Fremdsprache

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Am Tag davor fehlten mir noch fast alle Worte. Bevor ich schrie, reichten sie gerade für meine Frage: Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen? Aber nur für diese Frage und nicht für eine Antwort.
Deutsch war meine Muttersprache. Richtiges Deutsch. Und ich wollte die deutsche Sprache sprechen, als Sohnsprache, auch wenn ich schon über dreißig war.
Reden mit hamburghanseatisch-katholischen Vokabeln lernte ich angeblich ebenso schnell, wie nicht mehr in die Windeln zu machen. „Nein war dein allererstes Wort“, behauptete meine Mutter. „Nein und nicht, wie bei normalen Kindern: Mama! Aber ich wollte ja auch gar nicht Mama heißen.“
Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln, die mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen wurden und die in den Nachweltkriegsjahren noch nicht deutsch-demokratischen Wortschöpfungen gewichen waren. Anglizismen gehörten dazu. Nein, eigentlich Amerikanismen. Die kamen per Luftfracht für die hungernde deutsche Nachkriegsbevölkerung in Care-Paketen voll goldgelbem Chester-Käse, Ei- und Milchpulver. Nichts davon schmeckte mir.
Mein von mir verehrter und schon erstaunlich demokratisch denkender und handelnder Deutschlehrer im Gymnasium versuchte, mir das bis dahin mäßig verbreitete Denglisch auszutreiben. Doch wer konnte es schon mit Coca Cola, Kaugummi, Elvis Presley und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufnehmen?
Vom Lateinlehrer, einem ehemaligen Luftwaffen-Oberst erntete ich Lob, wenn ich die im Gymnasium gebräuchlichen lateinstämmigen Fremdworte zu übersetzen wusste. Meine Mutter, ehemalige Mittelschülerin und später Laborantin in der Hirsch-Apotheke, kannte eine Menge lateinstämmiger medizinischer Fachausdrücke, konnte sie aber nicht übersetzen. Den Mitschülern gegenüber war mir meine ungebildete Mutter peinlich. Und mein Vater verstand ohnehin nicht, was ich auf dem Gymnasium wollte. Schließlich hätte er auch kein Abitur nötig gehabt und würde jetzt immerhin eine eigene Tischlerei haben.
Die Muttersprachenmischung war einfach nicht meine. Nachdem ich, meinem Vater doch noch gehorchend, das Gymnasium ohne Abitur verließ, begann ich zu schreiben und entdeckte, als ich mir meine Prosatexte und lyrischen Ergüsse vorlas, zwar immer wieder meine Themen aber keinen unverkennbar eigenen Stil. Ich experimentierte mit der Sprache. Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.

Spät, erst mit siebenundzwanzig, lernte ich Marlene kennen und half ihr, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, um mit ihr zusammenzuleben. Aus einem Anlass, an den ich mich nicht mehr erinnere, behauptete sie wenige Monate nach der Trennung von ihrem in den Niederlanden geborenen Ehemaligem, ich könne zwar anderen Menschen helfen, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei jedoch nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen.
Umso leidenschaftlicher machte ich mich auf die Suche nach meiner Sprache, einer, die ich verstehen und mit der ich mich verständlich machen wollte.
Aber je länger wir uns kannten, desto weniger verstand Marlene mich, und das, obwohl ich mich sehr bemühte, ihre Sprache zu sprechen.
Immer wieder versicherte ich ihr, vor allem sie und nur sie verstehen zu wollen.
Genau das sei es ja, meinte sie ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag. „Frauenversteher sind unverständliche Männer!“ Es waren Abschiedsworte. Sie verließ unsere gemeinsame Wohnung, kam mir Tage darauf auf dem Gehweg entgegen, wechselte, als sie mich entdeckte, hastig die Straßenseite und sah weg.

