Fischgräten brechen leise

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Rainer Lieser

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Fischgräten brechen leise

Im Allgemeinen sprach Thea nicht sehr viel, denn ihr fielen dabei immer die Buchstaben einzeln aus dem Mund – und zwar buchstäblich. Ihr Körper produzierte feste kleine Massen, die zusammen mit den einzelnen Lauten herausgeworfen wurden. Weshalb diese Massen die Form der Buchstaben aus den gesprochenen Worten annahmen, wusste niemand zu erklären. Ein Phänomen.
In ihrer Kindheit war Thea von den Eltern zu allen nur erdenklichen Ärzten und Wunderheilern geschleppt worden, in der Hoffnung, einer davon würde ihre Tochter womöglich von diesem Leiden befreien können. Doch keiner davon hatte – oder fand ein Heilmittel.
Etwa 32 Jahre nach ihrer Geburt lebte sie allein und sehr zurückgezogen in einer kleinen Wohnung im Ruhrgebiet. Thea saß zu später Stunde vor ihrem Computer und schrieb eine Kritik über den neuen Film von Ugo Montepiellie. Der Artikel sollte heute fertig und online gestellt werden. Morgen würde der Film bundesweit starten.

Bisher war Thea eine glühende Verehrerin der Filme von Montepiellie gewesen. "Schreie im Glockenturm", ein vierstündiges Werk über fünf Sumoringer, die versehentlich bei lebendigem Leib in einem Glockenturm eingemauert worden waren und "Der tote Dudelsackspieler", in dem ein schottischer Blindenhund und der Geist eines Dudelsackspielers Freundschaft schloßen, waren zwei ihrer absoluten Lieblingsfilme. Auch an Werken wie "Salat mit Augäpfeln", "Füße ohne Beine" oder "Mutanten töten laut" konnte sie sich nicht satt sehen. Für Thea war Montepiellie über viele Jahre der ungekrönte König der Trashfilmer gewesen.

Doch seit der Heirat mit der früheren deutschen Pornodarstellerin Ornella Putzig, befand sich sein Stern in den Augen der Filmkritikerin im akuten Sinkflug. Schon der erste Film danach, "Die Heideröslein von Litauen", versprühte nicht mehr den billig infantilen Charme früherer Montepiellie-Werke. 6 Stunden ohne Leichenfledderei, Folterszenen oder brennende Teddybären. Das war kein echter Montepiellie mehr.

Thea hoffte auf den anschließenden Film – und darauf, dass Montepiellie wieder zu seiner alten Form zurückfinden würde. Dann wurde in einer ersten Pressemeldung der Titel genannt: Die Heideröslein von Litauen 2. Woraufhin in Thea die Hoffnung schwand.
Heute nun hatte sie den Film gesehen und ihre schlimmsten Befürchtungen waren bestätigt worden. Er war eine einzige Katastrophe. Hatte in Teil 1, EIN Kameramann mit EINER Handkamera versucht das Tagwerk EINER Biene auf EINEM Blumenfeld in Litauen zu dokumentieren, so liefen in Teil 2, ZWEI Kameramänner ZWEI Bienen auf ZWEI verschiedenen Wiesen in Litauen hinterher. In der Mitte der Leinwand verlief ein breiter Trennbalken mit einem Bild der jungen Ornella Putzig darauf. Links und rechts daneben wurde das Treiben der Bienen gezeigt. Filmlänge: 10 Stunden.

Gerade beendete Thea die Arbeit an der Rezension, als es an der Tür klingelte. Sie öffnete. Vor ihr stand Ugo Montepiellie. Natürlich fiel Thea in Ohnmacht.

Als Thea wieder erwachte, hatte sie zwar immer noch Montepiellie vor sich, ihre Wohnung war jedoch weg – und der Blickwinkel aus dem sie auf den Regisseur sah, war ein deutlich anderer als zuvor.

