Freunde fürs Leben

Masterofweil

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Freunde fürs Leben

Es war wieder etwas wärmer geworden, und der letzte Schnee auf den Straßen war nahezu vollständig geschmolzen. Hässliche schwarze Klumpen von Matsch, der sich mit Dreck voll gesogen hatte, waren die letzten Überbleibsel des bald vergehenden Winters. Der kalte Wind, der durch die Straßen der Stadt pfiff, war allerdings noch immer so eisig, dass der einsame Wanderer unwillkürlich den Kragen seiner langen weiten Jacke hochschlug. Den schwarzen Filzhut hatte er dabei zum Schutz vor der Kälte ins Gesicht gezogen, so als wolle er nicht erkannt werden. Dabei war er an diesem trüben Winternachmittag der einzige Fußgänger weit und breit.

Er lenkte seine Schritte in Richtung des Stadtzentrums, um von den schäbigen und halbverfallenen Randbezirken wegzukommen. Hierher hast du doch immer gehört, dachte er dabei mit grimmiger Belustigung. Was macht die Ratte denn nun so hochmütig, dass sie ihrer angestammten Gosse entfliehen möchte? Er dachte an früher, und mit der Erinnerung kam auch der Schmerz, den er hinter sich gelassen glaubte. Doch eine Reise in die Heimat ist immer auch eine Reise in die Vergangenheit, nicht wahr? Das hatte er gewusst, und deswegen war er am Ende auch wieder hierher gekommen. Denn die Vergangenheit war das Einzige, was ihm noch geblieben war.

Er ging etwas schneller, wobei er zur Seite blickte und die drohend aufragenden Häuserruinen neben sich betrachtete. Unzählige leere Fenster schienen auf ihn hinunter zu blicken. In jeder der fahlen Öffnungen konnte sich jemand verborgen halten, der wusste, dass er noch einmal zurückkehren würde, und ihn bereits erwartete. In Gedanken schalt er sich einen Narren, dennoch beschleunigte er seine Schritte weiter, so als könne er seinem schlechten Gewissen davonlaufen. Dabei hatte er das die letzten 20 Jahre nicht geschafft.

Er wurde erst nach einigen Minuten wieder langsamer, als er den alten Dorfladen erreichte. Halvorsons Allerlei. Stand in großen gelben Lettern über der Eingangstür. Die Läden waren zugenagelt, und das hölzerne Gebäude, das vermutlich jahrelang schutzlos der Witterung ausgesetzt gewesen war, war nicht mehr als eine Ruine. Mehrere Minuten sah er das Gebäude regungslos an, von unerklärlicher Wehmut erfüllt. Fast schien es ihm, als müsse jeden Moment die Tür aufgehen, und der alte kurzatmige Halvorson käme mit hochrotem Kopf die Treppe hinuntergeschnauft wie eine museumsreife Dampflok. Doch das waren nichts weiter als Trugbilder, zugedeckt vom Mantel der Zeit. Nur noch in der Erinnerung lebendig. Wäre eine Windhexe an ihm vorübergeweht, wie er sie aus alten Wildwestfilmen kannte, hätte es ihn nicht einmal erstaunt, so mutterseelenallein lag der Laden vor ihm.

Mit einem Ruck riss er sich von dem traurigen Anblick los, der ihn nur wieder weiter in die Vergangenheit lockte. Er ging weiter die Straße entlang, bis er an eine Wegbiegung kam. Er zögerte kurz. Zu genau wusste er, was ihn hinter dieser Biegung der Straße erwartete. Schließlich setzte er seinen Weg fort, vorbei am städtischen Gefängnis. Als er daran vorüberging, wurde langsam und knarrend das schwere Eisengitter am Eingang zur Seite gezogen…

…und heraus trat Samuel ’Sam’ Sweeney, in der Hand eine Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten, auf dem Kopf einen zerschlissenen schwarzen Filzhut. „Hey, Sam, jetzt bist du draußen“, schrie ihm der dicke Wärter zu, der trotz des nasskalten Wetters und seiner nur leichten Bekleidung fürchterlich schwitzte. Genau genommen, dachte Samuel, hatte er ihn immer nur leicht bekleidet und schwitzend erlebt. „Bau da draußen nicht wieder Scheiße, sonst bist du ruckzuck wieder hier drinnen, und dann sehen wir uns wieder“, rief der Dicke ihm hinterher. Er entgegnete nichts, zu sehr war er in Gedanken mit dem beschäftigt, was ihn nun erwarten würde. ’Da draußen’ – das war für ihn während der vergangenen Jahre nichts als ein schwammiger Begriff gewesen, etwas, dass er durch die Gitterstäbe seiner schmutzigen Zelle bestenfalls hatte erahnen können. „Was da draußen ist? Das Gegenteil von hier drinnen“, hatten seine Kumpane – Freunde mochte er sie nicht nennen, auch wenn sie in der Vergangenheit seine einzige Gesellschaft gewesen waren – manchmal scherzhaft gesagt und dabei brüllend gelacht. Was genau da draußen besser sein sollte als im Gefängnis, hatte ihm jedoch niemand zu sagen gewusst, und mit der Zeit hatte er die Welt um sich herum vergessen. Doch den Gedanken an seine Tat und die damit verbundenen Schuldgefühle war er niemals losgeworden.

Er ging hinaus in die Welt, die nicht mehr die seine war. Er hatte sich oft ausgemalt, dass er von Glücksgefühlen überwältigt würde, wenn der Tag seiner Freilassung gekommen war. Aber da war nichts außer dumpfer Leere und Gleichgültigkeit. Er hatte einmal ein Buch gelesen über Soldaten, die aus einem krieg nach Hause kamen und sich plötzlich wieder im normalen Leben zurechtfinden mussten. Wie diese Menschen sich fühlten, hatte er niemals nachempfinden können. Doch an diesem Tag glaubte er, es zu wissen.

Er ging die Straße hinunter, vorbei an den schäbigen Häusern und dem Kinderspielplatz, der bizarrer weise neben dem Gefängnis stand, so als solle der Lärm der spielenden Kinder in den Sommermonaten eine zusätzliche Marter für die Gefangenen darstellen. Auch jetzt spielten einige Kinder an den Geräten, da es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war. „Verzeih, meine kleine Dame“, fragte er mit einem freundlichen Lächeln ein vielleicht achtjähriges Mädchen. „Aber kannst du mir sagen…“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als die Kleine ihn ansah und dann schreiend davon rannte. Die anderen Kinder, die etwas weiter entfernt gespielt hatten, sahen ihn nun ebenfalls an, wobei ein etwas älterer Junge, der ihr Bruder sein mochte, das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen in den Arm nahm und ihn halb ängstlich, halb herausfordernd anschaute. „Verschwinde hier, sonst ruf ich die Polizei“, rief er zu ihm herüber. „Du bist doch auch nur wieder so ein Knastbruder. Wegen Leuten wie dir ist es nicht gut, wenn man hier alleine hingeht. Zieh Leine!“ Samuel hob beschwichtigend die Hand und trat einen Schritt auf den Jungen zu, worauf dieser einen in seiner Nähe liegenden Stein aufhob und ihm drohend zeigte. „Wenn du Ärger willst, dann komm nur. Wir sind zu siebt.“ Die anderen Kinder waren mittlerweile seinem Beispiel gefolgt und hatten ebenfalls Stöcke und Steine aufgehoben. Einer hielt sogar eine Glasflasche in der Hand, die er wer weiß woher haben mochte. Sam schätzte, dass die Kinder hier so etwas wahrscheinlich immer zu ihrem Schutz irgendwo herumstehen hatten.

„Ich will doch nur…“, unternahm er einen weiteren Versuch, wurde jedoch unterbrochen, als er sich blitzschnell unter dem Stein wegducken musste, den der Junge, der der älteste der Gruppe war, nach ihm warf. Als sei das für die anderen ein vereinbartes Signal gewesen, ging nun ein wahrer Sturzregen von steinernen Geschossen auf ihn nieder, von denen ihm eines das Nasenbein zerschlug und ein anderes hart an der Schulter traf. Er jaulte auf wie ein getroffener Hund, was die Kinder nur weiter anzustacheln schien. „Knasti! Knasti“ riefen sie nun im Chor und traten, durch die sichtbaren Erfolge ihrer Wurfgeschosse ermutigt, näher auf ihn zu. Selbst das kleine Mädchen hatte sich von seinem Schrecken erholt und stimmte mit seiner glockenklaren Stimme in den Chor ein, der wie nach einer Geisterbeschwörung klang. Sam sah sich gezwungen, die Flucht anzutreten, wenn er nicht Leib und Leben riskieren wollte. Willkommen in der Wirklichkeit, dachte er, als er nun mit tränengefüllten Augen und blutiger Nase davonrannte. Willkommen ’da draußen’!

Nachdem er außer Sichtweite der Kinder war und auch ihr Rufen nicht mehr hören konnte, kauerte er sich im Schatten eines Haselnussstrauchs nieder, um zu verschnaufen. Als er die Hand vom Gesicht nahm, war sie rot von seinem Blut. Seine Nase tat ihm dermaßen weh, dass er nur noch stoßweise durch den Mund atmen konnte, und auch seine Lippen schienen aufgeplatzt zu sein. Wahrscheinlich konnte er von Glück sagen, dass einer der Steine ihm nicht noch einen Zahn ausgeschlagen hatte. Er wollte neben sich greifen, als er merkte, dass er seine Tasche offensichtlich bei der überstürzten Flucht verloren hatte. Zurückgehen konnte er jetzt nicht, soviel war klar. Aber in der Tasche war ohnehin nichts Wichtiges gewesen. Nur sein Leben der letzten Jahre.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht wankte er weiter, wobei er in diesem Moment froh war, dass niemand unterwegs war, der ihn in seinem Zustand hätte sehen können. Die Stadt war schon immer ein verlassenes Kaff gewesen, fiel ihm jetzt ein. Es war einer dieser Orte, von denen man lieber herkam, als dass man dorthin zurückkehrte, wie die Leute sagten. Er konnte es nicht beurteilen, da er in seinem Leben bisher noch nie aus seiner Heimatstadt herausgekommen war.

Er ging gerade an einer offenbar leer stehenden Häuserruine vorbei, als ein Geräusch ertönte. Es klang so, als hätte jemand eine Glasflasche weggekickt, deren Rollen nun hundertfach als Echo widerklang. Er sah hinüber zu dem abbruchreifen Gebäude zu seiner Linken, konnte jedoch nichts sehen, was diesen Laut erklärt hätte. Als er weiter ging, hörte er eine Art Lachen. Ja, diesmal bestand kein Zweifel, dass die Töne aus dem Haus kamen. Er sah erneut hinüber und strengte seine Augen an, um in der dunklen Öffnung des verfallenen Rahmens, der früher einmal die Eingangstür gewesen sein mochte, etwas erkennen zu können. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, da es ihm so schien, als blickten aus den Fensteröffnungen des Gebäudes Dutzende unsichtbarer Augenpaare auf ihn hinunter, die ihn zu verhöhnen schienen.

Er zuckte zusammen, als nun erneut das Geräusch ertönte, das seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. In der Tat hatte es sich dabei um das Wegkicken einer leeren Flasche gehandelt, denn eine solche kam nun aus der Öffnung gerollt und polterte die wenigen Steinstufen zum Erdboden herunter, wo sie liegen blieb. Er war ihr mit den Blicken gefolgt und sah nun wieder hoch zum Eingang, aus dem zwei Männer traten, die ihn höhnisch lächelnd ansahen. Einer von ihnen mochte etwa Mitte zwanzig sein, der andere war etwas jünger. Sie trugen zerschlissene Jeans und Lederjacken, die bestimmt schon bessere Zeiten gesehen hatten. Genauso wie ihre Besitzer.

„Hallo“, rief er ihnen zu, und als keine Antwort kam: „Könnt ihr mir vielleicht sagen, welches Datum heute ist?“ Sie reagierten auch jetzt nicht, kamen jedoch weiter auf ihn zu. In einigen Schritten Entfernung blieben sie stehen, und der Ältere sagte zu seinem Begleiter: „Sieh mal, wir haben einen Gast.“ Der Angesprochene lachte bei diesen Worten übertrieben und dumm.

„S’ist lang her, dass wir einen Gast hatten, was?“, meinte der Erste nun wieder, was mit einem zustimmenden Nicken und einem erneuten Lachen quittiert wurde. „Aber unser Gast hat eine Frage gestellt.“ Er rief zu ihm herüber: „Was bist du denn für ein Komiker? Warum weißt du denn das Datum nicht, hä?“ Sam überlegte kurz, ob er sich einfach umwenden und davonlaufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. „Nun, weil… Das Datum spielt keine große Rolle dort, wo ich herkomme.“ Er musste eine Weile warten, bis eine Antwort kam. Vielleicht ging es so lange, bis seine Worte im Gehirn des anderen ankamen und dort verarbeitet werden konnten. Schließlich aber kam die Gegenfrage: „Und wo kommste her, du blutende Vogelscheuche?“ Er dachte kurz darüber nach, zu lügen, entschied sich dann aber dagegen. „Aus dem Gefängnis“, meinte er schließlich mit einem resignierenden Schulterzucken.