„Zum totalen Schweigen musst du zurück, um deine Sprache neu zu erfinden.“ Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz kannte. Vermutlich von meiner damaligen inneren Stimme oder von einer erträumten Person. Auf jeden Fall von einer Frau. Mein Gedächtnis gehorchte dem Satz. Und so fehlten mir immer häufiger Worte, um zu sagen, was ich dachte und fühlte. Und ich erwischte mich dabei, geträumte für reale Ereignisse zu halten. Noch wenige Nächte vor jenem Tag verprügelte ich im Traum eine mir unbekannte Frau. Blutend lag sie vor mir auf dem Straßenpflaster, obwohl ich mir absolut sicher war, mich als Erwachsener bis dahin nie geprügelt zu haben. Frauen zu schlagen war mir ohnehin unvorstellbar. Doch Träume können bekanntlich auch Wunschträume sein.
Provoziert wird sie mich haben. Mit irgendeiner verächtlichen Bemerkung.
Früher in der Schule hatte ich ein besonders attraktives, aber eingebildetes Mädchen an ihrem blonden Zopf zu Boden gerissen. Sie, eine Komtess von Eichenhain, wohnte im Herrenhaus auf einem holsteinischen Gutshof. Ihr abschätziger Blick machte mich ebenso rasend, wie ihre Art zu fragen, was denn mein Vater eigentlich noch mal gewesen sei? „Tischler. Oder so?“ Dann winkte sie müde lässig mit der linken Hand ab.
An ihrem langen Zopf zerrte ich sie auf dem Schulhof ein Stück hinter mir her, bis sie mit ihrem Gezeter die Aufsicht führende Lehrerin herbeilockte. Die schlug mich. Mitten ins Gesicht. Und sie bestellte meine Mutter zu sich in die Schule.
Als ich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, ich solle meine Finger gefälligst von Mädchen aus gutem Hause lassen. Und kaum war mein Vater abends aus seiner Tischlerei zurückgekehrt, setzte es eine Tracht Prügel, da ich weder Mädchen zu schlagen noch meine Mutter eine blöde Kuh zu nennen hätte.
Als Zehnjährige - damals trug meine Mutter auch ihre blonden Haare zum Zopf geflochten – war sie im Rahmen einer Kinderverschickungsmaßnahme auf dem Schloss einer Grafenfamilie einquartiert. Seitdem gab sie sich alle Mühe, Verhaltensweisen zu zeigen, die sie für vornehm hielt. Und auch mir wollte sie Manieren beibringen.
Das ging weit über Anweisungen hinaus, stets in ganzen Sätzen zu reden und immer schön bitte und danke zu sagen. „Nein, Frau Mutter, heißt das, mein Junge!“ belehrte sie mich.
Als sie mich zum ersten Mal „Arschloch“ und „Scheiße“ sagen hörte, rang sie nach Luft und ihre Aufforderung, in ganzen Sätzen zu reden, fiel einem ihrer heftigen Erstickungsanfälle zum Opfer. Die Prügel, die ich mir, als mein Vater nach Hause kam, abzuholen hatte, fiel kurz und sanft aus, da er meinte, ein richtiger Mann müsse nun mal richtig fluchen können. Er konnte es. Und meine Mutter zuckte jedes Mal zusammen, denn Anlässe ausgiebig zu fluchen, fand er genug. Wenn sie das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stehen hatte, wenn er eines seiner Hemden nicht fand, weil sie den Kleiderschrank aufgeräumt hatte oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief, um mit seinen schwarzen Schuhen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer zu hinterlassen.
„Ich finde deine Ausdrucksweise nicht so glücklich!“ ließ meine Mutter ihn wissen und in ihren wässrigen Augen schwamm eine gehörige Portion Verachtung.
„Dann finde sie eben unglücklich!“ Mein Vater lachte laut und dreckig.

Inzwischen war ich allein in ein kleines Appartement gezogen und „Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen?“ wurde meine ständige und einzige Frage.
Mein übriger Wortschatz reichte gerade, um in Geschäften einzukaufen, in denen Männer bedienten. Ansonsten zog ich Selbstbedienungsläden vor. Dort konnte ich mir wortlos Waren aus den Regalen nehmen und sie ebenso wortlos an der Kasse bezahlen.
Ich schlief immer schlechter und so wenig, dass mir schließlich keine Zeit mehr für Träume blieb. Wach lag ich und versuchte meine Gedanken in unbekannte Gedankengänge zu entführen. Sah ich Licht am Ende der Gänge, begann ich schneller zu denken, so schnell, dass ich nicht mehr daran denken konnte, ungewöhnlich zu denken. Und meine Frage blieb: Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?
Natürlich verlor ich auch meine Arbeit.
Als Mitarbeiter einer Versicherung musste ich nur Worte in die Schreibmaschinentastatur tippen und konnte diese Arbeit schweigend verrichten. Doch auch für manche Briefe gingen mir die richtigen Worte aus.
Von Tag zu Tag wurde es stiller in mir. Meine innere Stimme kannte schließlich nur noch „Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Ich verließ kaum noch meine kleine Wohnung, horchte in mich hinein, wartete und hatte keine Ahnung, auf wen oder was.
Warum ich gerade an jenem Morgen die Wohnung verließ, weiß ich heute nicht mehr. Weder wollte ich zum Einkaufen, noch musste ich einen unbedingt notwendigen Behördengang erledigen.
Mit der S-Bahn fuhr ich hinaus, ging an die Elbe und setzte mich auf eine Holzbank auf dem Elbdeich. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, ließ den Fluss glitzern und die weißen Schiffsaufbauten leuchten.
Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf zwischen den Händen saß ich und starrte auf die Erde. Kleine schwarze Ameisen folgten einer ihrer Straßen, die flussaufwärts führte und einen guten Meter rechts von der Bank in einer Grasnarbe verschwand.
Gelegentlich passierte ein Radfahrer den Deichweg und warf für Sekundenbruchteile seinen Schatten auf mich. Als ich aufblickte, war sie noch ziemlich weit weg und ging gerade ein paar Schritte in meine Richtung, blieb stehen, sah sich um, setzte ihren Weg langsam fort, um wieder stehen zu bleiben. Bald war sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt, lächelte, wedelte mit der rechten Hand über ihrem blondhaarigen Kopf herum und kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“
Wortlos rückte ich zur Seite.
„Inga Maria.“ Stellte sie sich vor.
„Nein“, antwortete ich leise und stotterte. „Und wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Sie zuckte mit den Schultern, verzog ihren breiten Mund in ihrem breiten Gesicht zu einem noch viel breiteren Lächeln, setzte sich und versuchte mir in die Augen zu sehen. „Schrei doch endlich. Ja, schrei!“
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hallo karl,