»Tust Du erkennen das Kuliss, Signorina Rübsam?« hörte sie Montepiellie fragen. So ungewohnt es für Thea war mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden, so vertraut war ihr das Drehset. Sie befand sich in der Unterwasserhöhle aus "Folterkammer der Wassernixe", dem letzten Film von Montepiellie vor seiner Ehe. Bei den Dreharbeiten hatte er Ornella kennengelernt. Sie spielte in dem Film eine katholische Nonne, die von der Wassernixe gedemütigt und gevierteilt wurde.
Thea beantwortete die Frage des Filmemachers mit einem Kopfnicken. Dabei stellte sie fest, dass sie die Kulisse exakt aus der Sicht von Ornella betrachtete, kurz vor der Szene mit der Vierteilung. Die Filmkritikerin verstand. Sie lag auf der Folterbank der Wassernixe. Angekettet, wie sie jetzt bemerkte. Irgend etwas in ihrem Kopf legte Thea die Idee nahe, dies könnte exakt der richtige Zeitpunkt sein, um Angst zu bekommen. Montepiellie beugte sich über sie. Ihre Gesichter kamen sich ganz nah. Mehr als es Thea recht war.

»Perfetta! In Dein Wohnung, Montepiellie haben Dein Kritik zu sein neu Film gelese. Nix gut Du Film gefunde hast. Wie Montepiellie habe gedacht. Montepiellie Dich schon lange beobachte. Du sein importante Critico. Dein Meinung mein Film nix gut tun.«
Langsam glaubte Thea zu verstehen, weshalb sie hier lag. Montepiellie zeigte mit dem Finger auf ihren Mund und lächelte dabei verschmitzt wie ein kleiner dicker Junge.

»Montepiellie wissen, weshalb Du so viel schweigen, Signorina Rübsam. Aus Dein Mund falle viele Buchstabe, wenn Du spreche. Du Dich dafür schäme. Darum Du lebe solo. Das sein dumm Montepiellie denke.«
Diesen Teil empfand Thea nun als recht merkwürdig. Worauf wollte der Filmemacher eigentlich hinaus. Das ging doch plötzlich in eine ganz andere Richtung als sie zuerst gedacht hatte. Sie war auf seine weiteren Ausführungen gespannt. Da tauchte eine Stimme im Hintergrund auf. Die äußerst charakteristische Stimme einer Frau.
»Montie-Honey, nimm es mir nicht übel, aber ich glaube, Du solltest der guten Frau Rübsam nicht weiter mit deinen miesen Deutschkenntnissen auf die Nüsse gehen. Es ist bestimmt besser, wenn ich ab hier das Sprechen übernehme. Sie hat Dich ja nun in Deiner vollen Leibesfülle gesehen.«
Montepiellie wurde von zwei gewaltig großen und spärlich bedeckten Brüsten aus dem Sichtfeld von Thea gedrängt. Es dauerte nur einen Moment, bis die Filmkritikerin oberhalb der beiden Kugeln den passenden Kopf zu der quälend näselnden Stimme erkannte. Ornella Putzig stand vor ihr.

Ornella platzierte ihre Oberweite dicht unterhalb der Kinnspitze von Thea und schob anschließend ihre schlauchbootartig aufgepumpten Lippen an Theas rechtes Ohr.
»Du bist doch wohl völlig durchgeknallt! Lass mich auf der Stelle frei, Du FREAK, oder Du wirst Deines Lebens nie mehr froh werden!«
Jeder einzelne Buchstabe von jedem einzelnen Wort, das Thea wütend herausschrie, landete wie ein Faustschlag im Gesicht von Ornella. Die Kritikerin warf Montepiellies Frau ihre gesamte Missachtung und ihren gesamten Hass entgegen. Einfach alles, was sich seit langem in ihr aufgestaut hatte. Dieses aufgeblasene Pornosternchen hatte immerhin den unvergleichlichen Ugo Montepiellie in einen Popanz verwandelt. So einer konnte Thea gar nicht genug Buchstaben an den Kopf werfen.

»Sieh nur Montie-Honey! Die Alte spuckt ja tatsächlich Buchstaben – und wie groß und hart diese Dinger sind! BOAH! So wie Bauklötze.« Ornella freute sich überschwänglich. »Hast Du auch alles schön in der Kamera?«
»Perfetta, Amore Mio! Montepiellie sein begeistert! Alles drin. Los, Du musse Sie noch mehr provoziere! Montepiellie wolle noch mehr Gespucke sehe. Mehr! Viel mehr! Avanti!«

Wie im Rausch tänzelte der schwer beleibte Regisseur mit seiner Handkamera um die beiden Frauen. Er geriet regelrecht in Ekstase. Begann zu schwitzen und vor Erregung zu keuchen. Alles verlief gerade gänzlich anders, als Thea es noch vor wenigen Momenten erwartet hatte. Verschämt verstummte sie. Sie war herein gelegt worden, wie Thea jetzt verstand.