Sein Gesprächspartner zog bei dieser Auskunft die Augenbrauen nach oben und meinte dann: „Ein Knastbruder, was? Was haste denn ausgefressen?“ Er beugte sich etwas nach vorne, versuchte, dumm zu schauen, was ihm erstaunlich gut gelang, und meinte dann in brüderlichem Ton: „Haste deinen Schwanz irgendwo falsch reingesteckt?“ Der jüngere musste nun offenbar an sich halten, um sich nicht vor Vergnügen auf dem Boden zu wälzen. Er hielt die Hand vor den Mund gepresst und lief im Gesicht rot an. Sein Bauch wackelte dabei. Der Sprecher grinste nun breit und meinte dann: „Uns kannstes ja sagen.“
Bevor Sam antworten konnte, zog der Gesprächspartner nun ein Messer aus der Tasche und klappte es mit einem lauten Schnappen auf. „Ist ja auch egal“, meinte er dann. „Wir sind hier auf jeden Fall die Ordnungshüter, verstanden? Und unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass du so schnell keine Muschi mehr zwischen die Finger bekommst.“ Er trat noch einen Schritt auf ihn zu und meinte dann: „Es sei denn, du kannst uns die Durchgangsgebühr bezahlen. Wenn du das kannst, lassen wir dich ungeschoren davonkommen.“ Sam glaubte kein Wort davon. Er hatte lange genug unter Leuten wie diesen gelebt, um zu merken, dass die beiden vor ihm auf Krawall aus waren und ihn auf jeden Fall aufmischen würden, egal, was er ihnen anbot. Davon abgesehen hatte er nicht das Geringste, was er ihnen hätte geben können, so dass ohnehin alles auf eine Schlägerei hinauslief. Wie zur Bestätigung zog der jüngere nun mit einem abstoßenden Grinsen eine Fahrradkette hervor und fing an, sie drohend zu schlenkern.

Sam überlegte, wie er aus diesem Schlamassel herauskommen sollte. Ehe er jedoch zu einem Entschluss kam, sagte der Wortführer: „Aber wir sind schlechte Gastgeber, denn wir haben ja deine Frage noch nicht beantwortet.“ Er holte tief Luft, um dann im Tonfall eines Politikers zu deklamieren: „Es ist heute genau der 25. November.“ Diese Auskunft befriedigte Sam nicht, so dass er noch einmal nachhakte: „Darum geht es mir nicht. Sag mir verdammt noch mal nur, welches Jahr.“ Für einen Moment tauchte auf den Zügen der beiden vor ihm Stehenden Erstaunen auf, dass gegenüber den bisher von den beiden gezeigten Emotionen einen entscheidenden Vorteil hatte: Es war echt. „Wie bitte? Na, 1990 natürlich.“ Diese Worte trafen Sam wie ein Schlag in die Magengrube, so dass er sich abwandte und dann vor sich hinmurmelte: „Was? Sieben Jahre? Ich habe sieben Jahre gesessen?“ Er sah die beiden nun ungläubig an, die ihren kurzen Moment der Überraschung nun wieder hinter sich hatten. „Ja, genau, Knastbruder. Sieben dünne und sieben fette Jahre, hm? Die dünnen haste jetzt hinter dir, aber wenn ich eine Vorausschau wagen darf: Die fetten werden auch nicht ganz so toll für dich.“ Mit diesen Worten stieß er einen Schrei aus und rannte mit gezogenem Messer auf Sam zu, wobei sein Begleiter ihm auf dem Fuß folgte.

Ohne nachzudenken, drehte Sam sich um und rannte davon, so schnell er konnte. Die beiden waren ihm dicht auf den Fersen, wie er an ihrem Schnaufen hörte. Er wagte nicht, sich umzusehen, sondern versuchte, sich den vor ihm liegenden Teil der Stadt in Erinnerung zu rufen. Sofern er es nach all der Zeit – sieben Jahre, dachte er noch einmal ungläubig – noch richtig wusste, war dieses Gebiet nahezu menschenleer. Es gab nur einen Haufen alter Fabrikgebäude, die Streunern wie seinen zwei Verfolgern einen Unterschlupf boten. Er merkte verzweifelt, dass die zwei hinter ihm näher kamen und das Rauschen der durch die Luft sausenden Fahrradkette nun schon gefährlich nahe erklang. Auf einmal hörte er hinter sich einen Schmerzensschrei, gefolgt von den Worten „Autsch. Bist du denn bescheuert, du Blödmann? Ihn sollst du mit deinem Spielzeug treffen, nicht mich.“ Der jüngere hatte offenbar in seinem Übereifer den Begleiter mit der Fahrradkette gestreift. Wie es dazu gekommen sein mochte, war ihm im Moment egal. Was zählte, war der Vorsprung, den ihm dieser Zwischenfall verschaffte. Bis die beiden hinter ihm sich wieder aufgerappelt hatten, war er schon in deinem der dunklen Eingänge vor ihm verschwunden. Am ganzen Körper zitternd blieb er stehen, wobei das Blut in seinen Ohren rauschte. Er litt fürchterliche Schmerzen, die von seiner verwundeten Nase herrührten, und atmete heftig durch den Mund. Er hörte die beiden Verfolger schon wieder heranstürmen und duckte sich noch etwas weiter in das Dunkel der Ruine, in der er Zuflucht gefunden hatte. „Wo kann er nur sein? Gerade eben war er noch hier“, hörte er nun den Älteren sagen. Dann erklang es zornig: „Das verdanken wir nur deiner Blödheit, dass uns der Typ durch die Lappen gegangen ist.“ Er vernahm einen Schlag, dem ein dumpfer Schmerzenslaut folgte. „Trottel!“, erklang es, dann folgte ein weiterer Schlag, und der Jüngere wimmerte noch einmal. Wäre es nach Sam gegangen, hätten die beiden Schwachköpfe sich ruhig gegenseitig den Schädel einschlagen können. Er vernahm Schritte draußen, die sich seinem Versteck näherten, dann sagte der Ältere resignierend: „Was soll’s, reich sah der eh nicht aus. Aber wir hätten ihm wenigstens ordentlich die Fresse polieren können.“ Er seufzte, dann entfernte er sich wieder von Sam, der hörbar aufatmete. Die Schritte der beiden wurden leiser und verklangen schließlich völlig. Dennoch wagte Sam es fast eine halbe Stunde lang nicht, einen Mucks zu machen. Seine Jäger konnten immer noch in der Nähe sein. Schließlich reckte er den Hals etwas, um die Straße vor sich besser überblicken zu können. Als er sah, dass sie menschenleer dalag, kam er aus seinem Schlupfwinkel und ging schnell und so leise wie möglich weiter.

Wohin sollte er nur gehen? Er, der Ausgestoßene, dem seine Vergangenheit anhaftete wie ein Kainsmal? Er kam sich so furchtbar einsam und schutzlos vor. Die Welt ’da draußen’ hatte Zähne, mit denen sie schmerzhaft zubeißen konnte. Für einen kurzen Moment dachte er sogar darüber nach, ein Verbrechen zu begehen, damit er wieder ins Gefängnis gehen konnte. Das war wenigstens ein überschaubarer Minikosmos, eine eigene kleine Welt für sich. Schmutzig zwar und abseits jeder Menschenwürde, aber doch auch etwas, was er in den Griff bekommen konnte. Er verwarf die Idee jedoch nach kurzem Nachdenken wieder. Nein, das war keine Alternative. Noch einmal die Schikanen und Quälereien, die stumpfe Monotonie, die Wiederkehr des ewig Gleichen. Lieber ließ er sich auf offener Straße totschlagen wie eine Ratte. Das war das ihm angemessene Schicksal, wenn er es Recht bedachte. Aber da gab es etwas, was er vorher noch tun musste. Etwas, was er einmal noch mit eigenen Augen sehen musste, wie um sein Schicksal anzunehmen und zu akzeptieren, dass er all die jahrelange Qual auch tatsächlich verdient hatte.

Er lenkte seine Schritte über einige Seitenstraßen in das reichere Viertel der Stadt. Je näher er seinem Ziel kam, desto belebter wurden die engen Gassen. Unzählige Passanten strebten geschäftig an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sam war das nur Recht. Er ging nahe an der Häuserwand und wandte den Kopf immer wieder zur Seite, damit niemand das Blut in seinem Gesicht sehen konnte. Seine Vorsicht erwies sich jedoch als unnötig, da ohnehin niemand von ihm Notiz nahm. Als ob ihn eine geheimnisvolle Aura umgebe, die den Menschen sagte, dass hier jemand war, mit dem man sich besser nicht einlassen sollte.
Je näher er seinem Ziel kam, desto zielstrebiger wurde sein Gang. Immer mehr Details fielen ihm wieder ein. Dort führte eine Gasse hinauf, die er kannte. Hier war eine Wegbiegung, die ihm vertraut war. Er gewann zusehendes an Sicherheit, und schließlich sah er das Haus vor sich liegen, zu dem er wollte. Die prachtvolle Fassade des Gebäudes war von strahlendem Weiß…

…dem die vergangenen Jahre nichts hatten anhaben können. Der Mann lenkte seine Schritte in Richtung des Eingangstores in der menschenleeren Allee und sah auf das Namensschild an der Pforte. Es stand ein Name darauf, der ihm aber nichts sagte. Was hatte er auch anderes erwartet, nach all der Zeit? Wahrscheinlich war die Familie kurz nach den Ereignissen weggezogen, weil sie den Schmerz nicht mehr hatte ertragen können. Erneut wurde ihm schwer ums Herz, und er wollte kehrt machen. Aber er war nun einmal zum letzten Mal hierher gekommen und musste seinen langen Weg bis zuletzt gehen. Am Ende wartete die Erlösung auf ihn, wie ein Topf voller Gold am Ende eines Regenbogens. Er rüttelte am schmiedeeisernen Eingangstor und war so überrascht, dieses offen vorzufinden, dass er fast vornüber gefallen wäre. Er ging den Kiesweg zum Eingang entlang und zögerte dann erneut, die wenigen Stufen hinaufzugehen, die ihn in das Haus führten. Er blieb eine Weile stehen und lauschte. Als er jedoch nicht den geringsten Laut hörte, ging er weiter. Wenn jemand in dem Haus war, konnte er sich immer noch als alter Mann ausgeben, der einen Verwandten besuchen wollte und sich in der Tür geirrt hatte. Er stieg die kurze Treppe hinauf, dann blieb er an der Tür stehen und blickte zu beiden Seiten den von Marmorsäulen getragenen Eingangsbereich entlang. Als niemand zu sehen war, fasste er sich schließlich ein Herz und klingelte an der Tür. Er wartete eine Weile, wobei er sich überlegte, was er gleich in die Gegensprechanlage sagen würde. Als niemand öffnete, klingelte er erneut. Wieder regte sich nichts. Ohne viel Hoffnung wollte er sich schon zum Gehen wenden, rüttelte dann aber wider besseres Wissen doch an der Tür. Erneut fand er diese ganz gegen seine Erwartungen offen vor. Er trat langsam ein und zog die Tür hinter sich wieder ins Schloss.

Er hatte sich während der fast 30 Jahre, die seit jenem Abend vergangen waren, jedes Detail des Hauses so oft in Erinnerung gerufen, dass er sich mit verbundenen Augen darin zurechtgefunden hätte, ohne einmal anzustoßen. Nun war er unsagbar erleichtert, dass die jetzige Einrichtung kaum etwas mit seinen Erinnerungen gemein hatte. Wer auch immer das Haus nachher in Beschlag genommen hatte – er war offenbar bemüht gewesen, jede Erinnerung an die vorherigen Besitzer und die Tat auszulöschen. Sofern die heutigen Bewohner überhaupt von diesen Dingen wussten. Vielleicht war es besser, wenn man diese Prunkvilla ohne das Wissen um ihre Vergangenheit bezog. Allzu leicht konnte man sich sonst einbilden, nachts die Dielen knarren zu hören und einen ruhelosen Geist umherwandern zu sehen.

Der Mann ging ein Stück den Gang entlang und betrat dann einen Raum, der das Wohnzimmer zu sein schien. Deckenfenster ließen das trübe Herbstlicht hereinfallen, das einen mit Holz vertäfelten und mit einem schönen alten Kamin ausgestatteten Raum erleuchtete. Vor kurzem schien hier noch ein Feuer gebrannt zu haben, wie ihm die verkohlten Holzscheite im Ofen verrieten. Er sah sich indem Raum um, als sei er kein widerrechtlicher Eindringling, sondern gehöre hierher. In gewisse Weise stimmte das ja auch. In seinem Kopf hatte er wohl kein Haus so häufig besucht wie dieses hier. Nur dass dies ein anderes Haus gewesen war, als er in Erinnerung hatte. Wäre er sich seiner Sache nicht so sicher gewesen, hätte er angenommen, sich in der Nummer geirrt zu haben. Aber hier gab es keinen Irrtum.

Er ging auf den Kamin zu und sah sich die Bilder an, die dort standen. Es waren Familienszenen, teils in Schwarzweiß und teils in Farbe. Kleine Kinder, ein Hund, lachende Eltern. Ein perfektes Idyll. Er nahm eines der Bilder zur Hand, um es sich genauer anzusehen.
Er war so in die Betrachtung des Fotos vertieft, dass er gar nicht hörte, wie hinter ihm jemand das Haus betrat. Demzufolge erschrak er furchtbar, als eine Frauenstimme auf einmal dicht hinter seinem Rücken sagte: „Wer sind Sie, und was tun Sie hier in meinem Haus?“ Er drehte sich schnell um und sah eine blonde Frau mittleren Alters hinter sich stehen, die ihn überrascht und offenbar etwas erschrocken ansah. Kein Wunder, dachte er. Wie würdest du wohl schauen, wenn du nach Hause kommst und auf einmal eine wildfremde Person im Wohnzimmer steht? Er fing sich wieder und meinte dann entschuldigend: „Verzeihen Sie, ich wollte wirklich nicht eindringen, aber die Haustür stand offen.“ „Und dann dachten Sie offenbar, das wäre eine Einladung für jedermann, hier einfach hereinzumarschieren und sich häuslich einzurichten?“, fragte die Frau in einem spöttischen Ton, der ihm merkwürdig vertraut vorkam. „Nein, ganz gewiss nicht, Madam“, versuchte er sich herauszureden. Er wand sich unter dem ironischen Funkeln ihrer Augen, das schließlich einem milden Ausdruck Platz machte, als sie das Foto in seiner Hand sah. „Stellen Sie es bitte wieder hin“, meinte sie schlicht. Er errötete, als er nun verwundert auf seine Hände sah, und tat eilig wie ihm geheißen. Dann tippte er sich an den Hut und sagte: „Verzeihen Sie bitte vielmals, Madam. Es ist sonst nicht so meine Art, in fremde Häuser einzudringen.“ Stimmt nicht, meldete sich höhnisch eine Stimme in seinem Kopf zu Wort. Das hast du schon mal gemacht. Aber damals wurde dir die Türe geöffnet, nicht wahr? Er wandte sich zum Gehen und wollte gerade an der Frau vorbei, als diese meinte: „Die Eingangstür ist übrigens immer offen. Ist so eine Angewohnheit von mir. Es gibt hier in der Stadt nicht viel, wovor man sich fürchten müsste, wissen Sie?“ Er hätte ihr da durchaus widersprechen können, wollte jedoch schleunigst aus dem Haus und einer Situation flüchten, die ihm zunehmend peinlich war. Herrgott, was hast du dir nur dabei gedacht? Ein alter Bock auf Erinnerungstournee, was? „Da mögen Sie recht haben“, murmelte er nur, dann noch einmal: „Verzeihen Sie bitte.“ Er ging an ihr vorüber, wobei er ihren Arm streifte. „Was wollen Sie überhaupt hier? Ich meine, wie ein klassischer Räuber sehen Sie nicht gerade aus“, sagte sie. „Nein, ich…“