mal wieder eine perle von dir. gratulation.

die erzählung kommt extrem autobiographisch rüber, aber da ich das weder beurteilen kann noch will, bleibt mir nur festzustellen, wie trefflich du sowohl zeitgeist und sprachentwicklung als auch verhaltensweisen und ansichten der beteiligten generationen beschrieben hast. vieles erkenne ich aus erzählungen meiner eltern und großeltern wieder. deine geschichte ist authentisch. und sie ist in sich rund und perfekt komponiert. der kreis schließt sich.

dazu eine anmerkung (eigentlich 3), die allerhöchstens als haarsuche in der suppe zu verstehen sind:
die ersten sätze hätte ich deutlicher abgehoben, ebenso den letzten absatz ab: "warum ich gerade an diesem morgen...".
am ende ist die handlungsabfolge logisch etwas verwirrend. es funktioniert, aber instinktiv hat mich das setzten zu diesem zeitpunkt irritiert, ich hab's dann noch ein paar mal gelesen.
gleiches gilt für die frage: das zweite wer hakt beim lesen. aber gerade deshalb bleibt sie auch im leser präsent.

tolle geschichte. schönes wochenende.

liebe grüße
nofrank
 
Lieber nofrank,
ganz herzlichen Dank für deine ausführlichen Anmerkungen. Du hast recht, die Sätze könnte ich wirklich z.B. kursiv setzen.
Die Frage (mit dem zweiten "wer") habe ich bewusst so formuliert, um die Verwirrung des Protagonisten, die einem verbalen Tick gleich kommt, mit zu verdeutlichen.
Natürlich hast du den richtigen Riecher: Manches in der Geschichte ist autobiografisch. Vor allem die Ausgangsbedingungen für jemanden, der (wie ich 1943) im 2. Weltkrieg geboren wurde.
Noch einmal meinen Dank
und liebe Grüße
Karl
 

Limba

Mitglied
Hallo Karl,
womit fange ich an? Wer bin ich selber, dass ich immer was zu möppeln finde? Nach meinem Naturell bringe ich meistens zuerst das Unangenehmere hinter mich, um danach ungetrübt das Gute übrig zu haben. Nur kurz vorweg: Gut gemacht.
So komme ich zu den Dingen, die -wie ich meine- anders ausfallen könnten.
Nachweltkriegsjahre ist nicht eindeutig: Nachwelt- Kriegsjahre
oder meinst Du: Nach- Weltkriegsjahre? Sollte allerdings beides gemeint sein, Nach(Hitlers)welt- Kriegs(Schwarzmarkt, Kampf ums Überleben)jahre, dann Hut ab, ein Schmankerl!

Eine zeitliche Ungereimtheit ist mir aufgefallen: Du bist 1943 geboren, dem Jahr, in dem die Bombardements und die Kinderlandverschickung erst richtig in >Fahrt< kamen, Deine Mutter war vielleicht >in Stellung< als Dienstmädchen?

quote
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Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln, die mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen wurden und die in den Nachkriegsjahren noch nicht deutsch- demokratischen Wortschöpfungen gewichen waren.
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Ein Monstrum von Satz! Macht den Eindruck, aus einer Propagandarede entkommen zu sein.
Dabei ist der hintergründige Gedanke mit dem Singen an der Wiege- deutest Du so auf die gestreckte rechte Hand auch in Deinem Elternhause hin?- durchaus gut und unbedingt beibehaltenswert, nur solche Worte wie nationalsozialistisch, noch mehr aber deutsch- demokratisch vergewaltigen mein Ohr. Wie wäre es mit: Goebbelschem Getön, Deutsch aus der Zwischenzeit oder etwas Ähnlichem?

quote
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Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.
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Du vermischt hier Aussagen über Stil und Inhalt Deiner damaligen Gedanken, übrigens- spezifisch sind alle Gedanken, ihre Fassung manchmal nicht. Statt Spezifisch vielleicht: etwas mit eignem Stil, oder: zu mir passendes.

einen hab ich noch:
Quote
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...oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief, um mit seinen schwarzen Schuhen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer zu hinterlassen.
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Holz, Boden und Wohnzimmer zwei Mal im selben Satz. Lass doch einfach den zweiten Part weg, nur >auf den hellen Buchendielen oder -parkett<.
Das wars schon, eigentlich gar nicht so viel, finde ich, wäre froh, wenn es bei mir selber immer so glimpflich abginge.

