Frank W. stellt sich in Frage

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Walther

Mitglied
Frank W. stellt sich in Frage


Als Frank W. morgens in seine Firma kommt, erwartet ihn eine weniger erfreuliche Nachricht. Er solle doch kurz vor Mittag zur Chefin kommen, wird ihm ausgerichtet. Die Kollegin, die das Vorzimmer der Abteilungsleiterin bewacht, macht das mit einer gewissen Süffisanz in der Stimme. Frank W. weiß, dass das nichts Gutes verheißt.

Seit die Firma verkauft worden ist und die neuen Leute die Kontrolle übernommen haben, ist alles anders geworden. Die familiäre Stimmung, der freundliche Umgang, der offene Führungsstil, das war einmal.

Auch die Chefin ist neu eingestellt worden vor einem halben Jahr. Frank W. ist der letzte aus der alten Truppe in seiner Abteilung, der noch eine Leitungsfunktion hat. Die anderen sind entweder nicht mehr da oder versetzt. Ihm ist immer bewußt gewesen, dass auch er demnächst drankommt. Heute ist es nun soweit. Lang genug hatte es gedauert.

Er ordnet die Papiere auf seinen Schreibtisch und bekämpft das Aufkommen einer ängstlichen Spannung mit tiefem Durchatmen. Danach ruft er sein Team zusammen und geht die Projekte noch einmal durch. Er ist ein Pflichtmensch. Wenn er schon gehen müssen sollte, dann ordentlich. Sein Stolz lässt Anderes nicht zu. Auch wenn er weiß, dass das eigentlich dumm ist, aber lieber heute von gestern als morgen ohne Ehre im Leib. So ist er nun einmal gestrickt.

Er macht seine Anrufe von der Checkliste. Es muss ja weitergehen, Politik hin oder her. Die Kollegen, die Produktion erwarten, dass im Verkauf die Aufträge geholt werden, die man braucht, damit die Fertigung ausgelastet ist. Von nichts kommt nichts, sagt man so schön. „Wenn wir keine Aufträge heranholen, wer sonst?“, denkt er bei sich. Die Lage ist besser geworden in den letzten Wochen, aber die Zahlen stimmen immer noch nicht, sagt die Chefetage. „Sie müssen einfach mehr bringen!“, sagt die neue Vertriebschefin, „machen Sie Ihren Leuten draußen Beine!“

Die hat gut reden, sagt sich Frank W. Wenn wir nicht die richtigen Produkte haben und nichts investieren, wenn wir die Kunden in ihren Fragestellungen nicht ernstnehmen, dann kann es nicht nachhaltig werden. Er weiß, wovon er spricht. Er macht das jetzt seit zehn Jahren, und immer hatte er die besten Ergebnisse, besser als alle Kollegen. Deshalb war er wohl auch der Letzte der Aufrechten. Der Preis war teuer genug gewesen: Frau weg, Haus weg, Freunde weg. Alles wegen der verrückten Überstunden und der vielen Reisen.

Als es Zeit wird, steht Frank W. auf und geht gefasst zum Zimmer der Abteilungsleiterin. Die Assistentin bietet ihm einen Stuhl an und murmelt, er müsse noch warten. Frank W. hört eine laute Auseinandersetzung, dann geht die Tür auf und sein neuer Teamleiterkollege Müller stürmt wutentbrannt an ihm vorbei, die Tür ins Schloss stoßend, ohne einen Blick zu verlieren. Frank W. ist fast ein wenig geschockt und bekommt feuchte Hände.

Nach einer gewissen Zeitspanne geht die Tür erneut auf, und er wird freundlich hereingebeten, als wäre nichts gewesen. Er folgt der Aufforderung und nimmt auf dem angebotenen Stuhl am Besprechungstisch Platz.

Er sieht seine Akte offen liegen mit einigen handschriftlichen Notizen auf dem letzten Personalbewertungsbogen. „Herr Walther, wir kennen uns nun seit sechs Monaten.“, wird das Gespräch begonnen. Der Ton ist geschäftsmäßig. „Seit unser Unternehmen in neuer Hand ist, hat sich einiges geändert.“ Der Satz ist wie eine offene Frage formuliert, fast eine Aufforderung zum Tanz.

