weise verteilen sie sich ohne einen Zusammenstoß zu erzeugen.
Die gemeinsame Zeit ist vorbei. Die Familie erhebt sich von den Plätzen, steuert dem Ausgang entgegen, der unvergittert das Grau ins Haus lockt. Vor der Türe stehen sie beieinander, legen nochmals eine Schweigeminute für den Toten ein, die sich zu den unzähligen Schweigeminuten, Stunden, Jahren ihres Lebens gesellt. Dann folgen das Händeschütteln und Abschiednehmen und die Versprechen, die bis zum nächsten Treffen, wenn der Familienkreis erneut schrumpfen sollte, immer noch auf ihre Einlösung warten.
Der Himmel blickt von oben herab, sieht, wie sich die Menschen in alle Richtungen zerstreuen. Er sieht sie die langen und die kurzen, die breiten und die schmalen Straßen lang gehen und hört das ohrenbetäubende Schweigen, das der Wind zu ihm hinaufträgt, das die Stille der Welt zum Dröhnen bringt. Einsame Gestalten und ihre Schatten, die in den Winkeln ihrer Einöde die verlorenen Familienbande suchen, verlieren sich unter den Wolken, die über ihnen dahin und in die Ferne ziehen.
Kaum sind sie entschwunden, wendet sich der Himmel wieder dem Friedhof zu, um dem Tod einer längst gestorbenen Familie beizuwohnen.
Der Himmel blickt auf die Trauergemeinde herab, die sich auf dem Friedhof versammelt hat und sich um das Grab schart.
Monoton bewegen sich die Lippen im Gebet, ihr Sprechgesang geleitet den Toten in seine letzte Ruhestätte, die eigens für ihn geschaffen wurde.
Der Sarg wird hinuntergelassen. Langsam, Stück für Stück gleiten die Seile, die ihn halten, durch die Hände der Männer, die ihn mit zusammengebissenen Zähnen vorsichtig hinablassen. Der Priester steht in einiger Entfernung daneben und beobachtet sie, gibt acht, daß auch alles mit der angemessenen Würde geschieht. Hinter ihm warten die Meßdiener, tragen Weihwasser, Schaufel und Kerzen. Direkt darauf folgen die Familienmitglieder des Toten. Alle in Schwarz. Alle mit bedecktem Haupt. Manche betupfen sich die Augen, zücken die schwarzen Taschentücher, die sie nur aus diesem Anlaß in ihrem Schrank aufbewahren. Man sieht ihre Schultern zucken. Wenn man es nicht besser wüßte, könnte man denken, daß sie lachen.
Auch der Himmel weint. Kalt und nass ist er in einem dezenten Grau auf dem Friedhof erschienen, hat nicht gewagt, in goldenem Sonnengewand zu erscheinen, wäre zu auffällig und unpassend gewesen. Man hätte über diese Unhöflichkeit den Kopf geschüttelt. Also grau, mit vielen Wolken, damit wirklich kein Gold zu sehen ist. Als stiller Begleiter wohnt er der Zeremonie bei, wartet ab, was geschehen wird.
Die Familienmitglieder stehen geschlossen am Grab, halten sich an den Händen, weinen sich einander die Schulter nass, können immer noch nicht fassen, daß einer der Ihren ihnen entrissen wurde. Der Tote entschwindet ihren Blicken und mit aller Kraft versuchen sie sich sein Gesicht bis in alle Einzelheiten einzuprägen. Die Form seines Gesichtes, das sie schon allzu lange nicht mehr gesehen haben, den Mund, den sie schon lange nicht mehr reden hörten, die Augen, die sie schon lange nicht mehr angeblickt haben. Und zum Schluß bedecken sie den Bruder, Vater, Onkel, Cousin, Schwager mit kalter, feuchter Erde, verhüllen das Gesicht, das sich wieder aus ihrer Erinnerung herauszulösen drängt, nehmen Abschied von einem ihrer Lieben, der zu dem fremden Stern zurückkehrte, auf dem er immer gewesen war.
Geschlossen ziehen sie vom Friedhof, in Eintracht vereint. Nichts trübt die Harmonie in ihrer Gemeinschaft, die Ausdruck in der Stille findet. Das Schweigen der Totengräber verlassend, dem Schweigen ihrer Gedanken folgend, wandern sie über die Straßen, die vom Friedhof zu den Hallen ihrer eigenen Toten führen. Die Harmonie ist durchsetzt von Spannung, in ein fast gleichförmiges Schachbrett unterteilt, auf dessen Feldern sie die einzelnen Figuren sind. Von weiß zu schwarz, von schwarz zu weiß, doch nie berühren zwei Figuren gleichzeitig dasselbe Harmonie- oder Spannungsfeld.