Kommen wir dazu, was mir wirklich Freude macht.
Ich mag Deine Geschichte, Stil und Ausdruck sind ja wie gewohnt gut (bis auf oben genannte Kleinigkeiten) Rechtschreibung ebenso.
Ab dem dritten Absatz (Zum totalen Schweigen..)wird es richtig, richtig gut, das fließt, das geht ein, das ergreift,
Karl, Deine Geschichte hat etwas von einem Spiegel, wenn ich darin lese, die Seele ist dabei...
Wenn es eine 8,5 geben würde, hättest Du sie, aber wie sagt die Neun- ich hab nichts zu meckern- stimmt ja leider nicht ganz, also acht. Ich hoffe, das ist in Ordnung so für Dich.
Mit besten Grüßen
Limba
 
Liebe Limba,

danke für Lob und Veränderungsvorschläge. Letztere sind mir einsichtig und ich werde sie, sobald ich Zeit dazu finde, berücksichtigen. Die "Kinderlandverschickung" der Mutter (als Kind) war eine Folge des 1. Weltkriegs und fand in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts statt.

Herzliche Grüße
Karl
 

Limba

Mitglied
Hi, Karl
Hätt ich auch selber drauf kommen können, meine Großmutter war in dieser Zeit im Riesengebirge "verschickt".
Schön, dass Du manches von meinen Anregungen auch so siehst.
MfG Limba
 
Am Tag davor fehlten mir noch fast alle Worte. Bevor ich schrie, reichten sie gerade für meine Frage: Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen? Aber nur für diese Frage und nicht für eine Antwort.
Deutsch war meine Muttersprache. Richtiges Deutsch. Und ich wollte die deutsche Sprache sprechen, als Sohnsprache, auch wenn ich schon über dreißig war.
Reden mit hamburghanseatisch-katholischen Vokabeln lernte ich angeblich ebenso schnell, wie nicht mehr in die Windeln zu machen. „Nein war dein allererstes Wort“, behauptete meine Mutter. „Nein und nicht, wie bei normalen Kindern: Mama! Aber ich wollte ja auch gar nicht Mama heißen.“
Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln, die mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen wurden und die in den Nachweltkriegsjahren noch nicht deutsch-demokratischen Wortschöpfungen gewichen waren. Anglizismen gehörten dazu. Nein, eigentlich Amerikanismen. Die kamen per Luftfracht für die hungernde deutsche Nachkriegsbevölkerung in Care-Paketen voll goldgelbem Chester-Käse, Ei- und Milchpulver. Nichts davon schmeckte mir.
Mein von mir verehrter und schon erstaunlich demokratisch denkender und handelnder Deutschlehrer im Gymnasium versuchte, mir das bis dahin mäßig verbreitete Denglisch auszutreiben. Doch wer konnte es schon mit Coca Cola, Kaugummi, Elvis Presley und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufnehmen?
Vom Lateinlehrer, einem ehemaligen Luftwaffen-Oberst erntete ich Lob, wenn ich die im Gymnasium gebräuchlichen lateinstämmigen Fremdworte zu übersetzen wusste. Meine Mutter, ehemalige Mittelschülerin und später Laborantin in der Hirsch-Apotheke, kannte eine Menge lateinstämmiger medizinischer Fachausdrücke, konnte sie aber nicht übersetzen. Den Mitschülern gegenüber war mir meine ungebildete Mutter peinlich. Und mein Vater verstand ohnehin nicht, was ich auf dem Gymnasium wollte. Schließlich hätte er auch kein Abitur nötig gehabt und würde jetzt immerhin eine eigene Tischlerei haben.
Die Muttersprachenmischung war einfach nicht meine. Nachdem ich, meinem Vater doch noch gehorchend, das Gymnasium ohne Abitur verließ, begann ich zu schreiben und entdeckte, als ich mir meine Prosatexte und lyrischen Ergüsse vorlas, zwar immer wieder meine Themen aber keinen unverkennbar eigenen Stil. Ich experimentierte mit der Sprache. Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.