Frank W. geht auf das Angebot zu einer Replik nicht ein. Er hat sich entschlossen, erst einmal abzuwarten, was nun kommt, beim ersten Personalgespräch. „Wie Sie wissen, ist der Absatz in Ihrem Produktsegment seit längerem nicht zufriedenstellend. Die vorgegebenen Zahlen sind nicht erreicht. Wir haben zwar einen leichten Zuwachs in den letzten beiden Monaten, und der Auftragseingang zieht an. Dennoch kann das so nicht bleiben. Was ist Ihr Vorschlag?“

Frank W. schaut von seinen Notizen auf, er ist wie immer gut vorbereitet. „Unsere Kunden beschweren sich seit einigen Jahren zunehmend über die Qualität unserer Produkte. Ebenso halten sie uns vor, dass uns der Wettbewerb technisch so nahe gekommen sei, dass die Preisdifferenz nicht mehr gerechtfertigt ist. Wir müssen mehr in die Entwicklung und den Service, mehr in die Qualität unserer Produkte investieren, anstatt noch mehr zu sparen.“

„Das verhilft aber nicht zu besseren Verkäufen heute, wir brauchen die Umsätze jetzt!“ kommt die kühle Klarstellung postwendend. Er sieht wieder auf seine Notizen, dreht die Tabelle herum. „Sehen Sie, das sind alles Kunden, die wir in den letzten beiden Jahren verloren haben. Meine Leute draußen tun ihr Bestes, ich habe alle Kunden mehrfach besucht, habe – wo es ging - nachverhandelt, hier und da ein wenig am Preis gedreht, dort kostenlosen Service geleistet. So kommen wir nicht weiter!“, legt er dar.

„Ich muss annehmen, dass Sie mir sagen wollen, Sie könnten angesichts der Umstände gerade keine besseren Zahlen liefern. Nun gut, das habe ich erwartet. Ich darf Ihnen daher mitteilen, dass die Geschäftsleitung mich beauftragt hat, Ihnen zum Ende des Quartals einen Aufhebungsvertrag anzubieten. Hier ist das Angebot, den Empfang quittieren Sie bitte hier.“ Der Ton ist immer noch geschäftsmäßig, das Gesicht, zurückhaltend geschminkt, lässt kein Mitgefühl erahnen. Die grauen Augen hinter der Brille mustern ihn wenig interessiert.

Unter normalen Umständen wäre ein Mensch jetzt vom Donner gerührt, denkt er bei sich, nimmt das Formular, zückt den Kugelschreiber mit dem Firmenemblem und unterschreibt. Er ist es nicht. Normalerweise wäre hier ein Gefühlsausbruch angezeigt. Er bekommt keinen. Das kam ja mit Ansage. Er nimmt das fast gelassen hin, wie eine selbstverständliche Alltäglichkeit, wie sie es exekutiert. Ihn exekutiert.

„Sie sind ab sofort von Ihren Aufgaben freigestellt.“, sagt sie. „Meine Assistentin geht mit Ihnen und übernimmt Ihren Schreibtisch, Ihren Ausweis und Ihren Dienstfahrzeugschlüssel sowie Ihren Blackberry.“ Er steht gemessen auf, greift sich die Papiere und sein Notizbuch. „Guten Tag!“ verabschiedet er ruhig und wie abwesend, als er sich zur Tür aufmacht. Mit der Süffisanz des Morgens sagt die Assistentin, als er an ihr vorübergehen will: „Warten Sie, Herr Walther, nicht so eilig, ich begleite Sie.“

Als er alles übergeben und sich bei seinem Team verabschiedet hat, begibt er sich zum Eingang hinunter. „Auf Wiedersehen, Frau Peter!“, sagt er zur Empfangsdame. „Sie auch?“, antwortet diese nur. Frank W. nickt. Er auch. Ja, in der Tat, auch er.

Als er in die Stadt kommt, ist es erst um die Mittagszeit. Der Frühlingstag ist warm und einladend. Er setzt sich in ein großes Straßencafé und bestellt sich eine Latte Macchiatto. Und zum ersten Mal in seinem Leben, zum allerersten Mal, stellt Frank W. sich in Frage.

