Flucht in die Digitalisation

philipp

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„Jetzt bist Du natürlich sauer auf mich“, sagte er, in der Hoffnung, dass es nicht stimmte.
„Na ja – Ich finde es nur irgendwie komisch“, sagte sie.
„Was denn?“ fragte er, den Telefonhörer gelangweilt von einem Ohr zum anderen wechselnd.
„Na, dass Du heute schon wieder keine Lust hast, wegzugehen, natürlich!“
„ich bin halt müde“, sagte er und gähnte, wie als Beweis seiner Aussage.
„Aber letzten Freitag, und den Freitag davor, da warst Du auch schon müde. Oder eben nicht in Stimmung. Was auch immer.“ Sie klang mittlerweile sehr enttäuscht.
„Ich bin Freitags selten in der Stimmung, wegzugehen, das weißt Du doch. Die letzten Monate, ach was, eigentlich schon seit dem ich in dieser Stadt wohne, gehe ich hauptsächlich Samstags weg. Ich bin Freitags einfach zu müde, um wegzugehen, und Leute zu treffen.“
„Ja, klar. Aber wir haben uns nun schon eine Woche nicht gesehen, da dachte ich, du würdest Dich auch freuen, mal wieder was zu machen!?“
„Daran liegt es nicht – ehrlich. Natürlich würde ich mich freuen. Aber ich bin eben zu müde, und wäre sicherlich kein angenehmer Zeitgenosse. Ich möchte am liebsten einfach nur hier vor dem Computer rumgammeln. Ich will nicht mehr weggehen. Ich möchte einfach nicht mehr irgendetwas müssen, ich möchte nicht in einer Disko herumstehen müssen, oder mich unterhalten müssen. Ich möchte am liebsten überhaupt keine wild daherblitzenden Reizen mehr aufnehmen müssen! Ich bin einfach zu müde dafür. Das hat nichts damit zutun, ob ich Dich noch mag, oder nicht. Ich mag Dich immer noch!“ fügte er, fast ein wenig zu hastig, hinzu.
„Ich weiß nicht. Es kommt mir trotzdem komisch vor“ maulte sie.
„Du weißt doch, dass ich die ganze Woche über nur mit irgendwelchen Leuten kommunizieren muss, ständig nur Probleme lösen muss, und schon an normalen Wochentagen abends total müde und unkonzentriert bin. Und Freitags, zum Wochenende, will ich einfach nur entspannen.“

Stille.

So schwiegen sie sich in letzter Zeit häufiger an. Teilweise mehrere Minuten lang.
„Vielleicht sollten wir in der nächsten Zeit nur noch Samstags weggehen – Freitags bin ich halt zu müde“, sagte er nach einer Weile.
Direkt vor ihm flimmerten der Computerbildschirm und der Fernseher, meistens hatte er beides zur gleichen Zeit angeschaltet.

„Oder zumindest sollten wir uns gegenseitig ein wenig mehr Freiraum geben“, fügte er hastig hinzu, als er begriff, wie das soeben Ausgesprochene in ihren Ohren klingen musste.

Er tippte schnell eine kurze Antwort auf eine ICQ Message eines Kumpels in Hamburg und machte das Programm wieder zu, da er sich sonst nicht auf das Telefonat mit ihr konzentrieren konnte. In letzter Zeit machte er immer irgendetwas nebenher, wenn er telefonierte. Entweder surfte er im Internet, oder er zappte im Fernsehen herum, oder er lief durch die Wohnung und räumte irgendetwas auf. Irgendetwas halt. Aber auf die Telefongespräche alleine konnte er sich selten konzentrieren.

„Du tippst doch schon wieder an Deinem Computer herum, oder? Kannst du nicht einmal richtig zuhören?“
„ich wollte nur eben schnell mal...“
„ach - es ist immer nur einfach schnell mal irgendetwas – aber nie hörst Du mir zu“ fauchte sie.
Diese ewig mitschwingende Anklage – in allem was sie sagte – nervte ihn unsäglich. Er starrte auf den Monitor und öffnete nebenbei seinen Internet-Browser.

„Aber wir müssen doch auch gar nicht wirklich weggehen. Wir können doch auch einen Video schauen. Ich finde halt einfach nur, dass wir uns viel zu selten sehen. Wir könnten doch zum Beispiel auch ins Kino gehen?“ Sie versuchte es nun mit anderen Argumenten.

Leider hatte sie in gewisser Hinsicht recht: Wenn sie einen Video schauten oder ins Kino gingen, dann könnte er sich einfach zurücklehnen und müsste sich nur vom Film berieseln lassen. Und sie könnten den Abend trotzdem miteinander verbringen.