Zum Teufel, was sollte das? War er den ganzen Weg hierher gekommen, um mit einer wildfremden Frau in ihrem Haus völlig fruchtlose Diskussionen zu führen? Aber einfach so gehen konnte er auch nicht. Er war ihr etwas schuldig. Für den Einbruch in ihr Haus und den Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. Er griff deshalb in die Tasche und zog seine Geldbörse hervor. „Hören Sie, den Schaden ersetze ich Ihnen. Hier ist Geld.“ Sie lachte leise, was wieder so vertraut klang und sie ihm auf merkwürdige Weise sympathisch machte. „Welchen Schaden denn? Die Tür war ja offen. Und Geld hab ich ja wohl genug, wie man an diesem Haus sieht.“ Sie lachte erneut. „Gut“, meinte er und steckte das Geld zögerlich wieder ein. „Wenn ich aber was für Sie tun kann…“ „Ja, das können Sie“, unterbrach sie ihn sanft. „Trinken Sie mit mir einen heißen Kaffee und erzählen Sie mir etwas über sich. Es ist ja so eisig kalt draußen.“ Sie seufzte. „In diesem Kaff gibt es sehr wenig Abwechslung, wissen Sie? Ein Einbrecher kann da bereits ein großes Abenteuer darstellen.“ „Naja, ich bin ja kein Einbrecher in dem Sinne“, wandte er ein. Warum konnte er dieses Haus nicht einfach wieder verlassen? Aber er hatte noch immer das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Außerdem hatte er sie gefragt, was er für sie tun könne, und sie hatte es ihm gesagt. Und schließlich war es tatsächlich eisig kalt draußen.

Sie sah, dass er überlegte, und meinte dann mit einem Lächeln: „Setzen Sie sich erstmal. Ich mache uns einen Kaffee, und dann erzählen Sie mir erstmal, was Sie in meinem Haus zu suchen haben.“ Während sie sich abwandte und nach nebenan in die Küche ging, wo sie mit irgendetwas herumhantierte, dachte er daran, hinter ihrem Rücken einfach fluchtartig das Haus zu verlassen. Er hatte in dieser Stadt noch etwas zu tun, und außerdem konnte es ihm ja egal sein, was diese fremde Frau von ihm dachte, da er sie ohnehin nie mehr sehen würde. Aber irgendetwas in ihrer Stimme und in ihrem Lächeln verhinderte, dass seine Beine diesen Plan in die Tat umsetzten. Er zog sich einen der Stühle am großen Esstisch, der in der Nähe stand, heran und nahm darauf Platz.

Da erschien seine unfreiwillige Gastgeberin bereits wieder in der Küchentür, in der Hand zwei dampfende und verführerisch duftende Tassen mit Kaffee. Eine der Tassen stellte sie vor ihm hin, die andere behielt sie selbst, als sie nun neben ihm Platz nahm. Sie lächelte wieder auf so geheimnisvolle Art, als sie bemerkte, dass er offenbar nicht so ohne weiteres das Wort ergreifen würde. Schließlich fragte sie ihn ohne Umschweife: „Wie heißen Sie, und warum kommen Sie in mein Haus?“

„Oh, verzeihen Sie bitte. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.“ Er erhob sich, streckte ihr seine leicht zitternde Hand hin und meinte dann förmlich: „Samuel Sweeney. Meine Freunde nennen mich Sam – auch wenn ich nicht weiß, wann das zum letzten Mal jemand getan hat.“ Sie schlug lachend über seine Worte ein. „Und jetzt sagen Sie mir, was Sie hier zu suchen haben“, meinte sie dann höflich, aber bestimmt.

Er zögerte noch immer, fasste sich aber schließlich ein Herz und sagte: „Es ist so: Ich kenne dieses Haus von früher. Ich bin hier aufgewachsen. In dieser Stadt, meine ich. Nicht in diesem Haus.“ Sie wartete geduldig, bis er fortfuhr. „Ich wollte nur mal sehen, ob das Haus noch steht. Und als ich das gesehen hatte, habe ich an der Haustür geklingelt. Als daraufhin niemand aufgemacht hat, sah ich, dass die Tür offen war.“ Das war nicht die ganze Wahrheit. Er hatte ohnehin gewusst, dass das Haus noch stand. Außerdem war es ihm nicht um diesen Besuch hier gegangen. Das sollte nur eine kurze Zwischenstation vor seinem eigentlichen und endgültigen Ziel sein. Seinem letzten Ziel. Aber für diesen Moment und diese fremde Frau war dies als Wahrheit ausreichend. Schließlich log er ja nicht. Er passte nur die tatsächlichen Gegebenheiten so an, dass sie zu seinen Absichten passten.

„Das Haus hat sich verändert“, meinte er dann, wobei er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. „Ich hatte es anders in Erinnerung.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend beschloss er, den Spieß umzudrehen, und fragte nun seinerseits: „Seit wann wohnen Sie hier?“ „Einige Jahre“, meinte sie ausweichend und ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich habe das Haus nach meinem Einzug so eingerichtet, dass ich mich darin wohl fühle. Aber fahren Sie ruhig fort.“ Sie hatte seine Frage beantwortet, ohne eigentlich etwas zu sagen. Aber schließlich war sie ja auch ihm gegenüber zu nichts verpflichtet, rief er sich in Erinnerung. Sie war ohnehin gut zu ihm. Wäre er an jemanden anders geraten, hätte er sich vielleicht schon mit der Polizei herumschlagen müssen.

„Wie gesagt, ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Und Sie haben recht: Es gibt hier wirklich nicht viel Aufregendes“, setzte er seine Erzählung schließlich fort. „Das war auch schon früher so. Es ist merkwürdig, aber…“

„…sie meldet sich einfach nicht mehr.“
Die Worte waren vermeintlich teilnahmslos ausgesprochen worden, dennoch hatte er ein leichtes Zittern seiner Stimme nicht verbergen können. Er senkte den Blick, weil sie nicht sehen sollte, wie traurig er war.

Sie lehnte sich hinter ihrem Schreibtisch zurück und sah ihn eine Weile an, um abzuwarten, ob dieser Äußerung noch weitere folgen würden. Dann meinte sie ruhig: „Wann hast du denn zuletzt etwas von ihr gehört?“ „Vor mehr als zwei Monaten“, stieß er weinerlich hervor. „Das ist eine lange Zeit“, meinte sie nach einer Weile. „Wie war denn euer letzter Kontakt?“ Ein Strahlen ging über sein Gesicht, als er sagte: „Es war großartig. Sie konnte sich sogar noch an Dinge erinnern, die ich ihr vor einem Jahr gesagt habe.“ „Und jetzt bildest du dir sonst was darauf ein, mh?“ Er erwiderte nichts, strahlte jedoch weiter bis über beide Ohren.
Sie holte tief Luft. „Meine Güte, bist du verknallt. Dir fällt nicht mal mehr eine blöde Bemerkung ein. Wann wirst du endlich merken, dass sie deine Liebe nicht will?“ Er sank in sich zusammen, und sein Grinsen war wie ausgeknipst.
Sie fuhr ruhig fort: „Als sie das letzte Mal hier war, hast du sie ja schon wieder überfallen und bist ihr nach gedackelt. Wenn du das nicht getan hättest, hätte sie gemerkt, dass du sie offensichtlich verstanden hast und das tust, worum sie dich gebeten hat. Aber es ist doch klar, dass sie auf Distanz geht, wenn du sie bedrängst. Ich halte sie für ein nettes Mädchen. Sie wird dich sicher einmal lieb haben, so wie auch ich dich lieb habe. Aber nur, wenn du ihr endlich den nötigen Freiraum lässt. Du weißt doch, dass sie sich irgendwann wieder melden wird, wenn ihr was an deiner Freundschaft liegt. Und selbst wenn nicht: Was würde dann schon passieren?“

Er überlegte kurz, dann meinte er leise: „Wahrscheinlich würde ich mich zwei Wochen irgendwo einschließen und mir die Augen ausheulen.“

„Gut. Und was wäre nach Ablauf dieser zwei Wochen? Das Leben würde weitergehen. Wenn du ehrlich bist, weiß du, dass ich Recht habe. Aber du kannst ja nur noch an sie denken. Das ist doch keine normale Verliebtheit mehr. Du bist ja regelrecht von ihr besessen. Und außerdem bildest du dir auf einen Scheißdreck was ein. Ich könnte dir auch Sachen erzählen, die du mir vor einem Jahr gesagt hast. Das ist nichts Besonderes. Und dann diese fixe Idee, dass sie dir ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Wenn ich dir meine Lebensgeschichte erzählen würde, wärst du dann in mich verliebt?“
Nun musste selbst er lachen. Das war einer der Gründe – wenn auch längst nicht der einzige - warum er sie so gern hatte: Sie heiterte ihn immer auf, egal, wie schlecht er sich fühlte. „Das weiß ich nicht. Vielleicht. Probier es doch mal aus.“

Sie lächelte ebenfalls, wurde aber sofort wieder ernst. „Wenn du so weitermachst, verlierst du sie, das kann ich dir schriftlich geben. Du verrennst dich da in etwas. Sie hat dir doch gesagt, dass sie dich als Kollegen mag, oder nicht? Wenn du sie doch so über alles liebst, warum hältst du dich dann nicht an das, worum sie dich bittet? Am Ende wirst du sie vergraulen, und dann hast du weder eine Beziehung noch eine Freundschaft.“
„Ich hab mir das nicht ausgesucht“, murmelte er trotzig. „Ich hab ja nicht gesagt: So, heute verliebe ich mich mal in die nächste süße Blondine, die mir über den Weg läuft.“
„Natürlich hast du das nicht. Man verliebt sich mit dem Bauch und nicht mit dem Kopf, und entweder es passiert oder es passiert eben nicht. Sie kann dir keinen Vorwurf machen, dass du dich in sie verliebt hast“, meinte sie sanft. „Aber umgekehrt kannst du ihr auch nicht vorwerfen, dass sie sich nicht in dich verliebt hat.“ Sie beugte sich etwas nach vorn. „Du denkst wie ein Stalker. Ich hab das mal bei einer Freundin von mir erlebt. Ihr Exfreund verfolgte sie und beobachtete sie zuhause. Schließlich heiratete sie, und er behauptete immer noch, dass sie in Wahrheit ihn lieben würde. Wenn er sie beobachtete und lachen sah, bildete er sich allen Ernstes ein, dass sie wegen ihm so glücklich wäre. Bei dir ist es auch nichts anderes, wenn auch vielleicht noch im Anfangsstadium. Aber wenn du dich da weiter so hineinsteigerst, hast du irgendwann eine Unterlassungsklage am Hals und darfst dich ihr nur noch auf hundert Meter nähern. Und dabei ist sie wirklich gut zu dir. Jede andere hätte den Kontakt schon längst abgebrochen. Sie hat dir bereits mehr als eine Chance gegeben, eine gute Freundschaft zu ihr aufzubauen.“ Sie musterte mit ihren sanften braunen Augen das Häufchen Elend, das vor ihr saß, und meinte dann: „Denkst du, mir macht es Spaß, dich so traurig zu sehen? Du liegst mir am Herzen, und mir ist wichtig, dass es dir gut geht. Aber jemand muss dich wachrütteln, bevor es zu spät ist.“ Er schluckte ein paar Mal, dann meinte er trotzig: „Jetzt mach mal halblang. Zwischen jemandem nachlaufen und jemanden zuhause beobachten ist doch noch ein kleiner Unterschied.“

Sie schwiegen beide eine Weile, dann meinte sie ruhig: „Du solltest ihr diese Woche nicht anrufen.“

„Das hätte ich ohnehin nicht getan“, brauste er auf.

„Doch, hättest du“, erwiderte sie gelassen.

„Nein, hätte ich nicht“, fuhr er sie so an, dass sie beschwichtigend die Hand hob. „Hey, ganz ruhig. Du kannst normal mit mir reden.“ „Du glaubst mir ja grundsätzlich nichts“, maulte er. „Erstens stimmt das nicht, und zweitens kann ich dir auch nicht helfen, wenn du wegen so einer Kleinigkeit beleidigt bist“, meinte sie sanft.

„Ich bin nicht beleidigt.“

„Doch, bist du.“

„Also gut, dann bin ich es eben. Aber es bringt mir nichts, wenn du mir immer sagst, was ich alles besser machen könnte.“
Es trat wieder eine Pause ein, die sie dazu nutzte, nach der Zahnbürste zu greifen, die in trauter Eintracht zusammen mit Büroklammern und Stiften bei ihrer Schreibtischlampe lag, und etwas darauf herumzukauen – eine Angewohnheit, der sie nachging, seit sie mit dem Rauchen aufgehört hatte.

„Du kannst mir sowieso nicht helfen“, meinte er schließlich.