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Das Gedicht zum Beitrag: http://www.leselupe.de/lw/titel-Umsatz - dritte Version - neu eingestellt-82431.htm
 

Haremsdame

Mitglied
zeitgemäß

Hallo Walther,

das ist ein sehr zeitgemäßer Text. So wie Deinem Protagonisten ist es in den letzten Jahren vielen ergangen und es würde mich nicht wundern, wenn immer noch viele Angst haben davor...

Mir gefällt Deine Umsetzung des Themas: kein Lamentieren, sondern einfach eine Schilderung, die mehr als genug Gefühle freisetzt.

Eine winzige Kleinigkeit ist mir aufgefallen:
Normalerweise wäre hier ein Gefühlsausbruch angezeigt. Er bekommt [red][strike]es[/strike][/red] keinen.
Viele Grüße
Haremsdame
 

Walther

Mitglied
Hallo Haremsdame,

herzlichen Dank für Deine lobenden Worte. Das ist meine dritte Kurzgeschichte, die ich schreiben und veröffentliche. Daher freue ich mich sehr über diese Einschätzung, die natürlich viel Mut macht.

Ich habe Deinen Fehlerhinweis gleich aufgegriffen und ihn beseitigt. Außerdem habe ich einige Wortwiederholungen (gehen und sagen) etwas umformuliert. Das merkt man eben erst beim vierten Mal durchlesen ein paar Tage später. Woraus man erkennen kann, warum wohl alle Autoren einen Lektor brauchen - solche "Macken" übersieht man doch zu gerne.

Mir ist diese lakonische und nüchterne Art der Sprache wichtig. Sie läßt dem Leser den Raum, sich selbst in den Protagonisten hineinzufühlen und überfrachtet ihn nicht mit eigenen Einschätzungen. Sie schafft außerdem Raum für eine Beschreibung der Situation, die ein Gesamtbild ermöglicht.

Trotzdem, so hoffte ich und sehe mich gerade durch Dich ein wenig bestätigt, bleiben die Figuren nicht flach, sondern gewinnen durch das Hineinfühlen des Lesers die Tiefe, die sie brauchen.

Vielen Dank nochmals und alles Gute. Mal sehen, was Frank W. noch so alles erlebt, einige Konzepte sind schon da, andere im Werden.

Liebe Grüße W.
 

HerbertH

Mitglied
Hallo Walther,

ein Super-Text. Einzig am Schluß, da war es ein wenig abrupt zuende.
Vielleicht kann man da noch etwas ausführlicher den Übergang in die Selbstkritik schildern.

Herzliche Gruesse

Herbert
 

Walther

Mitglied
Hallo Herbert,

danke für Deine lobende Erwähnung des Texts. Kurzgeschichten sind Neuland für mich. Daher weiß ich nicht so recht, wie ich mich einordnen soll. Jeder Hinweis, ob positiv oder negativ, ist deshalb gern gesehen (und gelesen).
Einzig am Schluß, da war es ein wenig abrupt zuende.
Der Text sollte, so war die Absicht, an dieser Stelle enden. Der Selbsterkenntnisprozeß selbst ist zu komplex, wie auch die Ursachen eines individuellen Scheiterns, das immer auch ein allgemeines Scheitern in sich trägt. Daher wäre der Text überladen (und auch viel länger geworden). Es wird weitere Stories zu Frank W. geben, eine wird sich vielleicht mit dem Prozeß der Selbstkritik, mit der Verarbeitung der Niederlage beschäftigen, vielleicht - und das ist wahrscheinlich - wird eine Kurzgeschichte dazu aber nicht ausreichen.

Liebe Grüße

W.
 
