Freunde

rainleser

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Paul stand am Grab. Die Schaufel, mit der er die Erde ins Grab geworfen hatte, hielt er noch in der Hand. Er merkte wie ihm Tränen in die Augen stiegen und spürte wie ein Beben durch seinen Körper ging. „Bitte nicht! Nur jetzt nicht weinen“, dachte er. Tommy hätte das nicht gewollt. Tommy! Der tapfere Tommy. Sein Freund. Sein bester und einziger Freund. Aber Abschied musste sein. Er trat vom Grab zurück, trat auf Tommys Eltern zu und kondolierte ihnen. Tommys Vater hielt ihn an der Schulter fest. „Bitte, bleib bei uns“, sagte er. Paul stellte sich neben Tommys Eltern.
Seine Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Wie hatte das damals alles angefangen? Vierzig Jahre war das nun her. Er war damals acht Jahre alt gewesen. Wie immer, allein unterwegs, hatte er die Gegend „Im Buhl“ durchstreift. Hier reihte sich ein Kleingarten an den anderen. Er wollte hinunter an den kleinen Bach, der hinter den Gärten entlang floss. Hier konnte man das Wasser stauen und Rindenboote schwimmen lassen. Manchmal ließ sich auch eine Bisamratte blicken, wenn man nur lange genug und ohne sich zu rühren, wartete. Er ekelte sich zwar vor ihnen, trotzdem war es interessant sie zu beobachten. Sie glitten so geschmeidig durch das Wasser, waren ganz ihrem Element angepasst.
Er hätte natürlich gerne jemanden gehabt, der diese stillen Freuden mit ihm teilte, doch wollte von seinen Klassenkameraden keiner etwas mit ihm zu tun haben.
Nur weil er keinen Vater hatte. Dabei konnte er doch nichts dafür, dass er, anders als die anderen Schulkameraden, keinen Vater besaß.
Als er an dem ersten der Gärten entlang kam, fiel sein Blick auf den Boden. Ein Apfel lag dort. Er war prall und rot. Er hob ihn auf. Der sah aber appetitlich aus. Er biss hinein. Mann! Wie der schmeckte! Aber wo kam der denn her? Er blickte auf. Die Äste eines Apfelbaums hingen über den Gartenzaun. Der Apfel, reif wie er war, war einfach vom Baum heruntergefallen. Er sah sich auf dem Boden um. Es waren keine weiteren Äpfel mehr zu sehen. Schade. Gerne hätte er ein paar Äpfel mit nach Hause genommen. Wo die doch so lecker schmeckten.
Aber er könnte ja … Ohne weitere Überlegung kletterte er über den brusthohen Maschendrahtzaun, pflückte einige Äpfel ab, stopfte sein T-Shirt in die Hose und steckte die Äpfel oben in den Kragenausschnitt.
„Was machst Du denn hier? Sieh an, ein kleiner Apfeldieb!“
Ein Mann stand vor ihm. Groß, schlank, breite Schultern, blondes Haar. Er war durch das Gartentor gekommen. Leider hatte er ihn nicht kommen hören. Er stand wie erstarrt. Angst lähmte ihn.
Der Mann lächelte. „Nur keine Angst. Ist ja kein großes Verbrechen. Als ich so alt war wie Du habe ich auch den einen oder anderen Apfel mitgehen lassen. Trotzdem ist das nicht in Ordnung. Man betritt Grundstücke von anderen Leuten nicht ohne Erlaubnis. Geschweige denn wenn sie abgeschlossen sind. Doch etwas anderes.“ Der Mann zögerte.
„Ich habe Dich schon oft hier gesehen. Du bist immer allein unterwegs. Hast Du keine Freunde?“
Er entschied sich für die Wahrheit. „Nein. Ich habe keine Freunde. Die Anderen dürfen nicht mit mir spielen. Ich habe keinen Vater. Nur meine Mutter. Mit der will niemand etwas zu tun haben.“
„Das tut mir Leid.“ Der Mann schnaufte kurz durch die Nase.
„Was machst Du denn den ganzen Tag so ohne Freunde. Das heißt, wenn Du keine Äpfel mopst?“
„Ich lese“, antwortete er. „Märchen, Abenteuergeschichten, Heldensagen, Tiergeschichten. Ich lese einfach alles. Natürlich keine Mädchensachen. Ich bin die reinste Leseratte, sagt meine Mutter.“ Er blickte dem Mann ernst ins Gesicht
„So? Eine Leseratte bist Du also. Das trifft sich gut. Mein Sohn Tommy ist auch eine Leseratte. Möchtest Du ihn vielleicht kennen lernen? Er wartet im Auto. Ich kann ihn holen.“
„Hm, ja, warum nicht.“ Er war nicht sicher ob dies die richtige Entscheidung war.
„Gut.“ Der Mann lächelte erfreut. Er verließ den Garten und verschwand in dem Seitenweg, wo wohl sein Auto abgestellt war.
Dann kam der Mann zurück. Er schob einen knallroten Rollstuhl vor sich her. Im Rollstuhl ein Junge in seinem Alter, mit schlenkernden Armen und Grimassen schneidenden Mund.
Der Mann stellte den Rollstuhl vor ihm ab.
„Das ist Tommy“, sagte er. „Mein Sohn. Er hat spastische Lähmungen. Das ist eine Krankheit. Tommy hat es von Geburt an.“
Ein Ton, der wie ein Ächzen klang, drang aus den Lippen des Jungen. Als er Tommy besser kannte, wusste er, dass dies Tommys Lachen war.
Von da an waren sie Freunde. Bis heute.
Bis heute? Nein, für ewig.
 



 
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