„Es ist nicht meine Aufgabe, Sam, denn ich bin nicht dein Therapeut.“

„Anscheinend doch“, herrschte er sie an, „bei den ganzen klugen Ratschlägen, die du für mich bereit hältst.“

Ohne ihr die Chance auf eine Antwort zu geben, sprang er auf und stürmte aus dem Büro. Draußen auf der Straße überlegte er kurz, was er jetzt tun sollte. Er wusste, dass alles, was sie gesagt hatte, zutraf, und ebenso sicher wusste er, dass er sein Leben nicht wieder in den Griff bekommen würde, wenn er seine Arbeitskollegin, die ihm mehr bedeutete also sonst jemand auf der Welt, mit seinem verletzenden Verhalten verlieren würde. Aber er war so frustriert davon, wie gelassen sie ihm die grässliche Wahrheit an den Kopf geschmissen hatte, dass es seine Wut nur wieder von neuem anstachelte. Und was diese andere Sache anging: Wenn diese kleine Blondine meinte, ihn einfach ignorieren zu können, würde sie bald merken, dass sie sich da irrte. Kein Mensch hatte das Recht, ihn derart zu verletzen. Kein Mensch! Sie würde es ihm fürchterlich büßen, dass sie ihm ihr Vertrauen geschenkt und dadurch Hoffnungen gemacht hatte.

Er ging die Straße hinunter, immer wieder geschüttelt von wilden Zuckungen und Gesten ohnmächtiger Wut. In diesem zustand konnte er sich unmöglich zuhause sehen lassen, das hätte unweigerlich Fragen aufgeworfen, die ihm doch nur lästig gewesen wären. In solchen Fällen gab es nur ein Mittel, das unfehlbar dazu beitrug, ihn auf andere Gedanken zu bringen, und das war ein Kinobesuch. Er wusste, dass im Cinemania, dem örtlichen Lichtspielhaus, „King Kong“ lief, ein Film, den er schon als Kind geliebt hatte. Der Streifen hatte 50 Jahre zuvor seine Premiere gefeiert und lief aus diesem Anlass wieder in den Kinos. Bis zum Cinemania war es nicht weit, und er hatte auch noch etwas Geld in der Tasche, sodass er seine Schritte etwas bescheunigte. Tatsächlich sah er schon nach kurzer Zeit in der langsam anbrechenden Dämmerung das Filmtheater vor sich auftauchen, und die Leuchtschrift über dem Eingang verhieß in exotisch anmutenden Lettern den ersehnten Klassiker. Er löste ein Ticket und nahm im Zuschauerraum Platz, der etwa zur Hälfte gefüllt war. Als die wuchtige Titelmusik begann und in schwarzweiß die Namen der Darsteller und sonstigen Beteiligten wie von Scheinwerfern bestrahlt auf der Leinwand erschienen, hatte er seinen Liebeskummer und den ganzen übrigen Ärger bereits vergessen. Im Dunkeln sitzen und beobachten zu können, ohne dass er selbst gesehen wurde – das war immer schon sein größtes Vergnügen gewesen, das Dunkel des Kinos von jeher sein Zufluchtsort vor Sorge und Leid, ein Schaufenster der Träume. Während der folgenden 90 Minuten war er im mystischen Dschungel von Skull Island, sah, wie die Eingeborenen in ihren aus heutiger Sicht putzigen Baströckchen die liebreizende Fay Wray entführten und hinter dem großen Tor ihres Dorfes zwischen zwei Pfählen festbanden. Als schließlich Kong, der Herrscher des Dschungels, auf der Lichtung erschien und sich die Blondine krallte, die sich in seiner gewaltigen Pranke so zart und verletzlich ausnahm, war Sam vor Erregung wie gelähmt. Der Riesengorilla legte sich in der Folge mit einer Riesenschlange an, die er als Peitsche ihrer selbst benutzte, und brach einem grässlichen Tyrannosaurus Rex den gewaltigen Kiefer entzwei, alles akustisch untermalt von den Hilfeschreien Fay Wrays, die er beschützen wollte. Als der überdimensionale Affe auf der Spitze des Empire State Buildings seinen letzten heroischen Kampf ausfocht und schließlich von einer Staffel Jagdflugzeuge zur Strecke gebracht wurde, nachdem er die kleine Blondine, die er so liebte und die seinen Schutz doch nicht wollte, mit Tränen in den Augen abgesetzt hatte – da standen auch Sam die Tränen in den Augen. Er blinzelte beschämt zu Boden. Beim Herausgehen sah ihn der Kassierer und rief ihm zu: „Aber Sam…

„…Sie weinen ja!“
Überrascht sah er vom Tisch auf und der fremden Frau vor sich ins Gesicht. Es stimmte, er konnte selbst bemerken, wie ihm die Augen feucht geworden waren. Eben hatte er ihr von jener schrecklichen Nacht erzählt, in der er jene Tat begangen hatte, die ihn fortan für immer verfolgen sollte. Er hatte es zunächst gar nicht gewollt. Aber durch sanftes Nachfragen schien sie bei ihm auf die richtigen Knöpfe gedrückt zu haben, und alles, was sich fast 30 Jahre lang in ihm aufgestaut hatte, war erdrutschartig hervorgebrochen.

Sie lehnte sich etwas in ihrem Stuhl zurück. „Ihr Kaffee ist ja ganz kalt“, meinte sie dann. Er sah hinunter zu der Tasse in seinen Händen, die er während der vergangenen halben Stunde völlig vergessen hatte, sosehr war er in die Vergangenheit versunken gewesen, in den tosenden Wirbel der Erinnerungen.

Er sah wieder zu ihr auf, und seine Augen waren immer noch feucht. Sie sah ihn ernst an. „Haben Sie das, was Sie mir erzählt haben, schon jemals zuvor einem anderen Menschen erzählt?“, fragte sie dann ruhig. Er schüttelte den Kopf und meinte mit belegter Stimme: „Nein, und ich hätte bis eben auch nicht gedacht, dass ich das jemals tun würde.“ Er machte eine Pause, dann fuhr er leise fort: „Ich weiß nicht, aber Sie haben irgendetwas an sich…“ „Warum sind Sie weggegangen?“, unterbrach sie ihn hastig, als ob sie dem Thema, das er gerade anschneiden hatte wollen, um jeden Preis zu entgehen trachtete. „Sie meinen nach meiner Zeit im Gefängnis?“ „Ja. Sie haben für 20 Jahre die Stadt verlassen. Warum?“ Er räusperte sich, dann lachte er kurz, bitter und freudlos. „Ich wollte weg. Weit weg von hier, und neu anfangen. Was hätte ich denn hier noch tun sollen? Überall wurde ich bedroht. Auf der Straße griffen mich die Leute an. Außerdem wäre die Erinnerung zu schmerzlich gewesen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, dass ich sieben Jahre meines Lebens hinter Gittern verbracht hatte. Aber das war nicht das Schlimmste, ich hatte es ja verdient. Am meisten machten mir die Schuldgefühle zu schaffen.“ Er musste schlucken und konnte erst nach einer Weile wieder fortfahren. Er lächelte dankend, als sie sich nach vorne beugte und ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Es gibt keinen Tag, keine Stunde und keine Minute während der letzten 27 Jahre, in der ich nicht ihr Gesicht vor mir gesehen habe und mir wünschte, all das wäre niemals geschehen. Ich gäbe mein Leben dafür, wenn ich nur noch einmal die Chance erhielte, ihr gegenüberzusitzen, mit ihr zu sprechen und ihr zu sagen, wie unendlich Leid mir das alles tut. Ich habe mich immer an die Hoffnung geklammert, dass ich vielleicht meinen inneren Frieden wieder finden würde, wenn sie mir verzeihen könnte. Aber natürlich weiß ich, dass das nicht möglich ist.“

Sie sah ihn unverwandt an, dann begann sie zu Sams großer Verwunderung plötzlich zu lächeln. „Manchmal klammern wir uns an etwas ganz Bestimmtes sosehr, dass wir schließlich davon besessen werden. Wir erhoffen uns eine bestimmte Geste, ein bestimmtes Wort – in ihrem Fall die Vergebung -, dabei ist das, was wir suchen, in Wahrheit nur ein Vorwand, um uns nicht selbst mit unseren Problemen auseinandersetzen zu müssen.“ Er sah sie verwundert an, und sie sprach weiter, noch immer milde lächelnd: „Es ist ja so leicht, zu sagen: Ehe ich dies und jenes nicht erreicht habe, kriege ich mein leben nicht in den Griff. Vor allem, wenn das, was wir wollen, wie in ihrem Fall ganz offensichtlich für immer unerreichbar bleiben wird. Wenn von vornherein fest steht, dass man in allem, was man unternimmt, scheitern wird, ist das natürlich eine bequeme Ausrede. ‚Ich bekomme ja mein Leben sowieso nicht in den Griff, weil ich meinen Frieden mit ihr nicht geschlossen habe. Wenn ich versage, ist es also nicht meine Schuld.’ Ein schöner Gedanke, nicht wahr? So gemütlich.“
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Konnte es am Ende sein, dass sie Recht hatte? Mit ihren blauen Augen schien sie jedenfalls bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können. „Und manchmal“, fuhr sie fort, als er nichts sagte, „ist das, was wir uns am sehnlichsten erhoffen, bereits eingetreten. Die Menschen vergeben einem manchmal, obwohl man sich wie ein Arschloch aufführt.“ Sie lächelte wieder ihr unergründliches Lächeln, das sie ihm so sympathisch machte, als würden sie sich seit Jahren kennen. Dann wurde ihr Blick ernst, fast traurig. „Manchmal meinen wir es nur gut und lieb und tun doch das Falsche – gerade bei Dingen, die sich hinterher nicht rückgängig machen lassen. Das Leben ist kein Roman, bei dem man unliebsame Passagen einfach wieder streicht und neu schreibt. Manchmal wollen wir helfen und erreichen doch das Gegenteil. Und dann müssen wir damit eben leben – mit den Vorwürfen und der Qual. Aber es nützt nichts, darüber in Selbstmitleid zu versinken. Man muss auch verzeihen können. Außerdem sollte man nicht alles analysieren. Es gibt Dinge, die man besser nicht wissen sollte, weil sie sonst Verbitterung bringen. Das Unterbewusstsein ist nicht umsonst da, um bestimmte Sachen zu verarbeiten. Aber es ist alles ständig im Fluss.“ Sie lächelte noch einmal und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Wichtig ist, dass man sich nicht unterkriegen lässt und Unliebsames nicht aufschiebt. Der Volksmund sagt nicht umsonst: Was du heute kannst besorgen…“

„…das verschiebe nicht auf Morgen“, las sie vom Kalenderblatt ab, knüllte das eben abgerissene zusammen und warf es in den Papierkorb.

Sam war an diesem tag in besonders angriffslustiger Stimmung. „Donnerwetter“, höhnte er. „Na, das ist ja mal ganz etwas Neues. So tiefschürfend. Darf man auch erfahren, welcher Tag uns diese großartige Weisheit beschert?“ „Der 8. Juli“, meinte sie lapidar, ohne noch einmal auf den Kalender zu sehen.

„Oh“, meinte er bissig. Dann schwieg er, weil ihm nichts Dummes mehr einfiel. Er brodelte innerlich und wusste nicht einmal genau, wieso. „Was soll das eigentlich?“, fragte sie nach einer Weile. Er sah sie mit gespielter Überraschung an. „Du kommst hier rein, bist ständig schlecht gelaunt und benimmst dich wie die Axt im Walde. Entweder du sagst gar nichts, oder du redest nur Mist. Dabei konnte man sich früher wirklich gut mit dir unterhalten.“ „Nein, das konnte man früher auch nicht“, unterbrach er sie. „Ich hab es nur besser verborgen und so getan, als ob.“ Er spürte den widersinnigen Drang in sich, sie zu provozieren und die Kerbe zwischen ihnen wie mit einer Axt weiter zu vergrößern.
Sie hatte für seine Worte noch nicht einmal ein müdes Lächeln übrig. „Ja, wirklich, du redest nur dummes Zeug. Wenn du überhaupt etwas sagst, heißt das. Die meiste Zeit hockst du ja nur stumm da, schaust in die Luft und spielst hier die Leiden Christi. Jedes mal, wenn ich versuche, mit dir eine ernsthafte Diskussion zu führen, blockst du völlig ab. Dann änderst du innerhalb von Sekunden deine Stimmung, fängst an, mich blöd anzumachen und herumzuherrschen. Und wenn ich dich frage, warum du das tust, bekomme ich zu hören, dass du unzufrieden bist. Wenn ich dir dann rate, doch etwas an deinem Leben zu ändern, bekomme ich gar keine Antwort mehr.“ Sie holte tief Luft. „Und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich darauf keine Lust mehr.“ Er wurde traurig bei ihren Worten, hütete sich aber, dies offen zu zeigen. Er wusste, was sie meinte. Er war eine offene Wunde, und all die Zweifel, die er hegte – hinsichtlich seiner Fähigkeiten, hinsichtlich seines Selbstwertgefühls, hinsichtlich seiner Männlichkeit – quollen aus ihm heraus wie der Saft aus einer ausgepressten Mango. Er schämte sich für sein Verhalten während der letzten Wochen und Monate, aber gleichzeitig war da der Drang, zu zeigen, was für ein Arschloch er sein konnte. Es war so, als benähme er sich daneben und sah gleichzeitig von außerhalb zu, schüttelte den Kopf über sich selbst und fragte sich, warum sie sich das alles von ihm bieten ließ. Ob er wohl schizophren war?

Er war so in Gedanken versunken, dass er ihren Blick erst nach einer Weile bemerkte. Als er es schließlich tat, war er unfähig, ihm standzuhalten. „Unsere Freundschaft braucht wohl etwas Urlaub“, meinte sie dann. „Wir reagieren offenbar zu empfindlich aufeinander, und wenn wir das überleben wollen, brauchen wir jetzt erst einmal Distanz.“ Er wollte etwas sagen, doch sie sah ihn nur ruhig an und bat dann: „Sag jetzt nichts, sondern geh einfach. Bitte versteh mich.“ Er merkte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Dabei hätte er eigentlich zufrieden sein müssen. Hatte er nicht seit Monaten auf diesen Moment hingearbeitet? Dieses Gespräch war nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte, unzählige Kränkungen und überempfindliche Reaktionen seinerseits waren diesem Tag vorausgegangen. Immerhin wusste er jetzt, wie weit er gehen konnte.