K

Kultakivi

Gast
Hallo Walther,

ein aktuelles Thema atmosphärisch gut verdichtet rübergebracht, Realistisch aufgearbeitet, wie ich meine.
Auf dem von Floskeln wie Bündelung von Ressourcen, Prozessoptimierung oder auch Controlling gesäumten Weg zur Globalisierung ist der Wirtschaft der entscheidende Eckpfeiler bei jeder Entwicklung, der Mensch, aus den Augen geraten. Ohne diesen stürzt jedoch bedauerlicherweise jedes Gebäude irgendwann einmal ein. Bei allem was wir tun, geht es doch letztlich neben der Erhaltung der Arten udn der Umwelt primär immer um eines: Den Menschen. Seltsam, dass diese Tatsache so stur ignoriert wird.
Was Frauen als Führungskräfte angeht, habe ich auch so meine Zweifel. Es gibt ganz ausgezeichnete Kolleginnen und auch schlechte (wie bei Männern). Insgesamt gesehen muss ich aus eigener Erfahrung jedoch sagen, dass Frauen häufig versuchen, die besseren Männer zu sein. Vielleicht ein Fehler unseres Systems, den die Frauen während ihres Ganges durch die Hierarchien bedauerlicherweise immer wieder machen. Damit jedoch geben sie ihr wichtigstes Pfund aus der Hand, die Sozialkompetenz. Wenn sie die nicht mehr haben,sind sie aber die eindeutig schlechteren Führungskräfte.

Du schreibst gut. Logisch aufgebaut. Spricht den Leser an.
Einen sprachlichen Fehler meine ich zu Beginn des 12. Absatzes entdeckt zu haben. "Das hilft aber nicht zu besseren Verkäufen heute" Ich denke, es sollte heissen: "Das trägt aber nicht zu besseren Verkäufen bei" bzw. in der Art.

Gruss

Kultakivi
 
P

Pete

Gast
Hallo Walter,

Du hast auf behutsame Weise eines der herausragendsten Themen unserer Zeit umgesetzt. Wirklich überrascht hat mich Dein Schluss. Er nähert sich auf leisen Pfoten und schlägt dann erbarmungslos zu:

Als er in die Stadt kommt, ist es erst um die Mittagszeit. Der Frühlingstag ist warm und einladend. Er setzt sich in ein großes Straßencafé und bestellt sich eine Latte Macchiatto. Und zum ersten Mal in seinem Leben, zum allerersten Mal, stellt Frank W. sich in Frage.
Das kann man nicht besser formulieren!

So hat sich bei mir eine ungeahnte Wirkung eingestellt. Was muss uns zustoßen, damit wir bereit sind, uns selbst in Frage zu stellen.

Anfangs hatte ich ein paar Probleme, in die Geschichte einzutauchen. Aber mit diesen stilistischen Dingen belange ich Dich nur auf ausdrücklichen Wunsch.

Es bleibt der Eindruck einer wunderbar nachdenlich machenden Geschichte.

Grüße

Pete
 

Walther

Mitglied
Hallo Kultakivi,

danke für Deine lobenden Worte. Es ist in der Tat eine der schlimmsten Erfahrungen, Entscheidungen fällen zu müssen oder an sich gefällt zu erleben, die Mitmenschen zu Funktionen machen. Sie, diese Erfahrungen, sind ein hoher Preis, den wir bezahlen für Wohlstand, Globalisierung, erbarmungslose Effizienz.

Der Satz, den Du monierst, er ist ein wenig flapsig, das stimmt. In der Tat könnte man daran etwas ändern. Vielleicht könnte man die Formulierung so verändern:
... Das [blue]ver[/blue]hilft aber nicht zu besseren Verkäufen heute ...
Ich habe das gleich einmal im Text oben so getan.

Hallo Pete,

danke für Deine mutmachenden Hinweise. Ich habe nichts dagegen, mir Deine stilistischen Vorschläge machen zu lassen, im Gegenteil. Wie sollte ich sonst dazulernen.

Vielmehr wäre dafür noch dankbarer, als für Dein Lob, ehrlich gesagt. Wenn Du also dazukommst, die Tips aufzuschreiben, würde ich mich freuen und geehrt fühlen.

Alles Gute an Euch beide und viele sonnige Grüße

W.
 
P

Pete

Gast
Kritik im Allgemeinen und im Besonderen!

