Freitag, der 13.

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Rakun

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Freitag der 13.

Magisch fühlte sie sich wieder von ihm angezogen. An diesem Morgen war der Drang besonders stark. Ohne an all ihre Ver-pflichtungen und Termine zu denken, holte sie ihre Badesachen aus dem begehbaren Schrank. Das hatte sie als erstes fasziniert in diesem Land. Ein Ankleidezimmer, ein separater Raum ohne Fenster, dafür aber mit teuren Tageslichtleuchten ausgestattet. Vorgegaukelte Natürlich-keit, ansonsten hieß es: Natur bleib draußen! Die Decke als imaginärer Himmel, hellblau getüncht. Die Lampen waren so platziert, dass es aussah, als ob die Sonne durch die gekonnt getupften Wolken schien. Der Teppich glich einem frisch gepflügten Stück Strand. Ein Spiegel in Menschenumrißform bedeckte die Hälfte einer Wand, verlieh dem kleinen Raum eine Art Unendlichkeit. Fühlte sie sich mal wieder einsam, klappte sie einfach die beiden Seitenteile des Spiegels auf. Zwei Handgriffe waren nur nötig und die scheinbare Dreidimensionalität war über kleine fast unsichtbare Scharniere geschaffen.

"Seelentryptichon, zeig mir meine gute Seite!", befahl sie jedesmal, wenn sie diese ausgetüftelte Konstruktion aufs neue bestaunte. Je nach Stimmung belegte sie ein Spiegel-drittel mit dem jeweiligen Ichgefühl und sorgte so für genügend Gesprächsstoff in ihrer Muttersprache. Ihre Ichformationen waren so unterschiedlich und zahlreich wie all ihre Kleidungsstücke. Nur nicht so akkurat und übersichtlich geordnet. Ihre Klamotten, viel farbintensiver, fern ab der Heimat; unter subtropischer Sonne mussten die Farben einfach leuchtender, knalliger sein!

Zielsicher griff sie jetzt nach dem ordentlich aufgehängten Bikini. In grellgelb, aufdringlich pink und schreiend blau hatte sie ihn gekauft. Nicht, dass sie sich nicht hätte entscheiden können, nein sie hatte die Spielregeln schnell verstanden: "Wenn ihr es so haben wollt, na bitte!" Um jeden Preis auffallen entsprach absolut nicht ihrer Natur, allein mit ihrer Herkunft brachte sie schon ausreichend Andersartigkeit mit. Sie fügte sich diesem Spiel, gepaart mit selbstverständlicher Leichtigkeit, dass nie unangenehmer Beigeschmack entstand.

Wonach war ihr heute zumute? 'Oben' entschied sie sich für gelb und 'unten' wählte sie blau. "Heute gibt es zwei Farben," sagte sie mit beißendem Spott. Schnell noch den Klappstuhl unter den Arm geklemmt. Nur Touristen legten sich auf ausgebreitete Handtücher direkt auf den Sand. Das war für Einheimische undenkbar, äußerst unhygienisch. Kleine beißwütige Tierchen könnten sich ja mit häßlichen roten Flecken an den sonnenhungrigen Körpern rächen. Die erstrebte Makellosigkeit wäre dadurch punktuell bedroht.
"Ich geh an den Strand", rief sie bevor sie den Drehknopf der Tür in die Hand nahm.
"Willst du etwa schwimmen?! Es ist November! Warum gehst du nicht in den geheizten Pool? Wie alle anderen auch!" schulmeisterlich polterte seine Stimme aus dem Wohnzimmer, sein unterschwelliger Befehlston war nicht zu überhören.
"Du triffst wohl wieder deinen beach lover, was?", hörte sie noch, als sie die Tür wütend zuschlug. Seine Eifersucht verfolgte sie bis zum Fahrstuhl. Nein, sie wollte nicht schon wieder in eine fensterlose Kiste! Sie haßte eingesperrt zu sein. Als einzige in dem 160 Appartments Wohnungskasten
benutzte sie die Fluchttreppe, im sechsten Stockwerk wohnte sie. Mit jeder Stufe kam sie ihrem Ziel näher.