Er stand auf, drehte den Ton vom Fernseher ganz aus (es lief leise nebenher Big Brother – eine seiner Lieblingsshows) und drehte eine Runde in seiner Wohnung. Ohne diese schnurlosen Telefone würde er nicht mehr leben können.
„Ach ich weiß nicht. Da laufen momentan eh nicht so gute Filme. Außerdem habe ich auch keine Lust.“
„Warum denn nicht? Warum bloß nicht?“

Er schwieg und drehte weiter seine Runden durch die Wohnung. Nun stand er in der Küche.
„An was denkst Du gerade jetzt?“ fragte sie, als ob das für sie momentan wirklich wichtig wäre, als ob das nun eine Rolle spielen würde.
Mittlerweile war er auf der Runde durch die Wohnung in der Küche angekommen. Vor dem seit einer Woche angesammelten Berg dreckigem Geschirr stehend, dachte er sarkastisch: ‚woran ich denke? Eigentlich denke ich, ich sollte heute endlich mal den Abwasch machen. Und ich denke, man kann Frauen eben doch nicht immer sagen, woran man gerade denkt.’
„Gar nichts. Ich bin einfach müde“ war daher seine Antwort. Eine typische Antwort auf solch eine Frage, wie er immer wieder vorgeworfen bekam.

„Also ehrlich, ich finde wir sehen uns viel zu selten – wir wohnen in der gleichen Stadt, arbeiten sogar in der gleichen Firma...“
„...in ganz verschiedenen Etagen...!“
„...OK, OK, aber dazwischen liegt auch nur ein Stockwerk. Und außerdem könnten wir viel öfter mittags zusammen essen gehen...“
„...Du weißt doch, daß ich oft mittags nicht aus dem Haus kann, weil ich meistens Meetings habe...“
„...stimmt doch gar nicht, mit Deinen Kollegen gehst Du trotzdem oft zum Vietnamesen...“
„...es ist aber auch meine einzige vernünftige Mahlzeit am Tag – da möchte ich schon gerne richtig essen gehen. Warum gehen wir denn nicht mal zusammen zum Vietnamesen, Thai oder Portugiesen? Die sind alle viel näher an der Agentur dran als die Bäckerei, wo Du immer die belegten Brötchen kaufst!“ Langsam verzettelte er sich. Diese Gesprächsrichtung war pures Glatteis.
„Ach komm. Du weißt genau, dass ich mir das, mit den paar Mark pro Monat, die ich als Diplomandin bekomme, nicht leisten kann!“
„Ich weiß“. Er hatte noch nie daran gedacht, sie in der Mittagspause mal einzuladen.

Langes Schweigen.

„Also wie gesagt, wir wohnen in derselben Stadt, und sehen uns trotzdem nur einmal die Woche. Das ist doch nicht normal. Unter der Woche bist du zu müde, am Wochenende aber auch.“

Schweigen. Langes, zähes Schweigen.

„Triffst Du Dich vielleicht mit einer anderen?“
„Nein... – Nein! Ganz sicherlich nicht!“ Seine Antwort kam zu hastig, merkte er. Obwohl er tatsächlich nicht fremdging, hatte er unbewusst das Gefühl, als ob er einen berechtigten Vorwurf entkräften müsste.

„Hmm...“. Eine deutliche Reaktion auf seine unbefriedigende Antwort.

Er musste jetzt noch irgendetwas sagen, um dieser ungünstigen Gesprächsrichtung entgegenzuwirken.
„Ich sehe wirklich niemanden sonst! Ich brauche diesen Freiraum einfach für mich selbst“. Das sagte er, ohne dass er sich sicher war, ob Frauen solche Dinge überhaupt noch glauben.
„Freiraum – den hast Du doch schon mehr als genug! Wir sehen uns so gut wie gar nicht mehr!“ Ihr Lachen klang jetzt sehr zynisch. Natürlich hatte sie irgendwo recht, aber er hatte nun mal auch sehr wenig Freizeit.
Es wurde ihm langsam klar, daß dies eines der letzten Male sein würde, an dem sie miteinander sprechen würden. Und er war sich allmählich sicher, daß sie es auch akzeptierte. Wenn auch nicht freiwillig. Aber das war ihm egal.

„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir uns wirklich für eine Weile nicht mehr sehen?“ schlug sie vor.
Eine Steilvorlage. Eine günstige, aber sehr gefährliche Steilvorlage. Wenn er jetzt das Falsche sagte, dann war nicht nur die Beziehung zuende, sondern dann produzierte er auch ein nicht gerade freundlich gesonnenes Klatschmaul, das in der Firma mehr Dinge über ihn zu erzählen wusste, als ihm lieb war. Und das beunruhigte ihn fast noch mehr.