»Eine wie DIE beschimpft mich als FREAK. Ey, das musst Du Dir mal reinziehen, Montie-Honey. Frau Rübsam, wenn mein Montie-Honey die gerade gemachten Aufnahmen in seinen nächsten Film einbaut, wird die ganze Welt nur noch über einen einzigen FREAK sprechen – und dieser Freak wirst Du sein!«
Thea wusste, das Ornella recht hatte. Nur noch sehr weit entfernt nahm sie wahr, wie Montepiellie mit der Kamera Ornella zur Seite schob. Er kam immer näher an den Mund von Thea. Ihr war, als stecke sie plötzlich mitten in einem Fieberwahn. Farben, Konturen, Geräusche und Stimmen verschwammen. Sie steckte in einem Strudel gefangen, der Thea immer weiter in die Tiefe zog. Schließlich verlor sie das Bewusstsein.

Irgendwann kam Thea wieder zu sich. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie saß mitten in einem kleinen dunklen Kinosaal. Umgeben von brennenden Kerzen in formschönen Leuchtern. Stuckverziehrungen an der Decke. Feingliedrig gemusterte Tapeten an den Wänden. Die Sitze mit edlen Stoffen bespannt. Ein Vorhang verdeckte die Leinwand. Hier gefiel es Thea. Ein Lichtkreis erschien auf dem Vorhang. Von der Seite trat ein gut aussehender junger Mann in das Licht. Ein Mann, den Thea nie zuvor gesehen hatte. Er verbeugte sich kurz. Begann anschließend zu sprechen.
»Guten Abend, Frau Rübsam. Ich möchte mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Frederic Cavallo. Mir gehört dieses alte Lichtspieltheater. Nur für Sie wird hier gleich in einer Welturaufführung der neue Film von Herrn Ugo Montepiellie gezeigt. Doch bevor es soweit ist, sollen Sie noch erfahren, dass eben jener Film womöglich nur dieses eine Mal aufgeführt wird – und danach niemals wieder. SIE werden das im Anschluß selbst entscheiden.«
Der Lichtkreis verschwand. Herr Cavallo ebenso. Der Vorhang öffnete sich. Wie von zauberhand erloschen alle Kerzen.

Was folgte, war ein Werk, wie es nur Ugo Montepiellie schaffen konnte.
Der Film hieß "Fischgräten brechen leise" – und es war die Fortsetzung von "Folterkammer der Wassernixe".
Wie sich zeigte, waren die Opfer aus Teil 1 zu großen Teilen an den Sohn der Wassernixe verfüttert worden, damit dieser etwas zu fressen hatte und nicht verhungern musste. Ein Sohn war zwar im ersten Film an keiner Stelle erwähnt worden, doch solche Details hatten Montepiellie noch nie sonderlich interessiert. Wie die Mutter, war auch er, halb Mensch, halb Fisch, fraß Menschen und hatte eine ausgeprägte Freude am Foltern. Er lebte in der gleichen verborgenen Höhle, in der auch schon die Wassernixe ihr Unwesen getrieben hatte. Davon abgesehen, unterschied sich der neue Film komplett von dem alten.

Der Fischmann litt sehr unter seinem Ungeheuerdasein und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein gewöhnlicher Mensch zu werden. Deshalb entführte er immer wieder brillante Wissenschaftler, die ihm alles beibringen mussten was sie wussten, bevor er sie fraß.
Er richtete sich in seiner Höhle ein ultramodernes Labor ein und promovierte per Fernstudium in den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Nach vielen Jahren, fand er einen Weg, sich seiner Fischgliedmaße zu entledigen und diese durch Beinprothesen zu ersetzen. Wenig später wurde er in den Lehrstuhl einer der renommiertesten Universitäten Englands aufgenommen. Doch auch wenn er sich nach außen hin den Anschein eines hochgebildeten Menschen gab, steckte tief in ihm drin, immer noch ein mordlüsterner und kaltblütiger Fisch.

