Freitag

U

Ursula

Gast
Freitag ist alles anders. Auch für Peter. Nein, bei ihm herrscht keine Vorfreude aufs Wochenende, auf die beginnende freie Zeit. Er kennt ihn nicht, diesen legendären Sprung in die verschiedensten Vergnügungen, und die plötzlich auflodernde Regsamkeit, die er bei seinen Mitarbeitern allwöchentlich beobachten kann, ist ihm fremd.
Ganz im Gegenteil, Freitag bedeutet für ihn Angst. Angst, zu Hause die eigene Nutzlosigkeit zu fühlen, Angst vor seiner freudlosen Passivität gegenüber allen Möglichkeiten, diese unausfüllbare Freizeit interessanter zu gestalten und Angst, die Leere in den eigenen vier Wänden zu spüren. Angst auch davor, sich gerade mit diesen Ängsten auseinandersetzen zu müssen, nicht vor ihnen fliehen zu können und Angst vor der daraus resultierenden Ohnmacht, gegen die er noch immer kein wirksames Mittel gefunden hat.

Das war natürlich nicht immer so. Früher, da hat auch Peter jeden Freitag die Freude auf das sich ankündigende Wochenende als angenehmes Kribbeln im ganzen Körper verspürt. Ja, da hat er sich auf seine freie Zeit freuen können, das Wort passiv hat er nur vom Wörterbuch her gekannt. Aber früher war Alice noch da. Da wusste er, dass sie ihn zu Hause erwarten würde, oder dass sie vielleicht sogar versuchen würde, ihn im Büro abzuholen. In diesen Augenblicken hat auch er den Freitag gepriesen, da hätte auch er am liebsten die Zeit für immer stillstehen lassen.

Heute ist ein Freitag für ihn ein völlig normaler Arbeitstag. Er merkt lediglich am leicht veränderten Verhalten seiner Mitarbeiter, dass der Freitag auch heute noch das Wochenende und in den meisten Fällen somit die Freizeit einleitet. Eines dieser Zeichen sieht Peter im Unterschied zwischen den Sitzungen am Freitagmorgen und jenen, die freitags am Nachmittag abgehalten werden. Am Nachmittag sind die Sitzungsmitglieder eindeutig wesentlich zappeliger als am Morgen. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie das Treffen so rasch als möglich beenden wollen.
Ein weiteres Zeichen ist Frau Kempf im Empfang: Sie streicht sich die Lippen noch öfters nach als dies normalerweise sowieso schon der Fall ist. Peter weiss, dass ihm das nicht nur so vorkommt, weil er Frau Kempf nicht sonderlich mag. Ausserdem reinigt sie freitags die Kaffeemaschine. So ist dann der leidige Montagmorgen für sie etwas weniger hart.

Wie oft hat er versucht, gegen seine negativen Gefühle anzukämpfen, die ihn heute jeden Freitag überkommen! Vor allem anfangs kämpfte er dagegen an, kurz nachdem Alice ihn verlassen hat. Ja, da hat er versucht, in dieser Änderung das Positive zu suchen, die Rosinen für sich daraus herauszupicken. Leider blieb es oft bei diesem Versuch und meistens misslang ihm dieser sowieso kläglich. Wie dem auch sei, auch heute versucht er ab und zu, sich Mut zuzusprechen. Dann nimmt er sich am Freitagmorgen fest vor, nach Feierabend in der nahegelegenen Bar ein Bierchen zu trinken. Er spielt die Rollen manchmal sogar mit eindrücklicher Gestik vor seinem Rasierspiegel durch. Dann holt er tief Atem und versucht, stark und selbstbewusst auszusehen oder seinem Spiegelbild gar mit einem Auge zuzuzwinkern. Das geht so lange, bis ihm die Lächerlichkeit der Situation bewusst wird. Manchmal schafft er es jedoch, sich den ganzen Tag so aufzumuntern, dass er seine Schritte nach Feierabend tatsächlich in Richtung dieser Bar lenkt, doch dann sieht er plötzlich vor seinem inneren Auge, wie sich sein Barbesuch ablaufen würde. Seine Füsse tragen ihn dann wie von selbst nach Hause, wo er sich für ein weiteres Wochenende verschanzt.

In diesen Augenblicken fühlt Peter eine riesige Wut in sich. Er weiss ja selbst, wie absurd sein Verhalten ist. Seine Wut richtet sich in diesen Momenten gegen sich selbst, aber auch gegen Alice. Er hat bemerkt, dass es ihn befreit, wenn er auf sie wütend sein kann. Dann hat er das Gefühl, froh sein zu dürfen, dass sie nicht mehr da ist, obwohl er seine Wut ja gerade aus diesem Grund empfindet.