Spät, erst mit siebenundzwanzig, lernte ich Marlene kennen und half ihr, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, um mit ihr zusammenzuleben. Aus einem Anlass, an den ich mich nicht mehr erinnere, behauptete sie wenige Monate nach der Trennung von ihrem in den Niederlanden geborenen Ehemaligem, ich könne zwar anderen Menschen helfen, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei jedoch nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen.
Umso leidenschaftlicher machte ich mich auf die Suche nach meiner Sprache, einer, die ich verstehen und mit der ich mich verständlich machen wollte.
Aber je länger wir uns kannten, desto weniger verstand Marlene mich, und das, obwohl ich mich sehr bemühte, ihre Sprache zu sprechen.
Immer wieder versicherte ich ihr, vor allem sie und nur sie verstehen zu wollen.
Genau das sei es ja, meinte sie ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag. „Frauenversteher sind unverständliche Männer!“ Es waren Abschiedsworte. Sie verließ unsere gemeinsame Wohnung, kam mir Tage darauf auf dem Gehweg entgegen, wechselte, als sie mich entdeckte, hastig die Straßenseite und sah weg.

„Zum totalen Schweigen musst du zurück, um deine Sprache neu zu erfinden.“ Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz kannte. Vermutlich von meiner damaligen inneren Stimme oder von einer erträumten Person. Auf jeden Fall von einer Frau. Mein Gedächtnis gehorchte dem Satz. Und so fehlten mir immer häufiger Worte, um zu sagen, was ich dachte und fühlte. Und ich erwischte mich dabei, geträumte für reale Ereignisse zu halten. Noch wenige Nächte vor jenem Tag verprügelte ich im Traum eine mir unbekannte Frau. Blutend lag sie vor mir auf dem Straßenpflaster, obwohl ich mir absolut sicher war, mich als Erwachsener bis dahin nie geprügelt zu haben. Frauen zu schlagen war mir ohnehin unvorstellbar. Doch Träume können bekanntlich auch Wunschträume sein.
Provoziert wird sie mich haben. Mit irgendeiner verächtlichen Bemerkung.
Früher in der Schule hatte ich ein besonders attraktives, aber eingebildetes Mädchen an ihrem blonden Zopf zu Boden gerissen. Sie, eine Komtess von Eichenhain, wohnte im Herrenhaus auf einem holsteinischen Gutshof. Ihr abschätziger Blick machte mich ebenso rasend, wie ihre Art zu fragen, was denn mein Vater eigentlich noch mal gewesen sei? „Tischler. Oder so?“ Dann winkte sie müde lässig mit der linken Hand ab.
An ihrem langen Zopf zerrte ich sie auf dem Schulhof ein Stück hinter mir her, bis sie mit ihrem Gezeter die Aufsicht führende Lehrerin herbeilockte. Die schlug mich. Mitten ins Gesicht. Und sie bestellte meine Mutter zu sich in die Schule.
Als ich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, ich solle meine Finger gefälligst von Mädchen aus gutem Hause lassen. Und kaum war mein Vater abends aus seiner Tischlerei zurückgekehrt, setzte es eine Tracht Prügel, da ich weder Mädchen zu schlagen noch meine Mutter eine blöde Kuh zu nennen hätte.
Als Zehnjährige - damals trug meine Mutter auch ihre blonden Haare zum Zopf geflochten – war sie im Rahmen einer Kinderverschickungsmaßnahme auf dem Schloss einer Grafenfamilie einquartiert. Seitdem gab sie sich alle Mühe, Verhaltensweisen zu zeigen, die sie für vornehm hielt. Und auch mir wollte sie Manieren beibringen.
Das ging weit über Anweisungen hinaus, stets in ganzen Sätzen zu reden und immer schön bitte und danke zu sagen. „Nein, Frau Mutter, heißt das, mein Junge!“ belehrte sie mich.
Als sie mich zum ersten Mal „Arschloch“ und „Scheiße“ sagen hörte, rang sie nach Luft und ihre Aufforderung, in ganzen Sätzen zu reden, fiel einem ihrer heftigen Erstickungsanfälle zum Opfer. Die Prügel, die ich mir, als mein Vater nach Hause kam, abzuholen hatte, fiel kurz und sanft aus, da er meinte, ein richtiger Mann müsse nun mal richtig fluchen können. Er konnte es. Und meine Mutter zuckte jedes Mal zusammen, denn Anlässe ausgiebig zu fluchen, fand er genug. Wenn sie das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stehen hatte, wenn er eines seiner Hemden nicht fand, weil sie den Kleiderschrank aufgeräumt hatte oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief. Er zog seine schwarzen Schuhen aus, weil er mit ihnen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer hinterlassen wollte.
„Ich finde deine Ausdrucksweise nicht so glücklich!“ ließ meine Mutter ihn wissen und in ihren wässrigen Augen schwamm eine gehörige Portion Verachtung.
„Dann finde sie eben unglücklich!“ Mein Vater lachte laut und dreckig.