Viele Studenten der Universität verschwanden von einem Tag auf den anderen auf unerklärliche Weise und wurden niemals wieder gefunden. Selbstverständlich war das allein auf den früheren Fischmann zurückzuführen, der die Studenten überfallen, fortgeschleppt, gefoltert und getötet hatte.
Er wählte seine Opfer sorgfältig aus. Beobachtete sie über einen langen Zeitraum. Einzelgänger mussten es sein. Alleinstehend. Fremde in diesem Land. Niemand durfte ihn mit dem Verschwinden der Studenten in Verbindung bringen. Alle Spuren wurden sorgfältig verwischt.

Aktuell hegte er ganz besonders großes Interesse an der jungen Tamara Schmutzwinkel. Ein derartiges Verlangen hatte er noch nie verspürt. Das war neu für ihn. Tamara stammte aus Deutschland, trug immer eine Gasmaske über dem Kopf und sprach kein Wort. Ein magisches Geheimnis umgab sie. Der frühere Fischmann fühlte sich auf nie gekannte Weise von ihr angezogen. Eines Abends nach der Vorlesung überwältigte er sie ungesehen auf ihrem Nachhauseweg, brachte sie in seine verborgene Höhle und schnallte Tamara auf der Folterbank fest. Dann riss er ihr die Gasmaske vom Kopf. Erstmals sah er das Gesicht der jungen Studentin. Was er darin erblickte, verwirrte ihn. Er trat ganz dicht an sie heran, um sich das genauer anzusehen. Da war keine Angst in ihren Augen, sondern unbändiger Zorn. Im gleichen Augenblick schrie Tamara ihn an.
»Du bist doch wohl völlig durchgeknallt! Lass mich auf der Stelle frei, Du FREAK, oder Du wirst Deines Lebens nie mehr froh werden!« Und wie die junge Frau so schrie, schlug ihm jeder einzelne Buchstabe der Worte, die sie benutzte, wie ein Faustschlag ins Gesicht – und zwar buchstäblich.
Das war es also gewesen, was ihn unbewusst so stark angezogen hatte. Wie er, so war auch die junge Frau, ein Ungeheuer. Kein gewöhnlicher Mensch. Ein Freak.
In dem Film folgte nach dieser Szene ein harter Schnitt. Eine Kirche wurde jetzt von außen gezeigt. Man sah ein Paar in der Rückansicht, wie es auf die Kirche zulief. Die beiden waren allein und hatten nur sich selbst.
Ende.

Thea liefen Tränen die Wangen herunter.
Natürlich war sie die Tamara Schmutzwinkel im Film. Die Szene auf der Folterbank war zwar ein wenig umgeschnitten und nachbearbeitet worden, entsprach aber im Wesentlichen immer noch Theas Erinnerungen.

Wortlos erschien Ugo Montepiellie im Kino. Der kleine dicke Mann sah Thea fragend an. Sie fiel ihm überglücklich in die Arme.

Als der Film in die Kinos kam, war er sofort ein überwältigender Erfolg. Es wurde der erste Blockbuster von Montepiellie. Ein Film, den Publikum und Feuilleton gleichermassen liebten.

Entgegen der Meinung von Ornella Putzig machte die Presse aus Thea keinen Freak, sondern einen Weltstar. Doch was für Thea weitaus wichtiger war: Sie war nun die neue Frau und Muse an der Seite von Ugo Montepiellie.
Er und Ornella hatten sich während der Postproduktion zu "Fischgräten brechen leise" getrennt. Ornella war zu der Ansicht gekommen, das sie zu höherem berufen sei, als Montepiellie bei den Dreharbeiten zu dessen schäbigen Filmen zu unterstützen. Sie eröffnete mit ihren Ersparnissen eine Bienenzucht in Litauen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Kein schlechter Plot! Habe mich über einige Stellen köstlich amüsiert. An der Zeichensetzung müsste man noch ein wenig feilen, desgl. sind solche Stellen

Ornella war zu der Ansicht gekommen, das sie zu höherem berufen sei,

vermeidbar (statt "das" muss es "dass" heißten; dazu: "...zu Höherem"...)

P.
 



 
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