Auf ihrem Weg begleitet sie der Himmel, folgt der Trübe ihrer Schritte, der Spur ihres Dämmerzustandes, die sie zum Haus des Familienmitgliedes führen, dessen Heim dem Friedhof am nächsten war, sich nicht entschlossen hatte, vor seiner Zeit ein neues Domizil zu beziehen.
In kleiner Runde, so viele Verwandte eben zum Geleit des Verstorbenen anwesend zu sein vermochten, wird das anschließende Kaffeekränzchen abgehalten. Ein festlich gedeckter Tisch mit vielen Kerzen, deren Flammen im Windzug verlöschen, wartet auf die Familie. In dem dunklen Zimmer sind die Gesichter kaum zu erkennen, und auch die Stimmen klingen auf einmal gedämpfter, undeutlicher. Es ist schwer, sie einander zuzuordnen, die Menschen ähneln mehr denn je Fremden. Das Grau hat sich in den Raum und in die Augen geschlichen. Die Luft ist mit unbekannten Teilchen gefüllt, die sich auf Haar und Kleidung setzen und neue Schichten bilden. Matt blinkt das Zahnweiß im bleiernen Gemütszustand.
Man hört Stühlerücken. Das Klappern der Teller und das Rascheln der Servietten heben den Schleier vor den Augen. In der Mitte des Tisches prangt die Sahnetorte, leistet dem Strudel, der in weichen Apfelkissen versunken Schlaf sucht, Gesellschaft. Es ist nicht zu sagen, welche der Köstlichkeiten von dem Verstorbenen wirklich bevorzugt wurde, doch schließlich belegt die Sahnetorte den ersten Platz. Die Diskussion erstirbt bevor sie begonnen hat.
Von den Wänden starren fremde Gesichter auf die Kaffeegesellschaft, beäugen den Familienkreis, dessen Angehörige ihnen vor langer Zeit weichen mußten und aus den Bilderrahmen entschwunden sind. Nun sind es nicht mehr die Verwandten, die die kahlen Wände schmücken, sie wurden ersetzt von Unbekannten, deren Augen durch sie hindurch blicken, die Stille finden, in der die Samen der Lautlosigkeit geräuschlos keimen, in der das Schweigen wächst und gedeiht.
Die Verwandten sitzen nun auf ihren Stühlen, rücken unbehaglich hin und her. Das vor sich hinplätschernde Gespräch ist nur noch ein dünnes Rinnsal, das im Kampf gegen die trockenen Münder unterliegt und letztendlich versiegt. In der Wüste des Schweigens scheitern die telepathischen Versuche, die Kommunikation beschränkt sich auf das Einschenken des Kaffees, der zur Zeit der Favorit in der Werbung ist. Frisch aufgebrüht verbreitet er den Duft Brasiliens, der in Nebelschwaden in die Nasenlöcher dringt und dessen exotische Weichheit in der Fremde Wurzeln schlägt. Die Melodie der Ferne erklingt, wird als Echo zurückgeworfen. Das kurzweilige Zusammenspiel der Welten ist beendet, sie driften erneut auseinander, verflüssigen sich, gehen in den gasförmigen Zustand über. Auf diese Weise verteilen sie sich ohne einen Zusammenstoß zu erzeugen.
Die gemeinsame Zeit ist vorbei. Die Familie erhebt sich von den Plätzen, steuert dem Ausgang entgegen, der unvergittert das Grau ins Haus lockt. Vor der Türe stehen sie beieinander, legen nochmals eine Schweigeminute für den Toten ein, die sich zu den unzähligen Schweigeminuten, Stunden, Jahren ihres Lebens gesellt. Dann folgen das Händeschütteln und Abschiednehmen und die Versprechen, die bis zum nächsten Treffen, wenn der Familienkreis erneut schrumpfen sollte, immer noch auf ihre Einlösung warten.
Der Himmel blickt von oben herab, sieht, wie sich die Menschen in alle Richtungen zerstreuen. Er sieht sie die langen und die kurzen, die breiten und die schmalen Straßen lang gehen und hört das ohrenbetäubende Schweigen, das der Wind zu ihm hinaufträgt, das die Stille der Welt zum Dröhnen bringt. Einsame Gestalten und ihre Schatten, die in den Winkeln ihrer Einöde die verlorenen Familienbande suchen, verlieren sich unter den Wolken, die über ihnen dahin und in die Ferne ziehen.
Kaum sind sie entschwunden, wendet sich der Himmel wieder dem Friedhof zu, um dem Tod einer längst gestorbenen Familie beizuwohnen.