Fliegen........

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Retep

Mitglied
Fliegen........

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich, Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist!
Ich zögere, dauernd Vertretungsstunden, mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Ich halte vor unserem Reihenhaus, steige aus, im Vorgarten müsste man einiges machen.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich, lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt alle ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine, er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand, früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.

Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an, verlasse das Haus, fange am Waldrand an zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße, Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang, über achtzig ist sie schon, Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt, duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.
Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt auf dem Boden, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir, vielleicht rieche ich anders.


Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.

Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich............................

Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause, legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert, Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.


Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit.
Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles ist so plötzlich gekommen, alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden, die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mich anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Haus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.

Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

Ich kann fliegen...............
 

Retep

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Fliegen........

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich, Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist!
Ich zögere, dauernd Vertretungsstunden, mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Ich halte vor unserem Reihenhaus, steige aus, im Vorgarten müsste man einiges machen.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich, lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt alle ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine, er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand, früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.

Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an, verlasse das Haus, fange am Waldrand an zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße, Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang, über achtzig ist sie schon, Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt, duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.
Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt auf dem Boden, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir, vielleicht rieche ich anders.


Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.

Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich............................

Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause, legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert, Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.


Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit.
Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles ist so plötzlich gekommen, alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden, die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mich anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Haus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.

Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

Ich kann fliegen...............
 

mitis

Mitglied
ein rasant geschriebener text, der mich vom ersten absatz an gefangen nahm. beeindruckend der ständige perspektivenwechsel, die monologe von ihm und ihr. am ende hatte ich das gefühl, beide "von oben" zu sehen - aus der vogelperspektive. und das passt dann wieder gut zum titel "fliegen". sehr schön!
lg mitis
 

MarenS

Mitglied
Kleiner Fehler:
Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie [red]mich[/red](mir anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.

Der Inhalt hat mich mehr erwischt als angenommen, zum deinem Text also wohl später mehr.

Maren
 

Retep

Mitglied
Fliegen........

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich, Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist!
Ich zögere, dauernd Vertretungsstunden, mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Ich halte vor unserem Reihenhaus, steige aus, im Vorgarten müsste man einiges machen.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich, lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt alle ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine, er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand, früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.

Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an, verlasse das Haus, fange am Waldrand an zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße, Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang, über achtzig ist sie schon, Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt, duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.
Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt auf dem Boden, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir, vielleicht rieche ich anders.


Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.

Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich............................

Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause, legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert, Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.


Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit.
Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles ist so plötzlich gekommen, alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden, die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mir anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Haus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.

Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

Ich kann fliegen...............
 

Retep

Mitglied
Hallo Maren,

ich hatte vergessen, auf dein Angebot einzugehen, den Text näher zu betrachten.
Ich freue mich über jede Kritik, über jeden Vorschlag.

Gruß

Retep
 
K

Kasper Grimm

Gast
Ein anrührender Text. Leise,in Alltagsklamotten sozusagen, kommt das Grauen herein, nistet sich ein, macht sich breit, errichtet die Diktatur über das Leben kleiner anständiger Leute und vernichtet: etwas, was jedem von uns jederzeit passieren kann (die Frau hat davon gelesen, es aber nicht wirklich nachvollziehen können - jetzt ereilt es sie selbst) - daher auch die beklemmende Atmosphäre: als wär's mein eigener GAU.
 
L

Larissa

Gast
Hallo Retep,

ein Meisterwerk, das da Deiner Feder entsprungen ist. Sehr einfühlsam hast Du Dich in beide Protagonisten hineinversetzt und aus der jeweiligen Perspektive berichtet.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Leser sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen "mitleidet"?
Ich glaube, so ist es im Leben immer. Es kommt einfach auf die Position an, in der man sich gerade befindet.

Ja, jetzt kann "Er" fliegen ... Und das ist gut so. Seine Frau muss ihn wirklich sehr, sehr geliebt haben!

Liebe Grüße
Larissa
 

Retep

Mitglied
Hallo Larissa,

über deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Vielleicht ein bisschen zu viel des Lobes!
Er kam gerade zur richtigen Zeit.
Die Geschichte wurde zum ersten Mal ziemlich negativ beurteilt:

- ich sei zwar der deutschen Sprache mächtig, was Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung angehe, die Idee sei gut,

aber:

- die sprachliche Umsetzung sei "mau, lau, flau", entspräche dem "Hausaufsatz eines Zehntklässlers",

- die Erzählung habe wenig "Abwechslung", nicht "stilvoll Eigenes" sei im Text zu finden,

- es handle sich um ein durchschaubares Strickmuster,

- die Protagonisten würden ihre Sätze "floskenhaft monologisch leiern"

- meine Ausführungen über die Krankheit des Protagonisten seien ein "schwammiges Produkt", ich hätte keine Recherchen gemacht. (Ich habe Recherchen gemacht und habe längere Zeit mit solchen Patienten zu tun gehabt!)

- usw.

Also nochmals vielen Dank, deine Beurteilung der Geschichte hat mich wieder ein bisschen "aufgerichtet".

Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag.

Gruß

Retep
 

Clara

Mitglied
Hallo Retep - ebenso schleichend wie die Krankheit kam,
ebenso schleichend beendet sie das Leben des Mannes - das hätte ich nicht erwartet.
Der Text war insofern gewöhnungsbedürftig, weil beide Perspektiven ohne irgendwelche Zwischenzeichen aneinandergesetzt sind. Ein * hätte genügt.
Insgesamt empfinde ich ihn als authentisch - will sagen: als möglich - und auch als einfühlsam.
Im ersten grossen Viertel fiel mir auf, dass es ziemlich viele Ich´s gibt. Vielleicht liesse sich daran noch etwas biegen?

Es gibt auch eine Stelle mit Herbstlaub und Katze - wo auch sie sich schon uralt fühlt. Da dachte ich schon, es geht Zuende mit ihm. Insofern - mir ist der Zeitablauf dieser Gesamtentwicklung damit irgendwie gestört worden. Aber nein - sie ziehen noch um ans Meer.... insofern kann ich mir auch kein Bild so recht machen, ob es sich hier um 20 Jahre handelt oder eher um 2-5.

Leseeindruck - nicht gepult geguckt. Sondern einfach nur gelesen und insges für gut befunden.
 

Retep

Mitglied
Fliegen........

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich, Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist!
Ich zögere, dauernd Vertretungsstunden, mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Ich halte vor unserem Reihenhaus, steige aus, im Vorgarten müsste man einiges machen.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich, lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt alle ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine, er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand, früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.

Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

*Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

*Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an, verlasse das Haus, fange am Waldrand an zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

*Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

*Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße, Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang, über achtzig ist sie schon, Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt, duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

*Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.

*Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt sich auf dem Boden umher, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir, vielleicht rieche ich anders.


*Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.
Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich............................
Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause, legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert, Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.


*Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit.
Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles ist so plötzlich gekommen, alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

*Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden, die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mir anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

*Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

*Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

*Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

*Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Haus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.

*Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

*Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

*Ich kann fliegen...............
 

Retep

Mitglied
Hallo Clara,

habe geändert, die Monologe der beiden Protagonisten durch * getrennt, wie du vorgeschlagen hast.

Die "Ich's" im ersten Viertel gefallen mir auch nicht so sehr, weiß aber nicht, wie ich das ändern könnte.

Gruß

Retep
 

Clara

Mitglied
ich kann dir da jetzt leider auch nicht helfen - da ich gleich abhebe in den Urlaub ...
gucke aber gern danach noch mal hin wenn ichs nicht vergessen habe.
Weglassen oder umstellen...

Ich hatte im Übrigen die erste Version gelesen - nicht die letzte -
 

Alo Isius

Mitglied
Lieber Retep,
Wer hatte da gleich spontan 'beeindruckender Text' geschrieben?
Hab's gefunden und geh mit Thys absolut in einer Spur.

Eine Frage nur: Wie vielen von den 'göttlichen' Besserwissern hast Du (gleich in drei Versionen) 'nachgegeben'?

Entschuldigung, aber das - erbsenzählend - zu recherchieren widerspräche meinem Naturell und meiner Erfahrung: meistens kommt sowieso nichts Besseres nach.

Darum mein ehrlichst möglicher und spontaner Applaus für die ursprüngliche und ergreifende Kurzgeschichte von dem beklagenswerten Paar, von denen 'nur' einer erlöst wurde: ich kann fliegen... Unhappy Happyend und abgeblend't?
Na und sie?
Was ich dazu noch zu sagen habe, kann - obwohl tröstlich gemeint - nur überflüssig sein und leicht als ...hm... zynisch missverstanden werden. Sag ich mal ganz vorsichtig so:
Auch sie wird fliegen lernen müssen, um erlöst zu sein oder sich trösten lassen müssen von wer-weiß-wem.

Aber das wär nun wieder eine ganz andere Geschichte... und/oder Stoff, aus dem füher fröhliche Witwen-Operetten librettisiert wurden oder heute Entwicklungs-Romane für ältere Damen zusammengehäkelt werden - nicht viele, nur viel zu viele...

Dein gerührter*
Alo Isius

PS Das *-chen soll zufälligen Mitlesern sagen:
AI mag's gerührt, nicht geschüttelt.
 

MarenS

Mitglied
Es hatte der Sternchen nicht bedurft, wenn man aufmerksam liest...und diesen Text liest man aufmerksam oder besser gar nicht.
Wenn du meinst die "ich" zu Beginn umstellen zu müssen, kannst du es vielleicht so in die Tat umsetzen:
"Ich zögere, dauernd Vertretungsstunden, mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, erkläre mich aber dann doch dazu bereit."
Mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, dauernd Vertretungsstunden, deshalb zögere ich, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.

oder hier:
"Ich halte vor unserem Reihenhaus, steige aus, im Vorgarten müsste man einiges machen."
Im Vorgarten müsste man einiges machen, wird mir bewusst, als ich vor unserem Reihenhaus aussteige.

Grüße von Maren
 



 
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