Er verließ ihr Büro und trat in den Aufzug, noch immer von einer grenzenlosen Traurigkeit erfüllt. Dabei hatte er wirklich keinen Grund, sich zu beklagen. Sein Verhalten war ein Flehen darum gewesen, Grenzen aufgezeigt zu bekommen, und das hatte sie getan. Komisch, dass er sich jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte, so erbärmlich vorkam.

Sie hatte sich wieder gemeldet!

Siedendheiß fiel ihm der Grund ein, warum er überhaupt zu seiner Arbeitskollegin gegangen war. Er hatte es ihr sagen wollen, aber dann, als er ihr gegenübersaß, doch beschlossen, es für sich zu behalten. Es hätte den Moment, in dem sie ihm an diesem Morgen angerufen hatte, für ihn abgewertet, wenn er ihn mit jemand anderem geteilt hatte. Seine Angebetete hatte am Telefon nicht viel gesagt, nur, dass er heute Abend zu ihr kommen solle – „falls du nichts Besseres zu tun hast.“ Er hatte sich bemühen müssen, nicht laut in den Hörer zu lachen. Was hätte es denn für ihn Wichtigeres geben können, als bei ihr zu sein? Sie hatte am Telefon merkwürdig bedrückt geklungen. Später würde er jedenfalls zu ihr gehen, und seine niedergedrückte Stimmung würde dann sicherlich besser werden.

Er ging für einige Zeit ziellos an den Geschäften in der Innenstadt entlang und versuchte, die Gedanken an das, was eben passiert war, zu unterdrücken. Natürlich gelang es ihm nicht. Er war noch immer aufgewühlt und traurig darüber, dass er nun anscheinend schon wieder eine Freundschaft, die ihm wertvoll war, zerstört hatte. Auf eine perverse Art und Weise war er gleichzeitig erleichtert, denn er hatte immer Angst davor gehabt, dass er seine Kollegin eines Tages verlieren könnte. Bei diesem Gedanken war er immer wie gelähmt gewesen. Nun, da das, wovor er sich fürchtete, tatsächlich eingetreten war, gab es auch keinen Grund mehr, Angst zu haben. Nun konnte er sich wieder bis zu den Schultern im Selbstmitleid suhlen.
Als er an einem Blumengeschäft vorbeikam, das gelbe Rosen im Schaufenster hatte, überlegte er für einen kurzen Moment, ob er für heute Abend einen Strauß Blumen mitbringen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Nein, das würde schon wieder zu weit gehen. Schließlich hatte sie sich gemeldet, und sie hatte ihm etwas zu sagen. Er würde sich einfach nur anhören, was sie ihm als Grund dafür nannte, dass sie sich so lange nicht mehr gemeldet hatte, obwohl sie doch wissen musste, wie sehr ihn das verletzte.
Er dachte daran zurück, wie alles angefangen hatte. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, ganz sicher nicht. Er hatte sie nett gefunden, und sie hatten sich sehr gut verstanden. Im Verlauf der vier Wochen, in denen er mit ihr zu tun gehabt hatte, schenkte sie ihm ihr Vertrauen und erzählte ihm Dinge aus ihrem Leben, die man normalerweise niemandem erzählen würde, den man kaum kannte. Er zumindest hätte das nicht getan. Er wusste noch, wie er sie einmal gefragt hatte, warum sie ihm all das erzähle. Sie hatte gelacht und dann gesagt, sie sei sich sicher, dass sie ihn nun schon ein bisschen kenne und ihm vertrauen könne. „Ansonsten“, hatte sie gesagt, „hätte ich dir das gar nicht erzählt.“ Er hatte sich geehrt gefühlt und war erfreut darüber gewesen, dass er in ihr offensichtlich eine gute Freundin gefunden hatte. Normalerweise wäre bis hierher alles bestens gewesen – nur hatte er sich leider in sie verliebt. Er hatte es nicht geplant, es war einfach so gekommen. Nicht schlagartig, sondern nach und nach. Als sie sich schließlich nicht mehr jeden Tag sahen, fing er an, ihr mehrmals in der Woche anzurufen. Er achtete zwar sorgfältig darauf, die Sache langsam anzugehen, und freute sich sehr darüber, dass auch sie sich manchmal von sich aus meldete. Aber schließlich hatte er nicht mehr verhindern können, dass die Zahl seiner Anrufe das gesunde Maß überschritt und er immer besessener wurde. Er konnte wirklich an nichts anderes mehr denken. Wenn er ihr anrief und sie nicht abnahm, reimte er sich zusammen, was alles passiert sein könnte. Er glitt immer mehr in Wahnvorstellungen ab und entwickelte Stimmungsschwankungen, unter denen seine engsten Freunde, die sich trotz allem noch mit ihm abgaben, zu leiden hatten. Aber, verdammt, er hatte ihr nie zu Hause aufgelauert oder sie beobachtet. Dieser Vorwurf seiner Arbeitskollegin war einfach nur unbegründet! Aber was sollte es. Er war eben zur Einsamkeit bestimmt.

Über seinen trübsinnigen Gedanken war die Zeit vergangen, und als er in der Nähe des Bahnhofs auf die Uhr sah, war es bereits zwanzig vor acht. Um acht Uhr sollte er bei ihr sein. Er sollte sich also sputen. Dennoch beschleunigte er seine Schritte nicht wesentlich, sondern schlenderte mehr als das er lief in Richtung des Hauses, wo sie wohnte. Als er das prächtige Haus mit den Säulen – ihre Eltern mussten sehr reich sein, auch wenn sie ihm nie gesagt hatte, was sie beruflich machten – vor sich sah, blieb er auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Gebüsch stehen, sodass er nicht etwa vom Haus aus gesehen werden konnte. Es war für einen Julitag ungewöhnlich kühl, aber dennoch erträglich. Er vermeinte, hinter einem der großen Fenster eine Bewegung gesehen zu haben, aber es konnte auch nur eine Spiegelung sein. Bestimmt wartete sie schon da drüben, sah auf die Uhr und wurde unruhiger und unruhiger mit jeder Minute, die er nicht kam. Sie würde überlegen, ob sie ihn vielleicht doch zu sehr verletzt hatte. Ob er sie nun vielleicht nicht mehr wollte. Er konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken, als er sich ausmalte, wie sie unruhig auf und ab lief und dabei die Sekunden zählte. Nun, er würde gnädig mit ihr sein und hinübergehen. Er kam aus seinem Versteck heraus, straffte sich etwas und setzte einen möglichst selbstbewussten Gesichtsausdruck auf. Er hatte sie nun lange genug zappeln lassen.

„Oh, hallo. Da bist du ja schon! Ich hatte dich eigentlich erst um acht hier erwartet.“ Er sah auf die große Standuhr im Wohnzimmer. Zehn vor acht! Mist! Mit einem betont herablassenden Gesichtsausdruck meinte er dann in gönnerhaftem Ton: „Weißt du, ich habe nachher noch einen Termin und deshalb nicht allzu viel Zeit. Wenn wir also anfangen könnten.“ Er ahnte das belustigte Funkeln in ihren Augen mehr als dass er es sah. Sie musste lächeln, versuchte es zu unterdrücken und platzte schließlich laut lachend heraus: „Dieses Märchen kannst du deiner Großmutter erzählen, aber mir nicht! Aber komm nur rein, wo du nun schon einmal da bist.“

Sie kannte ihn offenbar wirklich bereits sehr gut. Wem versuchte er hier, etwas vorzumachen? Er musste selbst lachen, zum Teil über seine eigene Dummheit, zum weitaus größeren Teil aber einfach aus Freude, sie wieder zu sehen. Die Nervosität, die sich nun wie ein Knoten in seinem Inneren löste, machte einer Erleichterung Platz, die so wunderbar war, dass sie für den Moment alle Erinnerungen an den Streit mit seiner Arbeitskollegin und besten Freundin überdeckte.

Als er ihr ins Wohnzimmer folgte, sah er, dass sie offenbar alleine war. Ein einzelner Teller, der mit einigen Spaghetti gefüllt war, stand auf dem Esstisch. Sie setzte sich hin und bot ihm den Stuhl neben sich an. Dann aß sie in aller Seelenruhe weiter. „Und nun?“, platzte er schließlich heraus, als der die Stille, die nur vom Klirren des Bestecks unterbrochen wurde, nicht mehr aushalten konnte. Sie sah ihn abschätzend an. „Danke, dass du gekommen bist“, meinte sie dann lapidar. Er wollte etwas in Richtung von „Ist doch klar“ sagen, aber sie fuhr ungerührt fort: „Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr sehen.“

Diese unerwartete Eröffnung traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Er musste einige Male schlucken, dann fragte er: „Warum nicht?“ „Ich gehe weg“, meinte sie nach einer kleinen Pause leise. „Weit weg von hier. Ich gehe ins Ausland und fange neu an.“ Er war wie vor den Kopf gestoßen und sagte schließlich: „Aber wir können doch in Kontakt bleiben.“ Sie sah ihn mit einem angedeuteten Lächeln an und meinte dann: „Du denkst immer noch, dass ich dich liebe und das irgendwann merken werde, nicht wahr? Wenn man es recht bedenkt, müsste ich mich ja geehrt fühlen, dass du mir so lange hinterher rennst. Aber das wird nichts.“ Er starrte benommen vor sich hin. Ihm war, als habe er die vergangenen Monate in einer Nebelwolke gelebt, die sich nun schlagartig gelichtet hatte. Er spürte ziellosen Zorn in sich aufsteigen. „Und deshalb lässt du mich hier antanzen und ziehst eine Show ab?“, fragte er sie gereizt. „Ich wollte es dir nur persönlich sagen, weil ich dich trotz allem gern habe.“ Sie lächelte flüchtig. „Irgendwie zumindest.“

In der eintretenden Stille registrierte Sam unbewusst, dass irgendwo jemand die Doors aufgelegt hatte. Jim Morrison sang schwermütig: „This is the end, my only friend, the end…“

„Irgendwie?“, echote er bissig. „Irgendwie? Ich komme mir hier gerade etwas verarscht vor, irgendwie!“ Er merkte, wie er lauter wurde. Er wollte seine Wut zügeln, konnte es jedoch nicht. Was war denn das nur für ein Tag? Zuerst der Streit im Büro, und dann diese Abfuhr hier. Wie viel Unglück konnte man denn innerhalb so kurzer Zeit haben?

„Of our elaborate plans, the end…“

Sie nahm seinen Ausbruch gelassen hin und meinte nur sanft: „Reg dich bitte nicht auf, ok? Ich hätte dir das auch am Telefon sagen können, aber ich wollte dir die Chance geben, dass wir uns anständig voneinander verabschieden.“

„Anständig?“, rief er. „Du wagst es, mir etwas von Anstand zu erzählen, du…“ Er verschluckte das letzte Wort. Jim Morrison sang dazu von irgendwoher: „I`ll never look into your eyes…again…“

Sie sah ihn traurig an und meinte dann resigniert: „Sam, komm schon, reiß dich zusammen. Wir hatten so viele schöne Zeiten, die uns beiden gut getan haben. Weißt du noch, wie viel Spaß wir hatten?“ Sie lächelte noch einmal, als sie sich an die vielen liebevollen Neckereien erinnerte, die sie einander immer zuteil werden ließen.

„Lost in a Roman wilderness of pain…“, sang der gute alte Jim, und die Gitarre heulte dazu.
Er sah sie vor sich. Sie erwiderte seinen Blick traurig, aber furchtlos, und schien fast schon Mitleid mit ihm zu haben. Wie schön sie war, wie liebenswert! Ihr langes blondes Haar, ihre blauen Augen, die so provozierend ironisch funkeln konnten…

„Desperately in need of some strangers hand…“

Er fühlte, wie alles um ihn herum verschwamm, und das einzig reale schien die Stimme Jim Morrisons zu sein – „There`s danger on the edge of town“ - , und Ray Manzareks Schweineorgel jaulte dazu schrill auf.

„Ich bitte dich“, versuchte sie es noch einmal im Guten. „Wenn ich an dich denke, möchte ich an diese unbeschwerten und glücklichen Zeiten denken und dich als lieben Kollegen in Erinnerung behalten. Also tu uns beiden einen Gefallen und geh jetzt. Du wirst mich mit der Zeit vergessen, auch wenn du das im Moment vielleicht nicht glaubst. Aber es wird andere geben, und…“ „Ich hab dich so geliebt“, unterbrach er sie mit tränenerstickter Stimme, während Jim Morrison dazu „Weird Scenes inside the gold mine“ beschwor.

Auf einmal fühlte er in sich den Drang, ihr weh zu tun. Blitzschnell griff er nach ihr, doch sie war offensichtlich schneller. „Komm schon, bevor du dich blamierst und ich dich hinausschmeiße“, sagte sie, nun auf einmal hinter ihm. Er fuhr herum, wobei die Tränen und die Wut ihm gleichermaßen den Blick trübten. Er wollte erneut nach ihr greifen, doch wieder war sie schneller als er. Er griff sich ihren noch nicht ganz leer gegessenen Teller und schmiss ihn nach ihr, wodurch sich Spaghetti und Soße gleichermaßen auf dem Boden verteilten.
Sie hatte sich unter dem Geschoss weggeduckt, wodurch der Teller einen großen Wandspiegel traf. Dieser erlitt dadurch mehrere tiefe Risse. Als er hinüber sah, konnte er darin sein eigenes Spiegelbild sehen, das wie in mehrere Teile gespalten aussah und entsetzlich verzerrt wurde.

„The killer awoke before dawn…”

Auf einmal fühlte er eine völlige Ruhe in sich aufsteigen. Er wollte sich gerade wieder zu ihr umdrehen, da erhielt er einen Tritt in den Rücken, der ihn zu Boden beförderte. Er sah hoch. Sie stand hinter ihm und sah auf ihn herunter. Der Tritt war schmerzhaft gewesen, doch in ihrem Gesicht erkannte er noch immer die widerstreitenden Gefühle. Sie wünschte sich noch immer, er wäre einfach gegangen, und sie könnte ihn dadurch in guter Erinnerung behalten. Ihr Blick verriet ihm auch, dass sie trotz der Wucht ihres Trittes bisher noch nicht mit ganzer Kraft gegen ihn vorgegangen war.