Inzwischen war ich allein in ein kleines Appartement gezogen und „Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen?“ wurde meine ständige und einzige Frage.
Mein übriger Wortschatz reichte gerade, um in Geschäften einzukaufen, in denen Männer bedienten. Ansonsten zog ich Selbstbedienungsläden vor. Dort konnte ich mir wortlos Waren aus den Regalen nehmen und sie ebenso wortlos an der Kasse bezahlen.
Ich schlief immer schlechter und so wenig, dass mir schließlich keine Zeit mehr für Träume blieb. Wach lag ich und versuchte meine Gedanken in unbekannte Gedankengänge zu entführen. Sah ich Licht am Ende der Gänge, begann ich schneller zu denken, so schnell, dass ich nicht mehr daran denken konnte, ungewöhnlich zu denken. Und meine Frage blieb: Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?
Natürlich verlor ich auch meine Arbeit.
Als Mitarbeiter einer Versicherung musste ich nur Worte in die Schreibmaschinentastatur tippen und konnte diese Arbeit schweigend verrichten. Doch auch für manche Briefe gingen mir die richtigen Worte aus.
Von Tag zu Tag wurde es stiller in mir. Meine innere Stimme kannte schließlich nur noch „Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Ich verließ kaum noch meine kleine Wohnung, horchte in mich hinein, wartete und hatte keine Ahnung, auf wen oder was.
Warum ich gerade an jenem Morgen die Wohnung verließ, weiß ich heute nicht mehr. Weder wollte ich zum Einkaufen, noch musste ich einen unbedingt notwendigen Behördengang erledigen.
Mit der S-Bahn fuhr ich hinaus, ging an die Elbe und setzte mich auf eine Holzbank auf dem Elbdeich. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, ließ den Fluss glitzern und die weißen Schiffsaufbauten leuchten.
Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf zwischen den Händen saß ich und starrte auf die Erde. Kleine schwarze Ameisen folgten einer ihrer Straßen, die flussaufwärts führte und einen guten Meter rechts von der Bank in einer Grasnarbe verschwand.
Gelegentlich passierte ein Radfahrer den Deichweg und warf für Sekundenbruchteile seinen Schatten auf mich. Als ich aufblickte, war sie noch ziemlich weit weg und ging gerade ein paar Schritte in meine Richtung, blieb stehen, sah sich um, setzte ihren Weg langsam fort, um wieder stehen zu bleiben. Bald war sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt, lächelte, wedelte mit der rechten Hand über ihrem blondhaarigen Kopf herum und kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“
Wortlos rückte ich zur Seite.
„Inga Maria.“ Stellte sie sich vor.
„Nein“, antwortete ich leise und stotterte. „Und wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Sie zuckte mit den Schultern, verzog ihren breiten Mund in ihrem breiten Gesicht zu einem noch viel breiteren Lächeln, setzte sich und versuchte mir in die Augen zu sehen. „Schrei doch endlich. Ja, schrei!“
 
Am Tag davor fehlten mir noch fast alle Worte. Und bevor ich schrie, reichten sie gerade immer noch für meine Frage: Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen? Aber nur für diese Frage und für nicht einmal eine Antwort darauf.
Deutsch war meine Muttersprache. Richtiges Deutsch. Und ich wollte die deutsche Sprache sprechen, als Sohnsprache, auch wenn ich schon über dreißig war.
Reden mit hanseatisch-hamburger und mit katholischen Vokabeln lernte ich angeblich ebenso schnell, wie nicht mehr in die Windeln zu machen. „Nein war dein allererstes Wort“, behauptete meine Mutter. „Nein und nicht, wie bei normalen Kindern: Mama! Aber Mama wollte ich ja auch gar nicht genannt werden.“
Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln. Sie wurden mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen und waren in den Nachweltkriegsjahren noch lange nicht deutsch-demokratischen Wortschöpfungen gewichen. Auch Anglizismen gehörten zur damaligen Sprache. Nein, eigentlich Amerikanismen. Die kamen per Luftfracht für die hungernde deutsche Nachkriegsbevölkerung in Care-Paketen voll goldgelbem Chester-Käse, Ei- und Milchpulver. Nichts davon schmeckte mir. Der Hunger trieb es mir in die Verdauungswege.
Mein von mir verehrter und schon erstaunlich demokratisch denkender und handelnder Deutschlehrer im Gymnasium versuchte, mir das bis dahin mäßig verbreitete Denglisch auszutreiben. Doch wer konnte es schon mit Coca Cola, Kaugummi, Elvis Presley und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufnehmen?
Vom Lateinlehrer, einem ehemaligen Luftwaffen-Oberst erntete ich Lob, wenn ich die im Gymnasium gebräuchlichen lateinstämmigen Fremdworte zu übersetzen wusste. Meine Mutter, ehemalige Mittelschülerin und später Laborantin in der Hirsch-Apotheke, kannte eine Menge lateinstämmiger medizinischer Fachausdrücke, konnte sie aber nicht übersetzen. Den Mitschülern gegenüber war sie mir peinlich, meine ungebildete, aber dennoch eingebildete Mutter. Und mein Vater verstand ohnehin nicht, was ich auf dem Gymnasium wollte. Schließlich hätte er auch kein Abitur nötig gehabt und würde jetzt immerhin eine eigene Tischlerei haben.
Die Muttersprachenmischung war einfach nicht meine. Nachdem ich, meinem Vater doch noch gehorchend, das Gymnasium ohne Abitur verließ, begann ich zu schreiben und entdeckte, als ich mir meine Prosatexte und lyrischen Ergüsse vorlas, zwar immer wieder meine Themen aber keinen unverkennbar eigenen Stil. Ich experimentierte mit der Sprache. Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.