Hallo Walther,

hier im Forum suche ich mir inzwischen aus, wen ich mit meiner Kritik "beglücke". Einige haben sich schon "angepisst" gefühlt, wie ich es wagen kann, sie zu verbessern. :)

Die Leselupe wird anscheinend vielfach als Veröffentlichungsforum gesehen, was ich - persönlich - als zu wenig empfinde. Ich habe deshalb vorübergehend aufgehört, eigene Texte einzustellen, mit wenigen Ausnahmen, wie die Schreibaufgabe (kann nicht widerstehen!). Derzeit probiere ich hier die Textwerkstatt aus, aber das ist ein anderes Thema.

Wenn ich ein Buch lese - egal von wem - dann fallen mir immer Dinge auf, die ich "besser" gemacht hätte. Dies obwohl ich oft nicht in der Lage wäre, so ein Werk selbst zu gebähren.

Dan Browns "Sakrileg" halte ich stellenweise für zu langatmig, hätte die epischen Passagen gekürzt, sehe ferner Defizite in der Motivation der Protagonisten. Und das ist ein anerkannter Bestseller!

Wenn ich nun Dein Werk hier kritisiere, dann geschieht das auch aus dem Umstand, dass es einfacher ist, zu meckern, als gut zu schreiben. Bei Dir finde ich ein paar Splitter, aber die Balken in meinen eigenen Geschichten fallen mir nicht auf. Deshalb wäre ja ein angeregtes Gegenleseforum so wichtig.

Nun zu Deinem, mit meinen kritischen Augen als überwiegend gelungen angesehenes Werk.

Als vollkommen gelungen - das schrieb ich bereits - sehe ich den Schluss. Das ist schon einmal etwas Besonderes, denn die meisten Texte verfügen zwar über eine originelle Grundidee, die aber nicht zu einer gelungenen Pointe kulminiert. Diesen wirkungsvollen Schluss halte ich - gerade bei einer Kurzgeschichte - für unverzichtbar. Er macht, nach meiner Überzeugung, zwei Drittel des Gesamteindrucks aus. Du hast diese Aufgabe meisterhaft bewältigt!

Dem Schluss vorangestellt steht eine Passage, die ich als etwas zäh empfand. Ich kann Dir auch genau sagen, woran das liegt: an meiner übertriebenen Lesererwartung.

Ich möchte schon nach wenigen Sätzen mitgerissen werden, das Gefühl haben, dass, wenn ich jetzt nicht weiterlese, mir lebensexistenzielle Informationen fehlen und mich den Rest meines Lebens verfolgen werden.

Ich will mit dem Protagonisten mitleiden, die Qualen auskosten und zum Höhepunkt, der Läuterung gelangen. Bei Kurzgeschichten ist dies, wenn sie gut durch sind, der Erkenntnisgewinn für das eigene Leben.

All das könntest Du leisten, mit ein paar kleinen Änderungen.

(Zwischensicherung - ich schreibe noch ...)
 
P

Pete

Gast
2. Teil

(Fortsetzung, wegen "Zeitüberschreitung" als separates Posting)

Hier meine Empfehlungen, wenn Du die Leser wirklich vom Stuhl fegen möchtest.

1. Beginne mit einem oder wenigen zündenden Sätzen, die sofort einen Spannungsbogen knüpfen. So in etwa wie:

>>> Montage sind immer schlechte Tage. Aber das war, mit Abstand, der schlechteste Montag aller Zeiten. Jedenfalls im Leben von Frank W. <<<


Klar, es ist nicht jedermanns Stil, so reißerisch zu beginnen. Wenn Du es aber so reißerisch enden lässt (z.B. Wiederholung: "Zum ersten Mal in seinem Leben, zum alleresten Mal, ..."), dann kanst Du es auch am Anfang bringen, dann passt es zu Deinem Stil.

2. Achte auf eine aktive Schreibweise, sonst handelt Dein Protagonist nicht, sondern erhält Objektstatus (mangelnde Identifikation).
Hier beanstande ich beispielsweise die Passage:
Er solle doch kurz vor Mittag zur Chefin kommen, wird ihm ausgerichtet. Die Kollegin, die das Vorzimmer der Abteilungsleiterin bewacht, macht das mit einer gewissen Süffisanz in der Stimme.
Bitte formuliere das aktiv und aus Sicht von Frank:

>>> Frank traf auf die Kollegin, die das Vorzimmer der Abteilungsleiterin bewachte. Mit einer gewissen Süffisanz in der Stimme richtete sie ihm aus, er solle doch kurz vor Mittag zur Chefin kommen. <<<

3. Mache ein Kopfkino daraus, nicht einen Observationsbericht eines Unbeteiligten!

Grund: der Leser, "verseucht" durch den Konsum gefälliger Geschichten bewegter Art (Filme), möchte Dinge sehen, die passieren, nicht darüber erzählt haben. Kino, statt Vorlesung! Wie geht das? Schreib ein Drehbuch, lass die Geschichte, so wie sie passiert, vor Deinem geistigen Auge ablaufen und schreib es genau so nieder.