„He walked on down the hall…”

Er rappelte sich wieder hoch und ging dann einige Schritte auf sie zu, wodurch sie zurücktrat. Er tat so, als wolle er sich auf sie stürzen, und sie wich weiter vor ihm zurück. Nachdem er sie auf diese Weise in den Gang hinaus und schließlich in das angrenzende Schlafzimmer hinein getrieben hatte…

„He went into the room where his sister lived, and then he paid a visit to his brother…”

…zerrte er sie schließlich wieder grob hinaus und trieb sie weiter den Gang hinunter.

„He walked on down the hall…“

Er stieß sie in ein anderes Zimmer, das wohl das Schlafzimmer ihrer Eltern sein musste. Er schmiss sie auf das Bett, dann ging er in das Wohnzimmer zurück…

„And he came to a door…“

…und zerschlug sämtliches Geschirr, das er in den Schränken finden konnte. Anschließend riss er die Vorhänge herunter und kehrte dann zu seinem Opfer zurück.

„…and he looked inside…“

Seltsam: Obwohl er sich wie ein Tobsüchtiger aufführte und das ganze Spektakel sich innerhalb weniger Sekunden abgespielt hatte, bemerkte er noch immer keine Furcht bei ihr. Im Gegenteil, sie sah ihn furchtlos und herausfordernd an. Oh Gott, hab ich sie lieb, dachte er noch…

„Father! – Yes, Son? – I want to kill you.”

…dann fiel der letzte Rest klaren Verstandes von ihm ab, und alles Nachfolgende war ein rauschender Wirbel…

„Mother, I want to…“


…aus Jim Morrisons orgiastischem Schrei, Manzareks tosender Orgel und Robbie Kriegers sich auftürmenden Gitarrenriffs, die in seinem Kopf so laut dröhnten, dass sie alles andere auslöschten. Er verlor sich ganz im aufpeitschenden Crescendo der Klänge, deren Strudel ihn mitzureißen und zu ertränken drohte. Seine Sinne schienen ob der schieren Wucht dieser Eindrücke zu zerbersten...

„C´mon, yeah…“
…und ihn zu einem tobenden Bündel von Reflexen zu verwandeln…

„…kill, kill, kill, kill, kill, kill…”
…das vor unerbittlicher Kraft zu strotzen schien.

Als die Musik ihren Höhepunkt überschritten hatte und wieder etwas zur Ruhe kam, konnte er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. Als er sie vor sich liegen sah, ihr Kopf auf den langen blonden Haaren gebettet wie in einem endlosen Feld von Sonnenblumen, begriff er auf einmal, was er da eben getan hatte.

„This is the end…“
Er trat von dem Bett zurück, auf dem sie lag, und ging rückwärts aus dem Zimmer, wobei er den Blick nicht von ihrem Gesicht wenden konnte. Erst als er sich einige Meter von ihr entfernt hatte, konnte er sich umdrehen…

„The end of laughter and soft lies…”

Die Musik war mittlerweile wieder langsamer geworden, Jim Morrisons Stimme gefasster und gleichzeitig unerbittlicher. Das Klangchaos war wieder abgeschwollen und mündete in einem leisen Gitarrenklang.

„The end of nights we tried to die…”

Er sah fast wie im Traum, wie vor ihm Polizisten ins Haus stürmten und ihn überwältigten. Das ist also das Ende, dachte er, ohne dabei etwas zu empfinden. Als er abgeführt wurde, verklangen gerade die letzten Akkorde von Morrisons ödipalem Klangtrip.
Sie schleiften ihn aus dem Haus und die kurze Eingangstreppe hinunter…

…so dass er wieder auf dem Kiesweg stand, der hinaus zum Eingangstor führte.
Er war von dem eben geführten Gespräch noch immer so verwirrt, dass er einige Zeit ruhig stehen blieb und über das eben Erlebte nachdachte. Diese ihm so fremde Frau hatte noch manches gesagt, was er nicht alles wörtlich im Kopf behalten hatte. In der Summe war es jedoch darauf hinausgelaufen, dass die Vergebung, nach der er so lange gesucht hatte, ihm schon längst erteilt worden war. Aber wie konnte das sein? Sie hatte so freundlich mit ihm gesprochen, wenngleich sie ihm auch so manche bittere Wahrheit an den Kopf geschmissen hatte, die er sich nur ungern eingestand. Aber dennoch hatte ihm dieses Gespräch eine solche innere Ruhe und Zufriedenheit gegeben, wie er sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Fast wäre er sogar in seinem Entschluss wankend geworden, hätte ihn nicht das kalte Metall, das er in der Innentasche seines Mantels fühlte, daran erinnert, dass er noch eine weitere Verabredung an diesem Tag hatte.

Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel, als er sich nun wieder auf den Weg machte. Während er seinem eigentlichen Ziel näher kam, fühlte er, wie er mit jedem Schritt wieder aufgeregter wurde. Unmöglich, vorherzusagen, wie seine Aufnahme nach all den vergangenen Jahren ausfallen würde. Aber im Grunde genommen konnte es ihm ja auch egal sein, denn er würde ohnehin nirgends mehr hingehen, sagte er sich zur Beruhigung.
Er wusste nicht, ob sie immer noch im gleichen Gebäude arbeitete wie früher. Genau genommen wusste er überhaupt nichts von ihr aus den vergangenen 27 Jahren. Aber schließlich hatte er heute ja schon einmal Glück gehabt, und so vertraute er einfach darauf, dass sie nicht die Arbeitsstelle gewechselt hatte oder ihr sonst etwas zugestoßen war. Vor dem großen Betonklotz, in dem ihr Büro lag, machte er Halt und sah dann an der schmucklosen Fassade nach oben, als ob er von seiner Perspektive aus sehen könnte, ob im obersten Stock jemand arbeitete. Bevor er den Bürokomplex betrat, warf er schnell einen Blick nach allen Seiten. Als er merkte, dass er unbeobachtet war, öffnete er seinen Mantel ein Stück weit, fasste in die Innentasche, entsicherte den darin befindlichen Revolver, verstaute ihn wieder und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch zu. Dann trat er ein.

Der alte Rumpellift war in den vergangenen Jahrzehnten offensichtlich nicht erneuert worden. Als er den Knopf drückte, leuchtete dieser zwar auf, ansonsten aber tat sich lange Zeit nichts. Sam überlegte schon, ob er stattdessen die Treppe nehmen sollte, da hörte er einen lauten Knall und anschließend ein Ächzen, das ganz allmählich näher kam. Der Lift hatte sich also schlussendlich doch dazu entschlossen, den Geist noch nicht aufzugeben, und hatte sich widerstrebend in Bewegung gesetzt. Er war erleichtert, als er den Lift leer vorfand. Die Fahrt bis zum vierten Stock dauerte endlos lang. Er schmunzelte darüber, dass manche Dinge sich offensichtlich niemals änderten. Als die Kabine mit einem erneuten Rumpeln anhielt und sich nach einer Pause die Türen öffneten, trat er hinaus in den Gang zu den angrenzenden Büros. Er sah auf die Schilder neben den einzelnen Türen, aber nirgendwo stand der Name, den er suchte. Klar, sie konnte in der Zwischenzeit geheiratet haben, aber sein Instinkt sagte ihm, dass dem nicht so war. Als er fast am Ende des Ganges angelangt war und gerade überlegte, ob er einfach aufs Geratewohl in ein Büro gehen und dort nachfragen sollte, entdeckte er schließlich doch noch die beiden gesuchten Worte – das magische „Sesam öffne dich“ für die hinter dieser Tür liegende Welt der feinsinnigen psychologischen Analysen. Er legte die Hand auf die Klinke, dann realisierte er, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er rief sich noch einmal in Erinnerung, wie merkwürdig die vergangenen Stunden abgelaufen waren – die Ankunft in den menschenleeren Straßen der Stadt, die einmal seine Heimat gewesen war, dann der Besuch in jenem Schicksalshaus, der sich so ganz anders abgespielt hatte als in seiner Erwartung. Und nun würde also alles hinter dieser Bürotür sein Ende finden, und die Geister der Vergangenheit würden sich endlich zur Ruhe setzen und ihn nicht mehr länger quälen. Darauf war doch alles hinausgelaufen. Um in dieses Büro zu gelangen, hatte er doch überhaupt erst die lange Reise in seine Heimatstadt, der er für 20 Jahre den Rücken gekehrt hatte, angetreten. Was hatte er denn jetzt noch zu verlieren? Er atmete tief ein, nahm all seinen Mut zusammen und drückte dann die Türklinke nach unten.

Offensichtlich hatte ihn das Glück an diesem schicksalhaften Tag noch nicht verlassen – sofern man es angesichts seines Vorhabens überhaupt als Glück bezeichnen konnte -, denn auch diese Tür war nicht verschlossen. Sie sah von ihrem Schreibtisch auf und meinte: „Tut mir Leid, aber wir haben für den Publikumsverkehr bereits…“ Sie erkannte ihn und meinte dann nur überrascht: „Oh nein.“

Er versuchte ein Lächeln und meinte dann: „Auch ich freue mich, dich wieder zusehen.“ Er trat ganz ein und zog die Tür hinter sich wieder ins Schloss. Er konnte keine Zeugen brauchen bei dem, was er vorhatte.

Sie hatte ihre erste Überraschung mittlerweile wieder überwunden und meinte: „Sam, ich… was willst du denn hier?“ Er zog die Augenbrauen hoch und meinte mit einem dünnen Lächeln: „Dich besuchen.“ Er zuckte die Schultern. „Mal wieder ‚Hallo’ sagen.“ Er sah sich im Büro um und meinte dann: „Hat sich nicht gerade viel verändert hier.“

Er zögerte noch, näher zu treten. Auf der einen Seite freute er sich wirklich, sie noch einmal zu sehen, auf der anderen Seite war der Anlass, aus dem er hierher gekommen war, einfach zu schwerwiegend, als dass er damit leichtfertig hätte umgehen können. Als sie merkte, dass er offensichtlich entschlusslos war, fragte sie ihn: „Stehst du hier nur blöd herum, oder setzt du dich auch mal hin?“ Er kam ihrer Aufforderung nach, wenn auch betont langsam. Als er auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz nahm, ächzte er etwas. „27 Jahre sind eine lange Zeit, was?“, meinte sie mitfühlend. Als sie ihn etwas näher musterte, sagte sie: „Du bist alt geworden.“ Er sah ihr in die Augen und meinte dann lapidar: „Du sagtest doch, dass unsere Freundschaft eine Pause braucht.“ Er lächelte süffisant.

Sie ging auf diese versuchte Provokation nicht ein, sondern entgegnete nur ungerührt: „Und jetzt bist du also wieder da. Bereit, uns allen noch mehr Kummer zu machen.“ Er überging ihren Angriff und sah mit ostentativer Gleichgültigkeit an die Decke und schließlich neben sich aus dem Fenster. „Genau“, meinte er schließlich. „Eine Neuauflage der Leiden Christi. In der Urbesetzung sogar.“ „Sehr witzig“, entgegnete sie trocken, dann sah sie ihn forschend an. „Du kommst doch nicht nach 27 Jahren wieder in mein Büro, damit wir ein paar Nettigkeiten austauschen.“

„Richtig“, sagte er. Dann folgte wieder ein langes Schweigen, das sie schließlich mit der Frage unterbrach: „Willst du einen Kaffee?“ Die Vertrautheit dieser Frage ließ seine mühsam aufrechterhaltene Fassade etwas bröckeln, und anstelle eines zynischen Spruches erwiderte er nur mit aufrichtigem Gefühl in der Stimme: „Das wäre prima.“ Während sie an ihm vorbeiging und sich an der hinter ihm stehenden Kaffeemaschine zu schaffen machte, meinte er beiläufig: „Auch du bist nicht jünger geworden.“ Ohne ihn dabei anzusehen, meinte sie nur: „Keiner von uns ist das. Ich glaube, es gibt überhaupt wenige Menschen, die jünger werden.“ Darüber musste er unwillkürlich schmunzeln, hütete sich aber, das allzu offen zu zeigen. Doch obwohl sie ihm den Rücken zukehrte, musste sie es wohl irgendwie gespürt haben. Weibliche Intuition oder so was. Vielleicht auch einfach Menschenkenntnis.

Sie schwiegen wieder, während die Kaffeemaschine brummte und schließlich das braune Getränk in die Tasse schoss. Während er sich halb zu ihr umdrehte, meinte er: „Ich nehme Milch und zwei…“ „Ich weiß“, unterbrach sie ihn milde. Natürlich wusste sie es. Sie stellte die Tasse vor ihm auf den Schreibtisch und nahm dann wieder ihren Platz ihm gegenüber ein.