Spät, erst mit siebenundzwanzig, lernte ich Marlene kennen und half ihr, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, um mit ihr zusammenzuleben. Aus einem Anlass, an den ich mich nicht mehr erinnere, behauptete sie wenige Monate nach der Trennung von ihrem in den Niederlanden geborenen Ehemaligem, ich könne zwar anderen Menschen helfen, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei jedoch nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen.
Umso leidenschaftlicher machte ich mich auf die Suche nach meiner Sprache, einer, die ich verstehen und mit der ich mich verständlich machen wollte.
Aber je länger wir uns kannten, desto weniger verstand Marlene mich, und das, obwohl ich mich sehr bemühte, ihre Sprache zu sprechen.
Immer wieder versicherte ich ihr, vor allem sie und nur sie verstehen zu wollen.
Genau das sei es ja, meinte sie ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag. „Frauenversteher sind unverständliche Männer!“ Es waren Abschiedsworte. Sie verließ unsere gemeinsame Wohnung, kam mir Tage darauf auf dem Gehweg entgegen, wechselte, als sie mich entdeckte, hastig die Straßenseite und sah weg.

„Zum totalen Schweigen musst du zurück, um deine Sprache neu zu erfinden.“ Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz kannte. Vermutlich von meiner damaligen inneren Stimme oder von einer erträumten Person. Auf jeden Fall von einer Frau. Mein Gedächtnis gehorchte dem Satz. Und so fehlten mir immer häufiger Worte, um zu sagen, was ich dachte und fühlte. Und ich erwischte mich dabei, geträumte für reale Ereignisse zu halten. Noch wenige Nächte vor jenem Tag verprügelte ich im Traum eine mir unbekannte Frau. Blutend lag sie vor mir auf dem Straßenpflaster, obwohl ich mir absolut sicher war, mich als Erwachsener bis dahin nie geprügelt zu haben. Frauen zu schlagen war mir ohnehin unvorstellbar. Doch Träume können bekanntlich auch Wunschträume sein.
Provoziert wird sie mich haben. Mit irgendeiner verächtlichen Bemerkung.
Früher in der Schule hatte ich ein besonders attraktives, aber eingebildetes Mädchen an ihrem blonden Zopf zu Boden gerissen. Sie, eine Komtess von Eichenhain, wohnte im Herrenhaus auf einem holsteinischen Gutshof. Ihr abschätziger Blick machte mich ebenso rasend, wie ihre Art zu fragen, was denn mein Vater eigentlich noch mal gewesen sei? „Tischler. Oder so?“ Dann winkte sie müde lässig mit der linken Hand ab.
An ihrem langen Zopf zerrte ich sie auf dem Schulhof ein Stück hinter mir her, bis sie mit ihrem Gezeter die Aufsicht führende Lehrerin herbeilockte. Die schlug mich. Mitten ins Gesicht. Und sie bestellte meine Mutter zu sich in die Schule.
Als ich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, ich solle meine Finger gefälligst von Mädchen aus gutem Hause lassen. Und kaum war mein Vater abends aus seiner Tischlerei zurückgekehrt, setzte es eine Tracht Prügel, da ich weder Mädchen zu schlagen noch meine Mutter eine blöde Kuh zu nennen hätte.
Als Zehnjährige - damals trug meine Mutter auch ihre blonden Haare zum Zopf geflochten – war sie im Rahmen einer Kinderverschickungsmaßnahme auf dem Schloss einer Grafenfamilie einquartiert. Seitdem gab sie sich alle Mühe, Verhaltensweisen zu zeigen, die sie für vornehm hielt. Und auch mir wollte sie Manieren beibringen.
Das ging weit über Anweisungen hinaus, stets in ganzen Sätzen zu reden und immer schön bitte und danke zu sagen. „Nein, Frau Mutter, heißt das, mein Junge!“ belehrte sie mich.
Als sie mich zum ersten Mal „Arschloch“ und „Scheiße“ sagen hörte, rang sie nach Luft und ihre Aufforderung, in ganzen Sätzen zu reden, fiel einem ihrer heftigen Erstickungsanfälle zum Opfer. Die Prügel, die ich mir, als mein Vater nach Hause kam, abzuholen hatte, fiel kurz und sanft aus, da er meinte, ein richtiger Mann müsse nun mal richtig fluchen können. Er konnte es. Und meine Mutter zuckte jedes Mal zusammen, denn Anlässe ausgiebig zu fluchen, fand er genug. Wenn sie das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stehen hatte, wenn er eines seiner Hemden nicht fand, weil sie den Kleiderschrank aufgeräumt hatte oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief, um mit seinen schwarzen Schuhen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer zu hinterlassen.
„Ich finde deine Ausdrucksweise nicht so glücklich!“ ließ meine Mutter ihn wissen und in ihren wässrigen Augen schwamm eine gehörige Portion Verachtung.
„Dann finde sie eben unglücklich!“ Mein Vater lachte laut und dreckig.

