Fremd geworden

traumtänzer

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Fremd geworden

Es muß etwa sechs Jahre hergewesen sein als ich Sonja das letzte mal sah. Ich saß nahe dem Kühlschrank. Es waren mehrere Tische im Partykeller verteilt. Sie kam mit ihrem Mann ungefähr eine Stunde nach mir. Sie setzte sich mit Sabine und Kerstin ein Tisch weiter. Ich konnte die Unterhaltung mitvervolgen, obwohl, wie auf einer Party halt üblich, ein mächtiges Gebabbel stattfand. Ich hörte ihr mehr oder weniger gespannt zu. „Ich trage mein Fingernagellack...“ Ich erinnerte mich an unsere schöne Zeit zusammen: die Gespräche über die tiefen unserer Psyche, das Philosophieren über die Liebe und das Leben, das gemeinsame Lachen und Weinen, die rauschenden Nächte, das Vögeln in der Umkleidekabine, die heissen Küsse im Sonnenuntergang. Ich holte mir das nächste Bier aus dem Kühlschrank. Ich versuchte mal unauffällig rüberzusehen. Nein, sie würdigte mich keines Blickes. Habe ich sie denn so verletzt, das sie mich nun nicht mehr kennt? Es war nicht einfach gewesen, klar. Unsere Ecken und Kanten hatten das Feuer der Liebe bekämpft. Ich holte mir noch ein Bier. Wieder sah ich zu ihr rüber. Sie setzte gerade eine ich-mach-jetzt-mal-ein-kompliment-miene auf. Sie sagte: „Kerstin, deine Frisur sitzt heute wieder wie angegossen...“ Sie hatte sich ganz schön verändert. Sie hatte wohl das pure Leben gegen Oberflächlichkeiten ausgetauscht. Sie war mal so lebensfroh. Früher hätte sie die Musik aufgedreht und einen Tanz hingelegt statt dort mit den Tussis über Nagellack und Frisuren zu tratschen. Früher konnte sie zaubern.

Es war bestimmt sechs Jahre her als ich Michael das letzte mal sah. Er saß schon am Tisch gegenüber, in der Nähe des Kühlschranks, als wir kamen. Er sah sehr ernst aus. Er schien sich einen zu trinken. Alleine saß er da. Er sah so stur aus, so verklemmt, so kraftlos. Ständig ging er zum Kühlschrank und holte sich Bier. Ich erinnerte mich an unsere schöne Zeit: die Gespräche über die tiefen unserer Psyche, das Philosophieren über die Liebe und das Leben, das gemeinsame Lachen und Weinen, die rauschenden Nächte, das Vögeln in der Umkleidekabine, die heißen Küsse im Sonnenuntergang. Ich versuchte unauffällig rüberzuschauen. Er würdigte mich keines Blickes. Er stand einfach auf und holte sich sein nächstes Bier. Habe ich ihn denn so verletzt, das er mich jetzt nicht mehr kennt? Ja, ich hatte meine Ecken und Kanten, aber er doch auch. Diese Liebe war nicht einfach gewesen. Ich redete weiter mit Sabine und Kerstin. Ich sah noch einmal rüber. Er holte sich das nächste Bier. Er hatte sich ganz schön verändert. Er war mal so lebensfroh. Er hatte wohl das wahre Leben gegen ein Saufgelage eingetauscht. Früher wäre er auf die Leute zugekommen und hätte mit ihnen geplaudert statt dort stumm zu sitzen und sich ein Bier nach dem anderen reinzuziehen. Früher war er ein Zauberer.

Ihr Mann sagte irgendwann zu ihr: „Wir wollen jetzt gehen“. Sie gehorchte.

Als wir gingen holte er sich das nächste Bier.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auaaua,

so kann es einem gehen! den mann verstehe ich, aber die frau? was will sie denn noch, sie ist doch verheiratet! die geschichte gefällt mir. gut umgesetzt und nicht alltäglich. lg
 



 
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