Aus Verzweifelung sah er wieder auf seinen Computermonitor. soeben hatte er eine Message von einer seiner Freundinnen von einer der Single-Communities bekommen. Bei dieser Single-Community kannte er mittlerweile mehrere Frauen, mit denen er sich regelmäßig Emails schrieb. Die Pflege dieser Kontakte machte ihm Spaß. Es waren unverbindliche, lockere Kontakte, mit denen er ein wenig per Email flirten konnte. Aber eben nur, wenn er Lust dazu hatte. Manchmal nahm er sich über eine Woche Zeit, bevor er auf eine Frage antwortete. Einige Kontakte waren auf diese Weise schon abgebrochen. Aber es gab ja so viele weitere Kontaktmöglichkeiten – es kam nicht wirklich darauf an, den Kontakt zu einem speziellen Flirt zu pflegen.

„Hallo? Bist Du noch da?“ fragte sie.
Er musste sich wieder auf das Telefongespräch konzentrieren.
„Ja. Ja natürlich bin ich noch da. Ich habe gerade über das, was Du gesagt hast, nachgedacht,“ log er. Was sie davor alles gesagt hatte, wusste er nicht genau, da er in dem Moment gerade dabei gewesen war, die Message von seinem Email-Flirt zu lesen.

„Also echt. Manchmal habe ich das Gefühl, Du hörst mir wirklich nicht zu!“
„Doch, Doch“
„Also?“
„Was also?“
„Oh Mann! Du hast ja doch nicht zugehört!“ zickte sie.
„Ob wir uns eine Weile nicht mehr sehen? Tja – ich weiß nicht.“
„So kann es jedenfalls nicht mehr weitergehen!“ In ihrem Ton lag mittlerweile sehr große Ungeduld. Wenn er dies nicht abbog, dann würde es eine Art Explosion geben, das spürte er.

„Vielleicht hast Du recht“, tastete er sich vor, „und wir sollten uns für eine Weile echt eine Pause gönnen“.
„Wie meinst Du das? Gönnen? Wieso Gönnen? Ich glaub ich wird verrückt – was bist Du doch für ein widerlich eingebildeter Scheißkerl? Und überhaupt: so schön war es nun auch wieder nicht mit Dir. Ich glaub ich spinne: Gönnen! Hau doch ab! Verpiss Dich!“

Er hörte, wie sie den Hörer auf die Gabel feuerte. Ihm gingen die letzten Worte noch einmal durch den Kopf, während er immer noch mit dem schnurlosen Telefon durch die Wohnung ging. Diese Beziehung war anscheinend vorbei.

Er stellte den Ton vom Fernseher wieder lauter, und setzte sich vor seinen Computer. Hier fühlte er sich wohl. Hier im Internet gab es keine Verpflichtungen, alles war unverbindlich. Man musste nicht über Dinge reden, über die man nicht reden wollte. Zur Not antwortete man einfach nicht auf eine Email. Man kannte die Leute am anderen Ende sowieso nicht, und lernte sie auch selten genug im wirklichen Leben kennen.

Es waren wieder neue Emails aus den Single-Communities eingetroffen, die er sofort beantworten wollte. Er fing gleich mit großer Begeisterung an, die ersten Antworten zu verfassen, und stellte sich vor, was es wohl für Frauen sein könnten, die ihm diese Emails schrieben.
 

Zefira

Mitglied
Das gefällt mir! Richtig aus dem Leben gegriffen, herrlich formuliert und sehr geschickt zugespitzt. Dieser Mensch, der beim Telefonieren ununterbrochen hin- und herläuft, Fernsehen guckt, Mails beantwortet... und zugleich so vollkommen unerreichbar ist. Schön auch, daß der Text ganz aus seiner Sicht erzählt ist.
Einziger Kritikpunkt (kann es sein, daß ich schon mal eine ganz ähnliche Kritik auf einen Deiner Texte geäußert habe, Philipp?)- der vorletzte Absatz ab "Hier im Internet..." faßt zusammen und moralisiert herum. Würde ich streichen. Das weiß jeder sowieso, der bis dahin gelesen hat.
Ach, und noch etwas: Das "... in der Hoffnung, daß es nicht stimmte" im ersten Satz scheint mir auch nicht passend. Kurz darauf heißt es dann, daß er sich langweilt. Ich kann ihm diese Hoffnung nicht so recht abnehmen, mir kommt er eher ziemlich gleichgültig vor.
Ließe Grüße,
Zefira
 

philipp

Mitglied
Hallo zefira,

stimmt, Du hast schon mal solch eine Anmerkung gemacht. Anscheinend habe ich für moralisierende Absätze etwas übrig :)
Dein zweiter Einwand ist durchaus berechtigt, ist mir selbst noch nicht aufgefallen. Wahrscheinlich sollte ich das wirklich rausnehmen, denn das glaubt ihm ja sowieso keiner.

gruss,
philipp.
 



 
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