Inzwischen war ich allein in ein kleines Appartement gezogen und „Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen?“ wurde meine ständige und einzige Frage.
Mein übriger Wortschatz reichte gerade, um in Geschäften einzukaufen, in denen Männer bedienten. Ansonsten zog ich Selbstbedienungsläden vor. Dort konnte ich mir wortlos Waren aus den Regalen nehmen und sie ebenso wortlos an der Kasse bezahlen.
Ich schlief immer schlechter und so wenig, dass mir schließlich keine Zeit mehr für Träume blieb. Wach lag ich und versuchte meine Gedanken in unbekannte Gedankengänge zu entführen. Sah ich Licht am Ende der Gänge, begann ich schneller zu denken, so schnell, dass ich nicht mehr daran denken konnte, ungewöhnlich zu denken. Und meine Frage blieb: Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?
Natürlich verlor ich auch meine Arbeit.
Als Mitarbeiter einer Versicherung musste ich nur Worte in die Schreibmaschinentastatur tippen und konnte diese Arbeit schweigend verrichten. Doch auch für manche Briefe gingen mir die richtigen Worte aus.
Von Tag zu Tag wurde es stiller in mir. Meine innere Stimme kannte schließlich nur noch „Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Ich verließ kaum noch meine kleine Wohnung, horchte in mich hinein, wartete und hatte keine Ahnung, auf wen oder was.
Warum ich gerade an jenem Morgen die Wohnung verließ, weiß ich heute nicht mehr. Weder wollte ich zum Einkaufen, noch musste ich einen unbedingt notwendigen Behördengang erledigen.
Mit der S-Bahn fuhr ich hinaus, ging an die Elbe und setzte mich auf eine Holzbank auf dem Elbdeich. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, ließ den Fluss glitzern und die weißen Schiffsaufbauten leuchten.
Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf zwischen den Händen saß ich und starrte auf die Erde. Kleine schwarze Ameisen folgten einer ihrer Straßen, die flussaufwärts führte und einen guten Meter rechts von der Bank in einer Grasnarbe verschwand.
Gelegentlich passierte ein Radfahrer den Deichweg und warf für Sekundenbruchteile seinen Schatten auf mich. Als ich aufblickte, war sie noch ziemlich weit weg und ging gerade ein paar Schritte in meine Richtung, blieb stehen, sah sich um, setzte ihren Weg langsam fort, um wieder stehen zu bleiben. Bald war sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt, lächelte, wedelte mit der rechten Hand über ihrem blondhaarigen Kopf herum und kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“
Wortlos rückte ich zur Seite.
„Inga Maria.“ Stellte sie sich vor.
„Nein“, antwortete ich leise und stotterte. „Und wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Sie zuckte mit den Schultern, verzog ihren breiten Mund in ihrem breiten Gesicht zu einem noch viel breiteren Lächeln, setzte sich und versuchte mir in die Augen zu sehen. „Schrei doch endlich. Ja, schrei!“
 
Liebe Limba,
meiner Großmutter verdanke ich meine Lust am Fabulieren. Sie hat mir nie etwas vorgelesen aber immer viel erzählt.
Herzliche Grüße
Karl
 

Limba

Mitglied
Ach Karl, das Thema Großmutter! Meine hat mich aufgenommen, als meine Eltern mich mit einem halben Jahr weggegeben haben. Wenns Dich interessiert, dann kannst Du ja mal in Novembernebel reinschauen, das ist weitgehend autobiographisch.
Im Augenblick habe ich viel um die Ohren, aber das wird auch mal wieder anders und dann bin ich wieder häufiger Lelu.
Nette Grüße Limba
 



 
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