Er rührte bedächtig in der Tasse, wobei er es vermied, ihrem Blick zu begegnen. Um Zeit zu gewinnen, nahm er mehrmals etwas Kaffee mit dem Löffel auf und ließ ihn wieder in die Tasse zurückfallen. Als er schließlich aufsah, bemerkte er, dass sie ihn direkt ansah. „Was soll das?“, sagte sie langsam. „Er kühlt dann schneller ab“, gab er sich ahnungslos. „Du weißt, was ich meine“, erwiderte sie, ohne sich von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen. „Hab ich doch gesagt“, spielte er den Ahnungslosen. „Ich war grade in der Gegend und dachte, ich schau mal bei einer alten Freundin vorbei, von der ich länger nichts mehr gehört habe.“

„Länger nichts mehr gehört? Sam, es waren 27 Jahre.“ „Gut, ich gebe zu“, entgegnete er ungerührt, „ich hab den Kontakt vielleicht in letzter Zeit etwas schleifen lassen. Aber du hättest mich ja auch mal besuchen können – zumindest während der ersten sieben Jahre.“

Er sah, dass seine Worte sie getroffen hatten, und nahm es mit grimmiger Befriedigung zur Kenntnis. „Ich habe es versucht“, meinte sie dann, und Sam glaubte ihr sofort. „Ich wollte dich zusammen mit deinen anderen Arbeitskollegen besuchen, aber irgendwie kam immer etwas dazwischen. Wir wurden auch ein paar Mal abgewiesen. Die Wärter erklärten, dass du keinen Besuch empfangen darfst.“ Sie seufzte. „Dann hab ich versucht, dir zu schreiben. Ich hab dir oft geschrieben, aber vermutlich hast du keinen meiner Briefe erhalten. Den Tag deiner Entlassung habe ich dann leider aus beruflichen Gründen versäumt, und am nächsten warst du ja schon weg.“ Sam überhörte geflissentlich den so subtil an ihn gerichteten Vorwurf und sah auf den Schreibtisch, wo etwas seine Aufmerksamkeit ganz besonders zu fesseln schien. Sie folgte seinem Blick, konnte aber nichts Besonderes entdecken. „Du kaust immer noch Zahnbürsten?“, fragte er dann ruhig. Es klang mehr wie eine Feststellung. „Ja, das tu ich“, meinte sie auf einmal mit einem breiten Grinsen. Sie warf die Hände in die Luft und meinte dann mit gespielter Fröhlichkeit: „Ich nage immer noch an Zahnbürsten herum, und du kriegst es immer noch nicht hin, dich normal mit Menschen zu unterhalten. Da haben wir uns ja beide prächtig weiterentwickelt während der letzten 27 Jahre, nicht wahr?“

Er erkannte, dass dieser sinnlose Schlagabtausch nun zu Ende war, bevor er richtig begonnen hatte. Wenn er jetzt noch weiter diese Richtung einschlug, würde er sie auf die Palme bringen, und dann wäre alles zunichte gemacht, auf das er während der vergangenen Jahre hingearbeitet hatte. Ihn erfasste schon wieder diese grenzenlose Traurigkeit. Als er nach einer Weile immer noch nichts sagte, sah sie ihn mit ihren ausdrucksvollen braunen Augen an, zog die Brauen etwas in die Höhe und meinte dann schlicht: „Ja, Sam?“

Er druckste noch etwas herum, obwohl ein weiteres Hinauszögern nun keinen Sinn mehr hatte. „Ich wollte dich wirklich wieder sehen, das war nicht gelogen“, meinte er dann im Tonfall eines verletzten Kindes. Er suchte kurz nach Worten, dann meinte er: „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.“ Langsam öffnete er seine Jacke. Sie folgte jeder seiner Bewegungen mit den Augen, die sich leicht weiteten, als er nun den schweren Revolver aus der Tasche nahm und ihn vor sich auf den Tisch legte, sodass der Griff in ihre Richtung zeigte. Sie sah ihn ungläubig an. Das Erstaunen in ihrem Gesicht verwandelte sich nach und nach in Begreifen, dem schließlich ein ablehnendes Kopfschütteln folgte, als sie die unausgesprochene Bitte verstand. „Nein, Sam, oh nein“, erklärte sie entschieden. „Bitte“, meinte er so leise, dass sie es kaum hörte. „Bitte. Tu’ es für mich. Du bist der einzige Mensch, von dem ich diesen Gefallen erbitten möchte.“ Sie schob unwillkürlich ihren Drehstuhl etwas weiter von dem Schreibtisch und damit auch von ihm zurück und erklärte noch einmal, diesmal noch mehr in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Nein, Sam. Das tu ich nicht. Wie kannst du das von mir verlangen, du Monster? Ich werde den Sicherheitsdienst rufen.“ Sie traf Anstalten, sich zu erheben. „Okay“, fiel er ihr sanft ins Wort. „Okay.“ Er stand nun seinerseits auf, ging zum Seitenfenster und sah zum Himmel hinauf, wo sich mittlerweile die schwarzen Wolken türmten. Spätestens in einer halben Stunde wird es schneien, dachte er beiläufig.

„Ich habe einen Brief in meiner Jacke, den ich selbst geschrieben habe“, erklärte er dann gelassen. „Darin steht alles über meine Tat von damals und warum ich aus dem Leben scheiden möchte. Es ist mein Abschiedsbrief, und er spricht dich von jeder Schuld an meiner Ermordung frei. Jeder, dem du ihn zeigst, wird verstehen, dass du so handeln musstest. Du wirst gerichtlich nicht belangt werden können. Es war Selbstmord“ „Wenn dem so ist“, meinte sie nach einer Weile mit belegter Stimme, „warum tust du es dann nicht gleich selbst?“ „Das kann ich nicht“, meinte er nur, wobei er sich wieder zu ihr umdrehte.

Sie hob beide Hände etwa in Brusthöhe und sagte dann gedehnt: „Moooment“ – was bei ihr ein untrügliches Zeichen dafür war, dass es gleich wichtig wurde. „Wir sitzen nicht gerade hier mit einem Revolver zwischen uns und diskutieren darüber, wie ich deine Bitte, dich zu töten, am besten erfüllen kann, oder?“

„Doch, ich dachte…“

„Nein, nein.“ Sie schloss die Augen und tippte sich an die Schläfe. „Nicht immer soviel denken, das habe ich dir auch früher schon immer gesagt.“ Sie öffnete die Augen wieder und schlug die Hände zusammen. „Es war nur eine kleine Verständnisfrage von mir. Ich dachte, ich hätte da vielleicht irgendetwas nicht richtig mitbekommen.“

„Beenden wir doch endlich das Spiel“, meinte er höhnisch. „Es ist aus. Das ist der Abschied.“ Er hob theatralisch die Hände in die Luft und ließ sie dann wieder sinken. „So sehe ich aus mit heruntergelassenen Hosen, also bringen wir es nun bitte zu Ende. Du sollst mir nur zu einer großen Finalenummer verhelfen.“

Sie lachte freudlos auf. „Ja, weil du selbst zu feige bist. Das ist Wahnsinn. Du bist verrückt.“

Ruckartig wandte er sich um und sprudelte dann los: „Weißt du, wie es ist, wenn man sich schuldig fühlt? Wie es ist, wenn man sich jeden Tag fragt, mit welchem Recht man überhaupt noch lebt?“ Er trat auf sie zu und funkelte sie wild an. „Ich lebe, aber ich bin in jener Nacht gestorben. Nicht sie war es. Ich war es. Ich habe sie so geliebt, und doch hab ich sie eigenhändig umgebracht.“ Er schüttelte sich wie unter einem plötzlichen Erschauern, dann wiederholte er jene Worte, die er vor einer knappen Stunde bereits gegenüber einer wildfremden Frau ausgesprochen hatte: „Es gibt keinen Tag, keine Stunde und keine Minute während der letzten 27 Jahre, in der ich nicht ihr Gesicht vor mir gesehen habe und mir wünschte, all das wäre niemals geschehen. Ich gäbe mein Leben dafür, wenn ich nur noch einmal die Chance erhielte, ihr gegenüberzusitzen, mit ihr zu sprechen und ihr zu sagen, wie unendlich Leid mir das alles tut. Ich habe mich immer an die Hoffnung geklammert, dass ich vielleicht meinen inneren Frieden wieder finden würde, wenn sie mir verzeihen könnte. Aber natürlich weiß ich, dass das nicht möglich ist.“ Er wandte sich von ihr ab, weil sie die Tränen in seinen Augen nicht sehen sollte. „Mein Gott, was habe ich gelitten. Alle äußeren Entbehrungen und die Schikanen im Gefängnis waren mir gleichgültig, denn hier drinnen war ich tot.“ Er tippte sich an die Brust, dort, wo das Herz saß. „Als ich wieder draußen war, wurde ich auf der Straße von Kindern mit Steinen beschmissen und später beinahe ausgeraubt. Aber es war mir egal, es war das, was ich verdient hatte.“ Er schüttelte den Kopf und wiederholte immer wieder: „Ich hab sie getötet, ich hab sie getötet…“

Sie verzog angewidert das Gesicht. „Du hast dich wirklich nicht weiterentwickelt. Immer noch das alte Selbstmitleid. Dieses pathetische Getue. ‚Seht her, ich bin der große Sünder, ich leide mehr als jeder andere sonst’“, äffte sie ihn mit verstellter Stimme nach. „Außerdem“, und hier sah sie ihm direkt in die Augen, „lebt sie noch.“

Bei diesen Worten kamen ihm die Tränen. Er merkte nicht, dass sie aufgestanden und um den Tisch herumgegangen war, bis sie ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn tröstend an sich heranzog. „Hey, mein Großer“, flüsterte sie, während sie ihn sanft streichelte und zuließ, dass er sich wie ein Baby an ihrer Schulter ausweinte.

Nachdem er nach endlos langer Zeit all die Frustrationen und Schuldgefühle der Vergangenheit fürs erste nach draußen gespült hatte, sah er sie mit noch immer tränenverhangenen Augen an. „Hab ich dir eigentlich mal gesagt, dass ich dich wirklich sehr lieb habe?“, meinte er dann mit einem Lächeln. Sie verdrehte in gespielter Entrüstung die Augen. „Mindestens Zweimillionen Mal. Und soll ich dir mal was sagen? Ich habe niemals daran gezweifelt, selbst als du fort warst nicht.“ Sie drückten einander liebevoll, dann meinte sie: „Ich hab dich auch lieb.“

Sie ging wieder zu ihrem Platz zurück, von wo aus sie ihm eine Packung Taschentücher reichte. „Hier, putz dir erst mal die Nase. So geh ich mit dir nicht unter die Leute.“ Trotz des noch immer vorhandenen Schmerzes musste er schmunzeln. Sein Gesicht wurde jedoch schlagartig wieder ernst, als er auf die dunkel drohende Mündung des Revolvers blickte, der noch immer auf dem Schreibtisch lag und in seine Richtung zeigte.
„Sag mal“, meinte er schließlich nachdenklich. Sie sah fragend zu ihm auf. „Was sollte das vorhin heißen? Ich meine, dass sie noch lebt.“

Ihre für einen Augeblick so gelöst wirkenden Züge verdüsterten sich wieder. Sie dachte nach, dann meinte sie: „Sam, als ich vorhin sagte, dass ich dich im Gefängnis besuchen wollte und dir Briefe geschrieben habe, war das die Wahrheit. Ich habe auch nach deinem Weggang aus der Stadt verzweifelt versucht, deinen Aufenthaltsort heraus zu bekommen. Aber du warst wie vom Erdboden verschwunden, und niemand konnte mir etwas über deinen Verbleib sagen.“
Er blickte verwundert drein. „Ja, das stimmt. Ich habe die Stadt fluchtartig verlassen. Ich war im Ausland. Hab noch mal neu angefangen. Ich hab…“ Er stockte und sah zu Boden, bevor er leise fortfuhr: „Ich hab in gewisser Weise das Leben gelebt, das sie führen wollte, bevor ich sie, ich meine… Ich hab das sicher nicht bewusst so gemacht, aber es war doch…“ Er verstummte.

Sie sah ihn traurig an und wiegte dann mitfühlend den Kopf. „Du hast unbewusst eine ähnliche Laufbahn ergriffen, wie sie es vorhatte, so als könntest du an ihrer Stelle leben und deine Tat dadurch sühnen.“ Diesmal war sie es, die kurz stockte. „Aber Sam, sie lebt. Du hast dir all die Jahre hindurch umsonst Vorwürfe gemacht. Und das war es, was ich dir immer sagen wollte. Du denkst vielleicht, ich könnte nicht nachfühlen, was du erlitten hast. Aber du bist nicht der Einzige, der Schuldgefühle hatte.“ Sie richtete ihren Blick wieder zu ihm auf und zeigte dann auf den Stuhl vor sich. „Vielleicht setzt du dich ja lieber hin.“

Er war nun vollends befremdet, folgte ihrer Aufforderung jedoch – auch wenn das bedeutete, dass der Revolver nun wieder in seine Griffnähe rückte.

„Dein Verhalten damals war für uns alle unerträglich“, begann sie schließlich nach einiger Zeit langsam mit ihrer Erzählung. „Du warst völlig auf sie fixiert, und deine Stimmungsschwankungen wurden immer unberechenbarer. In der einen Sekunde warst du gut gelaunt, charmant und witzig, und in der nächsten Sekunde hast du mich und deine übrigen Freunde angefahren und zur Schnecke gemacht. Dann tat es dir wieder Leid, und du hast dich entschuldigt und gesagt, dass es nie wieder vorkäme und du das in den Griff bekommen würdest. Es ging dann vielleicht einen oder zwei oder auch sechs Monate gut, bis du dann wieder eine so unvermittelt hereinbrechende Wutattacke bekamst. Dann sagtest du wieder, es tue dir Leid, und es wäre diesmal garantiert das letzte Mal. Dabei bekamst du nicht mit, wie sich nach und nach alle von dir abgewendet haben. Viele ließen sich ein- oder zweimal von dir vor den Kopf stoßen, bis sie dich schließlich als Arschloch bezeichneten und nichts mehr mit dir zu tun haben wollten. Aber du hast das nicht einmal gemerkt, weil du so in deine romantischen Obsessionen vertieft warst.

Ich bekam das alles aus erster Hand mit, weil du mir immer am meisten vertraut hast. Es tat mir in der Seele weh, wenn du mir freudestrahlend irgendetwas von ihr erzählt hast und Pläne für eine gemeinsame Zukunft machtest. Wenn sie sich dann wieder nicht meldete, warst du am Boden zerstört und hast dich bei mir ausgeheult. Du hast nicht mitbekommen, dass sie eine Freundschaft mit dir wollte, selbst nachdem du sie mehrmals verletzt hattest. Sie mochte dich wirklich, aber sie liebte dich eben nicht.

Schließlich habe ich Kontakt mit ihr aufgenommen, weil ich diese endlose Spirale aus Traurigkeit und Euphorie, in der du gefangen warst, nicht mehr aushielt. Ich traf mich einige Male mit ihr und erzählte ihr, wie sehr du unter diesem ganzen Zustand leidest. Sie meinte, dass sie dich wirklich gern habe und es ihr aufrichtig Leid tue, wenn sie dir solche Schmerzen zufüge. Sie würde dir gerne helfen, aber wie hätte sie dir denn bei Liebeskummer zur Seite stehen können, den du wegen ihr empfandest? Wenn sie sich meldete und selbst total belanglose Dinge mit dir besprach, kamst du hinterher wieder freudestrahlend zu mir und machtest dir die größten Hoffnungen.

