Eine Geschichte für Leser ab 12 Jahre
Freundin
Ich koche, vibriere vor Aufregung unter meinem Sonnenbrand in den viel zu engen Klamotten. Ich, fünfzehn und völlig kirre ... heute muss es klappen. Seit Mittwoch hungere ich in der törichten Hoffnung fünf Kilo Babyspeck loszuwerden. Einen Kerl abfassen, das ist heute mein erklärtes Ziel.
Mein Bruder, ein Jahr jünger als ich, teilt das selbe Los, nur dass er eher auf Weiber steht und nicht hungern muss, weil er schlank ist. Wir fahren auf eine Klitsche. Im Volkshaus ist immer was los. Ehe wir aufbrechen, trinke ich mir Mut an.
Am Einlass drückt uns einer lila Stempelfarbe auf die Handrücken. BEZAHLT! Der Saal füllt sich gerade. Bald brodelt es hier wie in einem Hexenkessel. Gelegenheit für mich "das Material" zu sondieren. Hübsch muss er sein und schlagfertig und vor allem lieb. Ich fühl mich nicht besonders gut dabei. Rauche eine Filterlose nach der anderen. Sich begehrt fühlen und gleichzeitig abgelehnt, ist oberstressig. Gegensätze in mir wohnen seit je her dicht an dicht.
Mein Bruder holt Promille. Ich schütte rein, was runtergeht und postiere mich, sehen und gesehen werden, neben der Saaltür. Dort fang ich gierig Blicke ein. Sie reißen ab.
Die Band legt los mit Oldies der Achtundsechziger. Schwarze Lautsprecherboxen dröhnen den Rhythmus in den Raum, schwülwarme Juninacht. Die ersten Paare und Tänzerinnen nehmen die Tanzfläche in Beschlag. Ich will auch tanzen, mich drehen, meinen Körper im Rhythmus wiegen trotz sonnenverbrannter Haut in quälend engen Jeans. Aber mit wem? Ich zerre meinen Bruder auf die Tanzfläche. Das find ich mindestens so abartig wie miteinander tanzende Mädchen, wenn's geht noch mit anfassen. Nach fünf Liedern kann ich nicht mehr. Erschöpft beziehe ich wieder Posten neben der Saaltür. Mein Bruder verschwindet unter dem Vorwand Getränke zu holen. Wieso bin ich immer noch hier?
Draußen im Foyer fliegen Biergläser und zerkrachen auf den Steinfliesen. Ich geh auf's Klo. Dort ist es im Sommer angenehm kühl. Heute steht Alice im Klo, einsam wie auf einer abgetriebenen Eisscholle, heulend und mit blutüberströmten Händen. Fast neben ihr und doch meilenweit weg flüstern Mädchen, schauen sich verstohlen nach Alice um. "... in die Schlägerei geraten ... Splitter ... Hände zerschnitten." Jetzt heult Alice richtig los. Ihr hässliches, verletzbares Gesicht eine einzige Anklage, die kleine, alterslose Gestalt, ihre blutigen Hände. Alice ist bekannt im Volkshaus. Wie eine Ausgestoßene bewegt sie sich zwischen den Lärmenden, Tanzenden, Trinkenden, Johlenden, wird angerempelt, beiseite gedrängt, übersehen. Jeden Samstag kommt Alice wieder. Tödlich treffen die mitleidigen Blicke der Schönen.
Ich kann Alice nicht anschauen, kann nicht wegschauen. Dann sagt meine Stimme, "deine Hände müssen verbunden werden." Mein Körper geht zu Alice, zieht sie sanft zum Waschbecken. Meine Hände schrauben den Hahn leicht auf, halten Alices Hände unter das still herausfließende Wasser. Alice heult lauter. Ich ziehe Glassplitter aus ihren Haut. Bleiben noch die seelischen Wunden.
"Ich will nicht nach hause", sagt Alice draußen mit kehliger Stimme. "Dann fahren wir zu mir", erwidere ich. Alice starrt mich fassungslos an. "Ja, aber du bist doch ein Mädchen?" Ich lächle und nicke. Etwas wird geboren, uralt und wieder neu.
Alice und ich sind den ganzen Sonntag zusammen. Abends bringe ich sie zum Zug.
