Flughafen Alcatraz

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HaraldAlexa

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Flughafen Alcatraz

\"Flieger grüße mir die Sonne\", dröhnt es in einer Punkversion aus den Lautsprechern des CD-Shops. Das Mädchen vom Zuckerlgeschäft verdreht die Augen und schiebt sich missmutig die Ohrstöpsel in den Gehörgang. Raucher schmoren pofelnd in der viel zu kleinen Selchkammer vor sich hin.

Die kleine Angestellte darf sich kurz von ihrer schweren Eisenkugel losmachen, die an ihr Fußgelenk gekettet ist und verlässt das Sklavenschiff in Richtung Toilette. Am Damenklo wartet geduldig eine lange Schlange Frauen, bis sie von den viel zu wenigen Sitzgelegenheiten abgefertigt werden kann. Danach beäugen sich die Damen gegenseitig im Spiegel und werfen sich neidische Blicke zu. \"Türe zu!\" ruft eine Frau im Frankendialekt in Richtung Männerklo, wo die Türe immer offen steht, damit sich der beißende Uringestank besser verflüchtigen kann.

Der Mann von der Sicherheitskontrolle schenkt dem Mädchen vom Zuckerlgeschäft die CD \"Best of Lovesongs\". Sie freut sich, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und küsst ihn liebevoll auf die Wange. \"Ausweis, E-Card!\" verlangen die Beamten von der Finanzbehörde auf ihrer Suche nach illegalen Arbeitskräften. Die Kellnerin aus der Ukraine versteckt sich am Behindertenklo.

Das Behindertenklo ist das Asyl am Flughafen Alcatraz. Dorthin kommt keine Finanzbehörde, kein launischer Vorgesetzter und selbst der Haschhund Ronnie, ist aufgrund der zahlreichen \"Düfte\" restlos verwirrt. Das Behindertenklo ist sauber und großräumig. In der Ecke steht ein Babywickeltisch.

Der Chef stampft herein und keift: \"Um 5.000,- Euro ist der Umsatz gegenüber dem Vormonat gesunken. Ich schau mir das noch zwei Monate an, dann schließe ich den Laden und ihr könnt stempeln gehen!\"

Ich schaue hinüber. An der Kassa des Zuckerlgeschäfts steht ein Schild \"Komme gleich\", und ich weiß, dass das Mädchen vom Zuckerlgeschäft jetzt auf dem Wickeltisch liegt und sich ein paar Momente des Glücks mit ihrem Freund von der Sicherheitskontrolle gönnt. Dann kehrt sie wieder auf ihren Arbeitsplatz zurück. Dorthin, wo der Profit alles und der Mensch der ihn erwirtschaftet nichts wert ist. Am Flughafen Alcatraz.
 

Wipfel

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Hi HaraldAlexa,

sauberer Einstand. Respekt! Mir gefällt es und ich freue mich auf mehr von dir!

Grüße von wipfel
 

heini

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Ist eigentlich keine Kurzgeschichte - vielleicht Kurzprosa.
Ein "Zuckerlgeschäft" gibt es in Wien, aber sicher nicht am Flughafen Alcatraz. Ein Chef wird dort auch nicht keifen, sondern das macht man an der Bassena in Wien.
 

Rote Zora

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Hallo HaraldAlexa!

Ich kann mich nicht entscheiden, irgendwie empfinde ich deinen Text sehr zweischneidig.

Einerseits tut`s meinem Ego nicht so gut, wenn es direkt im ersten Absatz mal schnell googlen gehen muss (Bildungslücke "Selchkammer" - mea culpa), andererseits kriege ich zum Ende hin eine Vorstellung von der Trostlosigkeit, die an einem solchen Ort wohl herrschen muss.

So ganz bekomme ich keinen Zugang zu deinen Worten, aber irgendwie hab ich das Gefühl, das könnte an mir liegen - muss das glaub ich später nochmal lesen ...

Bis dahin liebe Grüße,
Zora
 

HaraldAlexa

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Hallo Zora!

Der Text ist natürlich total zweischneidig. Es geht darum, dass dort Menschen arbeiten, die fast wie Roboter funktionieren müssen. Wo jede menschliche Regung in den Augen der Profitgeier, nur Zeitverschwendung ist. Aber das Pärchen steht für die Hoffnung, dass man auch unter widrigen Umständen ein wenig rosarot sehen kann.

Selchkammer = Raucherzimmer

Liebe Grüße
Harald
 

Rote Zora

Mitglied
Hallo Harald!

Inzwischen habe ich deinen Text noch ein paar Mal gelesen und kann mir das ganze Geschehen auch deutlich besser vorstellen, als gestern - wirklich hineinleben kann ich mich aber nach wie vor leider nicht.

Vielleicht liegts am "Zuckerlgeschäft", dem fränkischen Dialekt, dem Fliegerlied oder der Selchkammer (die Tante Google mir gestern sofort erklärt und mich somit einer Bildungslücke beraubt hat! ;)) - ich kanns nicht genau sagen, aber an deinem Flughafen lenkt mich einfach zu Vieles ab, als dass ich die eigentliche Absicht hinter deinen Zeilen von allein erkannt hätte - was allerdings nicht an dir liegen muss ...

Vielleicht sehe ich auch einfach nur kleine Ruderboote oder Fähren durch die Bucht von San Francisco schippern und kann die Worte Alcatraz und Flughafen deshalb nicht unter einen Hut bringen, auch möglich.

Den Sinn hinter deinem Text finde ich allerdings sehr schön, es gibt IMMER Hoffnung, immer ...

Ganz liebe Grüße,
Zora
 

HaraldAlexa

Mitglied
Hallo Zora!

Flughafen Alcatraz ist ein Zwiespalt. Mit Flughafen assoziieren die Menschen in der Regel Urlaub, Reisen etc., mit Alcatraz ein Gefängnis. Für die Reisenden bedeutet es Wohlgefühl, für die die dort arbeiten, ist es ein Gefängnis, mit Überwachungskameras, die festhalten wieviele Minuten du am Klo sitzt etc.

Ganz liebe Grüße

Harald
 



 
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