Beispiel: Frank kommt am Montag (oder wann auch immer) ins Büro. Da passiert folgendes:

>>> Frank blickte auf und sah seine Kollegin, die das Vorzimmer der Abteilungsleiterin bewachte. Sie blickte ihn schadenfroh an, sodass Frank stutzte und einen Augenblick überlegte, ob vielleicht sein Hosenschlitz offenstand. Noch bevor er die Angelegenheit prüfen konnte, hörte er die Kollegin sagen: "Frank, sie kommen dann bitte kurz vor Mittag noch 'rein zur Cheffin! Klar so weit?"

Frank empfand die Worte als ungewöhnlich süffisant, was nichts Gutes verhieß. <<<

Natürlich ist mein Beispiel noch ein wenig sperrig, soll ja nur zur Verdeutlichung dienen. Was ist nun anders? Das, was Du bisher in nüchterenem Berichtston "vorgelesen" hats, passiert nun wirklich. Der Leser ist sofort mittendrin im Geschehen.

Du entscheidest, wie nah Du den Leser an Deine Figur heran lässt. Solche Sätze wie:
Frank W. geht auf das Angebot zu einer Replik nicht ein. Er hat sich entschlossen, erst einmal abzuwarten, was nun kommt, beim ersten Personalgespräch.
schaffen unnötige Distanz.

Diese Perspektive wird übrigens von Dir selbst verlassen, in den letzten Abschnitten. Da merkst Du, wahrscheinlich intuitiv, dass Du einen anderen Erzählstil (sprich: Erzählperspektive) benötigst.

Vorschlag: Mach es gleich von Anfang an so!

Übrigens: Die Ratschläge, die ich Dir hier gebe, gehen genauso an mich. Auch ich ...

Beste Grüße

Pete
 

Walther

Mitglied
Hallo Pete,

vielen Dank für Deine Tips. Ich werde sie auf jeden Fall beherzigen, lasse diesen Eintrag aber erst einmal so, wie er ist, weil ich die Geschichte völlig umschreiben müßte.

Es ist in der Tat eine Frage, die man durchaus debattieren kann, wie reißerisch man eine Geschichte aufmachen soll, damit sie in der großen Geräuschkulisse, die wir heute haben, überhaupt gehört wird. Darüber würde sich eine Debatte wirklich lohnen.

Ich werde also einmal eine weitere Geschichte nach dieser Lesart probieren und schauen, was dann das Feedback ist. Ich bin da heute schon gespannt darauf.

Nochmals bedanken möchte ich bei Dir und allen, die sich mit diesem Schreibversuch bisher so viel Mühe gegeben haben. Ich hoffe, die Geschichte und der Autor erweisen sich am Ende dieser Mühen wert!

Noch kann ich in diesem Genre selbst eher weniger beitragen, da ich noch nicht sattelfest genug bin. In der Lyrik gebe ich gerne und viel zurück. Man möge mir daher nachsehen, daß ich noch eine kleine Weile lernen möchte, bevor ich meinen Senf zu Euren Geschichten abgebe. Lieben Dank.

Beste Grüße aus dem sonnigen BaWü, wo alle im Fußballmeistertaumel sind ...

W.

Liebe Grüße
 

GabiSils

Mitglied
Mal ganz kurz, da wenig Zeit:

Ich finde, der "reißerische" Schluß (... zum allerersten Mal...) erhält seine Wirkung gerade dadurch, daß alles Vorhergehende so nüchtern erzählt wurde. Bei Petes Vorschlag ginge diese Wirkung unter.