Freundin
Ich koche, vibriere vor Aufregung unter meinem Sonnenbrand in den viel zu engen Klamotten. Ich, fünfzehn und völlig kirre ... heute muss es klappen. Seit Mittwoch hungere ich in der törichten Hoffnung fünf Kilo Babyspeck loszuwerden. Einen Kerl abfassen, das ist heute mein erklärtes Ziel.
Mein Bruder, ein Jahr jünger als ich, teilt das selbe Los, nur dass er eher auf Weiber steht und nicht hungern muss, weil er schlank ist. Wir fahren auf eine Klitsche. Im Volkshaus ist immer was los. Ehe wir aufbrechen, trinke ich mir Mut an.
Am Einlass drückt uns einer lila Stempelfarbe auf die Handrücken. BEZAHLT! Der Saal füllt sich gerade. Bald brodelt es hier wie in einem Hexenkessel. Gelegenheit für mich "das Material" zu sondieren. Hübsch muss er sein und schlagfertig und vor allem lieb. Ich fühl mich nicht besonders gut dabei. Rauche eine Filterlose nach der anderen. Sich begehrt fühlen und gleichzeitig abgelehnt, ist oberstressig. Gegensätze in mir wohnen seit je her dicht an dicht.
Mein Bruder holt Promille. Ich schütte rein, was runtergeht und postiere mich, sehen und gesehen werden, neben der Saaltür. Dort fang ich gierig Blicke ein. Sie reißen ab.
Die Band legt los mit Oldies der Achtundsechziger. Schwarze Lautsprecherboxen dröhnen den Rhythmus in den Raum, schwülwarme Juninacht. Die ersten Paare und Tänzerinnen nehmen die Tanzfläche in Beschlag. Ich will auch tanzen, mich drehen, meinen Körper im Rhythmus wiegen trotz sonnenverbrannter Haut in quälend engen Jeans. Aber mit wem? Ich zerre meinen Bruder auf die Tanzfläche. Das find ich mindestens so abartig wie miteinander tanzende Mädchen, wenn's geht noch mit anfassen. Nach fünf Liedern kann ich nicht mehr. Erschöpft beziehe ich wieder Posten neben der Saaltür. Mein Bruder verschwindet unter dem Vorwand Getränke zu holen. Wieso bin ich immer noch hier?
Draußen im Foyer fliegen Biergläser und zerkrachen auf den Steinfliesen. Ich geh auf's Klo. Dort ist es im Sommer angenehm kühl. Heute steht Alice im Klo, einsam wie auf einer abgetriebenen Eisscholle, heulend und mit blutüberströmten Händen. Fast neben ihr und doch meilenweit weg flüstern Mädchen, schauen sich verstohlen nach Alice um. "... in die Schlägerei geraten ... Splitter ... Hände zerschnitten." Jetzt heult Alice richtig los. Ihr hässliches, verletzbares Gesicht eine einzige Anklage, die kleine, alterslose Gestalt, ihre blutigen Hände. Alice ist bekannt im Volkshaus. Wie eine Ausgestoßene bewegt sie sich zwischen den Lärmenden, Tanzenden, Trinkenden, Johlenden, wird angerempelt, beiseite gedrängt, übersehen. Jeden Samstag kommt Alice wieder. Tödlich treffen die mitleidigen Blicke der Schönen.
Ich kann Alice nicht anschauen, kann nicht wegschauen. Dann sagt meine Stimme, "deine Hände müssen verbunden werden." Mein Körper geht zu Alice, zieht sie sanft zum Waschbecken. Meine Hände schrauben den Hahn leicht auf, halten Alices Hände unter das still herausfließende Wasser. Alice heult lauter. Ich ziehe Glassplitter aus ihren Haut. Bleiben noch die seelischen Wunden.
"Ich will nicht nach hause", sagt Alice draußen mit kehliger Stimme. "Dann fahren wir zu mir", erwidere ich. Alice starrt mich fassungslos an. "Ja, aber du bist doch ein Mädchen?" Ich lächle und nicke. Etwas wird geboren, uralt und wieder neu.
Alice und ich sind den ganzen Sonntag zusammen. Abends bringe ich sie zum Zug.