Zwar würde Peter dies niemandem gegenüber zugeben, aber auch im Alkohol hat er Trost durch Vergessen gesucht. Er hat dann mehr oder weniger glücklich festgestellt, dass es wahrhaftig noch andere Dinge gibt im Leben, als zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen, wie es so schön heisst. Nach einem ebenfalls mehr oder weniger gut ausgeschlafenen Kater hat er sich in diesen Fällen eingestehen müssen, dass die Alkohollösung für ihn auf die Dauer nicht in Frage kommt.

Peter verzichtet nun schon seit mehreren Monaten auf diese Scheinlösungen, die ihm zur Verfügung stehen, um seinen freitäglichen Jammer zu überstehen. Mittlerweile hat er akzpetiert, dass für ihn am Freitag die Zeit nun tatsächlich stillsteht, so wie er sich's zu Alices Zeiten immer gewünscht hat, und dass sie sich erst am Montag wieder zu regen beginnt.
 
E

Eddie

Gast
du schreibst ueber ein mir sehr gut bekanntes
thema:
der protagonist versteckte sich hinter Alice,
und jetzt versteckt er sich in seinem Haus, weil
es der einzige sichere ort gegen hass ist.
weil er sich fürchtet, hasst er Alice dafür,
dass sie ihn alleingelassen hat, er findet das
unfair und er fühlt sich ungerecht behandelt.
deswegen hat er auch guten grund zu hause zu
bleiben und traurig zu sein, nach dem motto:
oh bemitleidet mich doch, wie schlecht´s mir geht,
bewundert mich, dass ich das durchhalte.
er beruhight damit also dann sein gewissen und
hat einen scheingrund zu hause zu bleiben und
vor sich hinzuvegetieren.

[9/10]
 
U

Ursula

Gast
Selbstmitleid?

Ich denke eher, dass mein Protagonist sich im Moment erst einmal den Schmerz von der Seele schreit. Das allein tut schon unheimlich gut, denn es ist der erste Schritt zur Besserung. Wenn das einmal geschafft ist, ist man offener für Lösungen.
 
Ein zentraler Begriff deiner Kurzgeschichte ist das
Wort "passiv". Die Unfähigkeit am Wochenende zu
leben empfindet der Protagonist in deiner
Schilderung als "absurd". Widerspricht es denn wirklich
dem gesunden Menschenverstand untätig zu sein und
den möglichen Erlebnissen nachzutrauern ?
Bedenken wir zunächst die Alternative:
Man könnte den Kontakt zu anderen Menschen suchen.
Nur wo ? Beispielsweise an der Arbeitsstelle.
Die Schwierigkeit besteht allerdings darin,
sich von dem Verhalten zu lösen, von dem man glaubt, daß
es von einem erwartet wird. Es ist wichtig, das
Geschehene zu ignorieren. Man ist keineswegs verpflichtet
seinem bisherigen Wesen auch nur im Geringsten zu
entsprechen. In jedem Augenblick darf man neue
Seiten der eigenen Persönlichkeit entdecken und
ausleben. Es mag sein, das die Kollegen nach 20 Jahren
Zurückhaltung, die Initiative des Protagonisten
als Unglaubwürdig empfinden, weil sie dessen Veränderung
nicht verstehen und doch müssen sie sich damit
abfinden, das der Protagonist plötzlich mehr als
"Guten Tag" sagt.
Die Passivität der Hauptfigur ist nicht absurd,
sie ist vielmehr die Konsqeunz eines fatalen Aberglaubens:
"Ich will die anderen Menschen nicht enttäuschen, deshalb
bin ich das von dem ich glaube, daß sie es in mir sehen
(im Fall des Protagonisten: passiv)".
Wir dürfen kein Bild von uns selbest vor Augen haben,
denn dann sind wir gefangen. Selbstkritik muß allein
aus der Reflektion unserer Taten entstehen nicht aber aus
der Analyse eines statischen Bildes. Ich muß mich nicht
ändern, weil ich ein schlechter Mensch bin, sondern, weil
ich einen anderen grundlos verletzt habe, was meiner
Überzeugung widerspricht. Es ist also durchaus möglich
das Gefängnis "Selbstbildnis" zu verlassen und dennoch
selbstkritisch zu bleiben.
 
U

Ursula

Gast
Das sieht recht einfach aus, von aussen gesehen. Auch scheint es mir etwas schwierig, das Geschehene zu ignorieren, denn es gehört nun einmal zu uns. Das bedeutet natürlich nicht, wie Du richtigerweise sagst, dass immer alles gleich weitergehen soll. Wir alle brauchen Veränderungen, damit wir uns entwickeln können. Nur denke ich, dass der Zeitpunkt der Veränderung in diesem Bereich für meinen Protagonisten noch etwas verfrüht ist. Kann aber durchaus sein, dass ich ihn unterschätze.
 



 
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