Die nüchterne, distanzierte Erzählweise paßt zu dem, was Frank W. geschieht. Die Ohn-Macht ist es, die seine Situation prägt. Der Objektstatus ist also durchaus passend.

Was Pete vorschlägt, ist eine völlig andere Art Geschichte - und die würde ich wahrscheinlich nicht lesen. Ich hätte nach dem Anfang mit den Montagen (was für ein ausgelutschtes Klischee...) oder etwas Entsprechendem schon genug. Sorry, Pete ... So unterschiedlich sind die Leser und ihre Vorlieben.

Also, Walther: So lassen! Bitte!

Gruß,
Gabi
 

Walther

Mitglied
Hallo Gabi,

danke für Deine Hinweise.
Die nüchterne, distanzierte Erzählweise paßt zu dem, was Frank W. geschieht. Die Ohn-Macht ist es, die seine Situation prägt. Der Objektstatus ist also durchaus passend.
So habe ich das auch gesehen, als ich die Geschichte geschrieben habe.

Nun ist mein Stil eher lakonisch. Es wird in meinen Augen mit viel zu viel Effekten gearbeitet, da verschwindet am Ende der Inhalt unter der Form und der Lautstärke. So, und nun haben wir sie doch, die Debatte, die ich eigentlich, da ich mich noch nicht so richtig sicher fühle, vermeiden wollte.

Ich lasse mich übrigens mit guten Bewertungen gerne bestechen, die Geschichte so zu lassen, wie sie ist. :) Im Ernst: Ich arbeite sicherlich noch an der Sprache und dem Spannungsbogen, da kann man immer noch feilen, aber reißerisch ist für andere Themen sicherlich richtiger.

Ich bin sowieso der Auffassung, der Clou einer Kurzgeschichte gehört an das Ende. Dieses sollte nicht geschlossen sein, weil das sonst eher eine Erzählung (Novelle) wäre.

Alles Gute in die Runde!

Grüße W.
 

Retep

Mitglied
Hallo Walther,

will jetzt auch noch meinen Senf dazu geben.

Du wolltest eine Kurzgeschichte schreiben und keine lange Erzählung.
Das ist dir gelungen. Die Geschichte ist nicht zu lang,du hast einen personalen Erzähler, schreibst keine lange Einleitung. Von Anfang an ist dem Leser klar, dass hier etwas passieren wird, auch ohne dramatische Ausführungen.Er wartet auf das Gespräch mit der Chefin, es entsteht eine gewisse Spannung.
Du benutzt eine einfache, nüchterne Sprache, die der Kurzgeschichte angemessen ist. (Dass du auch anders schreiben kannst, weiß ich von anderen Beiträgen, die du in die Leselupe eingestellt hast.)
Das Thema ist ein Problem unserer Zeit. (arbeitslos werden)
Die beiden Protagonisten sind zunächst Alltagsmenschen, die Chefin handelt nach ihrer ihr zugewiesenen Rolle, der Protagonist auch. (arbeitet weiter im Büro)
Und dann kommt es: Der Mann nimmt seine Kündigung ruhig an, ohne Gefühlsausbrüche, geht aus der Firma, setzt sich in die Sonne und denkt über sich nach.
Das ist ein offener Schluss, das sollte nach meiner Meinung so sein, da wird nichts weiter ausgeführt. Der Leser muss sich Gedanken machen über die Gefühlslage des Protagonisten u.a.m.
Deine Geschichte erfüllt also alle Grundanforderungen, die man eine Kurzgeschichte stellt.

Wenn du den Text umschreiben würdest, entstünde eine völlig andere Geschichte. Ob sie besser dadurch würde, weiß ich nicht.

Der Text ist o.k. (So wie er da steht)

Gruß

Retep
 

Walther

Mitglied
Hallo Retep,

besten Dank für diesen ermutigenden Kommentar. Kurzgeschichten sind noch nicht so richtig "mein Ding". Hier bin ich mir noch ziemlich unsicher, und es liegt noch ein weiter Weg vor mir.

Daher sind positive und kritisierende Hinweise wichtig und werden dankbar aufgenommen. Schließlich muß man zu seinem Stil und zu seinen Themen finden.

Lieber Gruß W.
 



 
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