Um diese Jahreszeit war sie meist ganz allein am Strand mit ihrem Geliebten. Ihre Uhr lag in der Wohnung, absichtlich. Zeitlos sein, nannte sie es. Frei sein in den Minuten, mit den Stunden, die sie sich in unregelmäßigen Abständen heimlich stahl. Ungeduldig erwartete er sie, seine eigenwillige 'Zeitdiebin'.
Sie streckte die Nase hoch in die Luft, der Wind kam aus Nordwest. Vorsichtig ließ sie ihre Zungenspitze über die Lippen gleiten. Seine unsichtbaren Arme legten sich liebevoll um sie, sie schloß die Augen. Sie liebte diesen salzigen Geschmack, sie mochte den Wind, sie brauchte diesen Geruch.
„Ich bin wieder hier,“ rief sie. Ihre Stimme bebte leicht, „Endlich!“ Poseidon trug sie behutsam mit den ersten Wogen vom Ufer weg. Endlich fühlte sie wieder Leben in sich. Sie war mit dem Ozean unzertrennlich verbunden. Poseidon nannte sie ihn zärtlich, ihren wilden wässrigen Geliebten.
Er verstand ihre Sprache, ihre Gesten, bei ihm mußte sie sich nicht verstellen. Mit ihm konnte sie einfach s e i n.
Jedesmal brachte er ihr Geschenke aus der Heimat, weitgerei-ste kleine Muscheln, die Nordseetropfen zwischen ihren fest verschlossenen Schalen für sie trugen. Sehnsüchtig schaute sie zum Horizont, plötzlich wurde ihr wieder bewußt, wieviele tausend Kilometer zwischen hier und dort lagen, eine unüberwindbare Entfernung.

Eine heftige Welle drängte ihre Tränen zurück, der Atlantik rüttelte sie erbarmungslos aus ihrem Selbstmitleid. Kämpfen mußte sie, um ihre Lieblingsstrecke nach Norden zu schwimmen. Poseidon war heute widerspenstig und auf eine Art kampfbereit, die sie verunsicherte. Sie spürte etwas Bedrohliches, konnte es aber nicht genau orten. Ihre Blicke tasteten den Himmel ab, keinerlei Anzeichen für ein Gewitter oder einen aufkommenden Sturm. Das konnte sich hier schnell ändern.

Der Horizont, der für sie die Welten teilte, lag ruhig und teilnahmslos schnurgerade wie eine mit dem Lineal exakt gezeichnete Linie. Im Westen war auch nichts zu erkennen, alles sah ruhig aus, nur die unzähligen Fenster der Häuser-blöcke, nahe am Strand erbaut, schauten neugierig auf sie herab. Leblose, eckige, dunkelverglaste Voyeure, die sie andauernd beobachteten. Sie, die so anders war in allem, sogar in ihrer unbekümmerten Offenheit, sich zu ihrem Heimweh zu bekennen, das manchmal so brennend heiß in ihr glühte, dass kein Atlantikwasser es hätte löschen können. Ihr wurde mulmig zumute, sie spürte die starke Unter-strömung und wollte beinahe aufgeben, doch ihr Geliebter ließ sie nicht los. Sie schwamm mutterseelenallein im Ozean, kein Lebewesen weit und breit, nicht einmal ein einziger Vergnügungsdampfer war heute unterwegs. Ihre Arme wurden schwer wie Blei, unaufhörlich peitschten Wellen ins Gesicht. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, tauchte auf aus dem aufge-brachten Meerwasser, das mit ihr spielte wie mit einem Stück Muschelschale. Sie spuckte wie eine Ertrinkende.

Plötzlich fand sie sich in ihrem Traum wieder, der sich immer unaufgefordert wiederholte, über Wochen. Aus dem sie schweißgebadet aufwachte, mitten in der Nacht. Allein, umge-ben von undurchdringlicher Dunkelheit, nur die Leuchtziffern auf ihrem Wecker waren die einzige Lichtquelle. Wachsame Augen, die sie andauernd fixierten. Tagsüber verfolgte sie ihr Traum, doch bei gleißendem Sonnenlicht fiel es ihr leicht, dieses Gespenst zu definieren. Als Restangst vor dem letzten Hurricane. Aus Besorgnis vor der Gefahr, so nahe am Strand könnte ihr im Haus doch etwas zustoßen.
Automatisch, wie ferngesteuert schwamm sie weiter in nördlicher Richtung.
Die Erinnerung an ihren Baumtraum, Traumbaum war so naturgetreu, dass sie jedesmal ein wenig erschrak. Selbst für diesen Aufdringling erfand sie einen passenden Namen.
Im Schlaf verspürte sie echte Berührung mit etwas kaltem Unbekannten. „Ein Baumstamm.“ beruhigte sie sich, doch zwei Punkte in diesem dunkelbraunen Etwas schienen sie unent-wegt anzustarren. Der Gedanke daran ließ sie nicht los. An einem Morgen nach erneuter Begegnung mit ‚ihm‘, dem Nacht-verfolger, war sie umgeben von erbarmungsloser Helligkeit der Tropen, tat diese beiden aufälligen Punkte einfach als Muschelstücke oder kleine Steinchen ab, die auf der dunkelhäutigen Oberfläche Halt gesucht hatten.
Frei vom Arbeitsdruck des Tages schlichen sich diese zwei kleinen Kreise immer wieder in ihr Gedächtnis. Ich treibe da selbst im weiten Meer. Ich betrachte mich aus diesen ‚Augen‘. Meine Haut ist sonnengebräunt. Verscheuchen mußte sie nur dieses Unbehagen, das sich nicht abschütteln ließ.