Da uns das irgendwann ebenso weh tat wie dir, beschlossen wir, dass wir dich mit einer Schocktherapie ein für allemal von deiner romantischen Vernarrtheit heilen würden. Ich besprach mit ihr, dass sie dir anrufen und dich bitten solle, zu ihr zu kommen. Es war klar, dass du kommen würdest. Sie sollte dir dann sagen, dass sie ins Ausland gehe und dich gerne als guten Freund in Erinnerung behalten würde. Es war auch geplant, dass wir beide uns am gleichen Tag streiten. Diesen Teil mussten wir nicht einmal besonders vorbereiten, denn – Sam, wir haben uns ja in den letzten Wochen vor deinem Verschwinden praktisch nur noch gestritten! Wir wollten, dass du gewissermaßen schon die erste Ernüchterung hinter dir hast, wenn du zu ihr gehst. Ich bin dann gleich nachdem ich an jenem Tag mit der Arbeit fertig war zu ihr gefahren. Wir rechneten damit, dass du auf ihre Worte wütend reagieren würdest, und für alle Fälle wollte ich da sein, um ihr notfalls beizustehen. Als du dann geklingelt hast, versteckte ich mich in der Wohnung, während sie mit dir sprach. Sie plante tatsächlich, ins Ausland zu gehen, deshalb musste sie dich nicht anlügen. Oh Sam, alles was sie dir an jenem Abend gesagt hat, war die Wahrheit. Ich konnte es von meinem Versteck aus mithören. Der Plan war, dass du schließlich zur Vernunft kommst und sie in Frieden ziehen lässt. Es sollte kein Abschied für immer werden, auch wenn sie dir das so verkaufen musste. Ihr hättet immer noch ein oder zwei Jahre danach befreundet sein können. Aber es war wichtig, dass du dich erstmal von ihr löst und merkst, dass es auch andere schöne Frauen gibt, von denen dich früher oder später eine so liebt, wie du bist, mit all deinen Ecken und Kanten.

Schließlich wurdest du wütend. Du hast sie angegriffen, und sie versetzte dir einen leichten Tritt, gerade genug, um dir deine Grenzen aufzuzeigen und dich nach Hause gehen zu lassen. Sam, du weißt, dass sie den schwarzen Gürtel besitzt. Sie hätte dich problemlos auseinander nehmen können. Du hast sie nicht getötet, Sam, du hast ihr nicht einmal wehgetan. Wir hatten ein Codewort vereinbart, dass sie rufen sollte, wenn sie der Lage nicht mehr gewachsen war. Daraufhin wäre ich sofort auf der Bildfläche erschienen, und zu zweit hätten wir dich schon bändigen können. Aber die Sache geriet außer Kontrolle. Irgendein Nachbar, der das Klirren von Geschirr und anderen Lärm hörte, rief die Polizei. Meine Güte, waren wir schockiert, als die dich auf einmal abführten. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Weißt du, was ihr Vater beruflich macht? Er ist Richter, Sam. Du wärst mit einer Geldstrafe oder einigen Stunden gemeinnütziger Arbeit davongekommen, aber er sorgte dafür, dass du ins Zuchthaus kamst, wo du seiner Tochter ja nicht mehr gefährlich werden konntest. Sie hat gebettelt und versucht, ihn zu erweichen, aber all das half nichts. Als sie ihm von unserem Plan erzählte, erklärte er sie für verrückt und meinte, sie wäre wohl in dich verliebt und versuche jetzt, den Typen, der sie misshandelt hat, auch noch vor Strafe zu schützen. Es war furchtbar, Sam. Was meinst du, wie wir uns Vorwürfe gemacht haben? Wir hatten es nur gut gemeint, weil wir beide das Beste für dich wollten, und dann ging alles so furchtbar schief. Wir versuchten einige Male auch, das Verfahren wieder aufnehmen zu lassen, wurden aber jedes Mal bereits in der untersten Instanz abgewiesen. Alle Versuche scheiterten an ihrem Vater, der glaubte, nur das Beste für seine geliebte Tochter zu tun. Wollten wir denn nicht alle auf unsere Weise nur das Beste? Aber nun sind wir hier, 27 Jahre nach jenem schrecklichen Missverständnis, und müssen versuchen, damit irgendwie umzugehen, nicht wahr?“

Er sagte nichts, nachdem sie geendet hatte. Im Verlauf ihrer Erzählung waren seine Züge vollkommen ausdruckslos geworden. Zu Beginn hatte er gedacht, sie erlaube sich einen Scherz mit ihm, auch wenn er wusste, dass sie sich niemals einen solch furchtbaren Witz auf seine Kosten geleistet hätte. Aber wenn das, was sie sagte, die Wahrheit war – mein Gott, hatte er dann mehr als die Hälfte seines Lebens wegen eines derartigen Komplotts, das so nach hinten losgegangen war, umsonst gelitten?

„Ich verstehe, dass du jetzt sauer bist“, meinte sie nach einer Weile. „Es tut mir so furchtbar Leid. Wir haben es alle nur lieb und gut gemeint, bitte glaub mir das. Es konnte damals einfach nicht mehr so weitergehen wie bisher.“

„Und dann habt ihr eben beschlossen, mich ins Gefängnis wandern zu lassen, damit ihr eure Ruhe habt?“ Es klang tonlos.

„Nein, das darfst du nicht denken. Ich habe dir doch gesagt, dass wir das so nicht geplant…“

Bevor sie weiter sprechen konnte, griff er mit einer schnellen Bewegung nach dem Revolver vor sich und richtete ihn auf sie. Sie wurde bleich, hielt seinem Blick aber furchtlos stand.
„Ihr habt mich geopfert. Ihr habt mein Leben zerstört. Vielleicht habe ich mich selber so in die Ecke gedrängt, dass mir sowieso kein Ausweg mehr geblieben wäre. Aber das gab euch noch lange nicht das Recht, Schicksal zu spielen.“ Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Schließlich fragte sie ruhig: „Wirst du mich jetzt töten?“

Er legte den Finger auf den Abzug und sah sie entschlossen an. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Schließlich ließ er die Waffe sinken und stieß hervor: „Nein. Du weißt, dass ich dir niemals etwas Böses tun könnte.“ Er lachte kurz und bitter auf. „Da könnte ich mir genauso gut selber einen Zahn ausschlagen.“ Nach einer Weile fügte er ruhig hinzu: „Ich hab dich mehr lieb als sonst jemanden auf der Welt.“ „Ich weiß“, meinte sie nur. Er steckte den Revolver ein, ging um den Tisch herum auf sie zu und kniff sie zärtlich in die Wange. „Ich habe lange gebraucht, um diese Lektion zu lernen. Aber ich habe mich getäuscht. Weißt du noch, wie ich dir damals vorgeworfen habe, du könntest mir ohnehin nicht helfen? Das stimmt nicht. In Wahrheit hast du mir jeden Tag geholfen, einfach nur, indem du warst. Das wollte ich dir schon seit 27 Jahren sagen.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Du weißt, ich war immer schon etwas langsam.“ Er streichelte sie liebevoll. „Du Nudel!“

Sie nahm ihn ohne etwas zu sagen in den Arm, dann ging er wieder zu seinem Platz, und sie saßen eine Weile schweigend da. Schließlich fragte er sie: „Aber da ist noch etwas, was mich interessiert. Wenn sie noch lebt und überhaupt immer gelebt hat – was macht sie heute so?“

Seine beste Freundin überlegte kurz, dann entgegnete sie: „Sie war viel im Ausland unterwegs, hat in Irland gearbeitet und wohnt seit einigen Jahren wieder hier. Übrigens im Haus ihrer Eltern.“

Er sprang auf und rief in höchster Erregung: „Aber das kann nicht sein. Ich war doch dort, bevor ich hier zu dir kam. Der Name auf der Klingel – das ist nicht ihr Name.“ „Nein“, gab sie ihm Recht. „Sie hat den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen und auch ihren Vornamen geändert. Sie sagte mir, wenn sie schon wieder in dieser Stadt lebe, wolle sie einen völligen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Sie hat auch das komplette Haus renoviert.“

„Ich weiß. Ich hab es gesehen“, murmelte er in Gedanken. „Das ist mir nie gelungen, weißt du? Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, meine ich.“ Sie nickte schweigend.

Er brütete eine Weile wortlos vor sich hin. Dann meinte er: „Aber wenn das stimmt, dann habe ich diese Frau gesehen. Ich war die längste Zeit bei ihr und hab ihr alles erzählt.“ Er schlug sich lachend an die Stirn. „Und dabei habe ich das die ganze Zeit nicht gemerkt. Mein Gott, für mich sah sie ja immer noch so aus wie vor 27 Jahren. Ich hatte gar nicht bedacht, dass sie ja in Wirklichkeit nicht mehr so aussehen kann.“ Er überlegte wieder. Schließlich glitt ein sanftes Lächeln über seine Züge. „Also das hat sie gemeint. ‚Es gibt Dinge, die man besser nicht wissen sollte, weil sie sonst Verbitterung bringen.’ Und dann hat sie noch gesagt: ‚Manchmal meinen wir es nur gut und lieb und tun doch das Falsche. Manchmal wollen wir helfen und erreichen doch das Gegenteil.’“

Er sah zu ihr auf. „Aber dann… aber dann hat sie mir ja meine Tat von damals verziehen. Sie sprach darüber, dass man auch verzeihen können muss.“ Er sprang auf. „Ich muss zu ihr.“

„Sam“, meinte seine Freundin, die anscheinend nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. „Überfall sie doch nicht schon wieder.“ „Nein“, wehrte er ruhig ab. „Ich hab jetzt meine Lektion gelernt und hab diese ganzen Gefühle im Griff. Jetzt endlich kann ich normal mit ihr befreundet sein.“

Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und fragte dann: „Sehen wir uns morgen?“ Sie lächelte. „Ja, natürlich. Du weißt ja, wo du mich findest.“ Er grinste. „Wie in alten Zeiten, was? Es waren schöne Zeiten.“ „Ja, das waren es“, stimmte sie ihm zu. Er schien gehen zu wollen, blieb aber dennoch stehen. „Sam“, meinte sie schließlich liebevoll. „Willst du mir noch etwas sagen?“ Er druckste kurz herum, dann sagte er leise: „Tut mir Leid. Ich muss wirklich furchtbar gewesen sein, damals.“ „Naja, ich war wohl auch nicht immer so einfach mit meinen Sticheleien.“ Er lächelte und meinte dann noch einmal: „Ich hab dich lieb, du.“ „Ich dich auch. Bis morgen!“ Sie winkte ihm zu, und er verließ das Büro.

Als er die Fahrt im Rumpellift hinter sich hatte und unten auf die Straße trat, hatte es tatsächlich zu schneien begonnen. Die dichten Flocken glänzten im Licht der untergehenden Wintersonne. Die Straßen waren nun deutlich belebter als zuvor, und viele Leute in Schals und dicken Mänteln huschten hin und her. Er ging ein Stück die Strasse hinunter in Richtung des Bahnhofes. Für heute Nacht konnte er sicher noch irgendwo ein Zimmer in einem Hotel oder einer Pension bekommen. Jetzt galt es erst einmal, wieder in größeren Zeiträumen zu denken, sein Leben wieder etwas zu ordnen. Er war zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde.

Vor ihm blitzte etwas hell auf, und ein blonder Haarschopf verschwand gerade in der Menschenmenge. Er beschleunigte seine Schritte und sah die helle Mähne wieder vor sich. Kein Zweifel, das war sie! Er fing an zu rennen, weil er Hemmungen hatte, ihren Namen über die ganze Straße zu rufen. Außerdem hätte er ihren jetzigen Namen ohnehin nicht im Kopf gehabt.

Als er sich an einigen Passanten vorbeigedrängt hatte, glaubte er zunächst, sie aus den Augen verloren zu haben. Dann sah er ihren markanten Haarschopf allerdings wieder, wie er in einiger Entfernung gerade um eine Häuserecke verschwand. Er ging ihr nach, so schnell es die vereisten und rutschigen Gehwege zuließen. Er malte sich aus, wie er sie erreichte und ihr sagte, wie dankbar er ihr für das war, was sie in ihrem Haus zu ihm gesagt hatte. Dann würde er sie umarmen und sie fragen, ob sie nach alldem, was vorgefallen war, noch immer Wert auf seine Freundschaft lege. Er war zuversichtlich, dass sie ja sagen würde, und da er nun innerlich gereift war, könnten sie endlich die gute Freundschaft führen, die sie von Anfang an hätten haben können, wenn er nicht so stur gewesen wäre. Es wäre großartig, und –

Er rutschte aus, als er ihr die schmale Treppe hinunter folgen wollte, die zum Bahnhof führte. Erschrocken breitete er die Arme aus, schlug auf die Treppe auf und rollte dann kopfüber die harten Steinstufen hinunter. Unten schlug er hart mit dem Kopf auf.

Er blieb mit dem Gesicht nach oben liegen und merkte, dass etwas Warmes aus seinem Hinterkopf sickerte. Er musste sich bei dem Aufprall sämtliche Knochen gebrochen haben, denn er konnte sich überhaupt nicht mehr rühren. Er wollte um Hilfe schreien, aber als er den Mund öffnete, drang ihm Schnee in den Rachen. Er lag eine Weile da und dämmerte langsam weg. Während ihm die Sinne schwanden, dachte er an jenen Kinobesuch, der eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. Er malte sich aus, er wäre King Kong und würde in alle Ewigkeit mit seiner blonden Schönheit im Dschungel leben, wo niemand sie jemals stören könnte. Ein Lächeln breitete sich auf seinen schmerzverzerrten Zügen aus. Konnte es einen schöneren letzten Gedanken geben?

Er lag bewegungslos auf dem Boden und sah lächelnd hinauf in den Himmel. Und auf seinen leblosen Pupillen schmolz der Schnee und sickerte ihm wie Tränen die Wangen hinunter.
 



 
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