Sie brauchte eine eindeutige Erklärung! Eine Antwort mit dem unumstößlichen Ergebnis, dass es einfach lächerlich ist, Angst vor sich selbst zu haben, also, ergo, fazit: Ich bin’s!
Ich hab doch keine Angst vor mir! Alles Quatsch, Angst ist vollkommen unbegründet!
Wie weit war sie geschwommen? Wo war sie? Auf einmal eine menschliche Stimme:
„Kommen sie sofort aus dem Wasser, kommen sie sofort aus dem Wasser!“
Die Stimme kam aus einem Megaphon. Sie er- kannte einen Polizisten, wild fuchtelnd rief er immer wieder den selben Satz in die Flüstertüte.
Auf einmal spürte sie Blicke. Sie konnte nichts erkennen, die Augen brannten vom Meerwasser. Sie war sich sicher, dass sie jemand anstarrte. Immer wieder drehte sie den Kopf in alle Richtungen. Da war es wieder dieses unruhige, un- sichere Gefühl. Ich muß zurück! Ihre Schwimmbewegungen wurden schneller, da sah sie plötzlich rechts an ihrer Seite einen Baumstamm. Ganz ruhig ließ er sich treiben, direkt auf sie zu. Dieses dunkle, lange Ding kam immer näher, obwohl sie sich bemühte, so schnell wie möglich an den Strand zu kommen. Die Rufe des Polizisten wurden immer lauter. Der Wind trug die Angst des Mannes dicht zu ihr.

Plötzlich konnte sie nicht anders, sie mußte nach rechts sehen, dieses Blickgefühl hatte jetzt den Höhepunkt erreicht. Die Augen, das sind die Augen! Etwa einen Meter von ihr entfernt blickte sie in ein Augenpaar, seltsam starr und sehr traurig, wie in ihrem Traum.
Du bist ja verrückt, dachte sie. „Ein Krokodil?“ Sie schnappte nach Luft. Ein Schwall Wasser füllte ihren Mund, drohte sich bis in ihre Lungen vorzukämpfen. Für einen Moment ging sie völlig unter. Sie zwang sich die Augen offen zu halten, sie wollte es nicht wahrhaben. Halb leblos paddelten vier Beine an diesem Etwas. Sie nahm alle Kraft zusammen, um wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen.
„Ich schaffe es!“, schrie sie so laut sie konnte in ihrer Muttersprache und zwang sich auf kräftige, gleichmäßige Schwimmzüge zu konzentrieren.

Zwei Männer vom Süßwasserkomitee zogen das schwere, wehrlose Tier an Land. Machtlos muß es gegen die starke Strömung gekämpft haben, dachte sie und empfand tiefes Mitleid. Das Salzwasser hatte seine Augen verletzt, Krokodilaugen haben keine Schutzlid, Meerwasser wirkt ätzend auf das zarte Sehorgan. Orientierungslos war es durch die Naturgewalt durch ein ‚inlet‘ in den offenen Ozean hinausgetrieben.
Es mußte sich einfach dem Schicksal ergeben, sich treiben
lassen und auf ein Wunder warten, auf Rettung durch einen Menschen.
Sie stand da, regungslos. Die aufgeregten Stimmen hörte sie plötzlich nicht mehr, sah die flink hantierenden Hände der Retter nicht mehr, fühlte sich nur eins mit dem Tier.
In Gedanken gab sie ihm den Namen Krok, sprach zu ihm,
„Du schaffst es, ich will, dass du es schaffst!“, und sie wünschte, dass es am Leben blieb.
In atemberaubender Geschwindigkeit band man das Tod bringende Maul mit einem dicken Seil.
„Sie dürfen ihm nicht weh tun!“, rief sie mehrmals so laut sie konnte. Artig trat sie ein paar Schritte zurück, wie ihr der police officer in der dunkelbraunen Uniform befohlen hatte. Seine Aufforderung erlaubte keinen Widerspruch, nur absoluten sofortigen Gehorsam.

Da lag ihr Dauertraum, genau wie sie ihn gesehen hatte, nur war er viel größer und trotz seiner Verletztheit strahlte er unbändige Kraft aus. Solange hatte sie nach seiner Be- deutung gesucht. Blind wand er sich im Sand, wollte sich aus dem Seil herausdrehen, jegliche Hilfe verweigern.
„Wehr dich doch nicht!“, tonlos bewegte sie die Lippen.
„Du bist in Sicherheit! Jetzt beginnt ein neues Leben für dich!“
Plötzlich war alles vorbei. Niemand außer ihr war mehr am Strand.
Wieder nahm sie ihre Fluchttreppe, diesmal ganz nach oben bis auf die Aussichtsplattform im 13. Stock. Das wird hoch genug sein. Vom 6. Stockwerk an schrieb sie Buchstaben an die weißgräuliche Flurwand, parallel zur Fluchtlinie der Treppen:
„Mein ist das Hirn!“, sagt der Gedanke. Passiert schnell die Schranke, zahlt keinen Zoll.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

ich finde diese geschichte sehr beeindruckend. mir fehlen die worte. ganz lieb grüßt
 



 
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