Frohe Weihnachten

Homosapiens

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Es nieselte unaufhörlich, was trotz milder Temperaturen frösteln ließ. Auf dem Weihnachtsmarkt kam einfach keine Stimmung auf, obwohl reichlich Rentierschlitten und pelzbewehrte Weihnachtsmänner aus Pappmaché herumstanden, die Buden aufdringlichen Geruch nach Glühwein und Lebkuchen verströmten und aus etlichen Lautsprechern "Sille Nacht, Heilige Nacht" dröhnte.

Aber es war nun einmal die Jahreszeit für Besinnung und gute Werke! Also hatten die Sozialpädagogen beschlossen, die Behinderten ihres Betreuungszentrums zum diesjährigen Stimmungsbummel in den hauseigenen Transporter zu verladen und so Ihrer Pflicht zur sozialen Integration Genüge zu tun. Drei Hirten auf sechs Schäfchen sprachen für einen komfortablen Betreuungsschlüssel, nachdem der eine oder andere Bewohner sich noch in letzter Minute gegen diese Unternehmung entschieden hatte, selbstverständlich unter Vorschub von Unpässlichkeit.
Mildtätigkeit verträgt kein einfaches "Nein, danke!" Zurückgewiesene gute Absichten können ziemlich nachtragend sein.

Sie waren am Ende alle weich gefallen, mehr oder weniger. Elias allerdings hatte manchmal das Gefühl, er fiele noch, und der Aufprall stünde erst bevor. Elias war bei seiner Teilnahme geblieben. Zwar oft enttäuscht von solchen Ausflügen, hatte er sich doch nie ganz von der Hoffnung verabschieden können, einmal werde es noch das große, zentrale Ereignis geben in seinem gleichförmigen, trostlosen Leben.

So trottete er hinter Wolfgang und Jenny her, die erst in der Einrichtung ein Paar geworden waren, diese seltenen Glückspilze! Jenny hatte sich für den heutigen Anlass mit ihrem gesamten Modeschmuck behängt und den Schal weggelassen. Wolfgang war ihr Prinz. Um seiner würdig zu sein, fror sie gern.

Elias dagegen, von zwei Betreuern flankiert, war allein. Nicht etwa so allein und frei, dass er hätte machen können, was er wollte, mitnichten, wohl aber alleingelassen in seiner dumpfen, kummervollen Aussichtslosigkeit.

Die mitgeführten Lunchpakete seiner Einrichtung enthielten stilgerecht Nüsse und Mandeln zwischen geschmierten Broten, was sollte er damit anfangen? Hier gab es doch gar keinen Nussknacker! Wem aber hätte er das sagen können?
Er hatte sich längst an den Gedanken gewöhnt, es liege immer alles an ihm. Warum sonst war er wohl gleich nach der Geburt in einem Heim gelandet? Auch die spätere Pflegefamilie hatte ihn nach ein paar Jahren als zu schwierig empfunden. Er ging jetzt langsamer, sodass er ein wenig hinter den Betreuern zurückblieb. Sein Blick wurde von einem Glühweinstand angezogen, von dem Schwaden herüberwaberten und seine Nase kitzelten.

Wie lange war das her? Sein hämmerndes Leben, in Fluten von Rotwein, umkreist von Freiern? Was war er für ein hübscher Kerl gewesen mit seinem Waschbrettbauch und kühn blickenden Augen, die sich bei der rücksichtslosen Vorteilssuche zu Mandelform verengten! Die Taschen immer voller Scheine, hatte er auch Frauen um sich geschart, die meisten von ihnen aufreizend gekleidet, den Blick wohlgefällig auf seiner hinteren Hosentasche, wo die Männer üblicherweise ihr Geld verwahren.
Es kam ihm vor, als sei er immer unterwegs gewesen, ruhelos, aber kraftvoll. Eine Frau hatte ihn einmal als Wolf unter Wölfen bezeichnet. Ihre Stimme hatte dabei einen sinnlichen Flüsterton angenommen, er hatte den Vergleich allerdings damals als so würdelos empfunden, dass er davongegangen war.

Heute aber konnte er sich nicht gegen einen anderen Vergleich wehren: als ob ein Rudel Kampfhunde durch die Öffentlichkeit geführt würde, an kurzer Kette und mit Maulkorb. Die einst freien Wölfe waren hinter Gittern gelandet, zum eigenen Schutz vor dem Aussterben.

Ein freier Mann mit einem freien Kind an der Hand trat zu dem verlockenden Glühweinstand. Ein echter Becher für Papa, ein Kinderbecher für den Lütten! Normalität war zu Elias' Lieblingswort geworden, ein Ausdruck, der in seinem Leben nie vorgekommen war.

Aber jetzt würde er sich einen Becher heißen Glühwein holen, beide Hände darumlegen, er spürte schon die Wärme an seinen Handflächen. Mit geschlossenen Augen würde er die würzige Süße schlürfen, bis sie ihm in Brust und Bauch brannte. Und mit jedem Schluck würden sie alle sich immer weiter entfernen von ihm, die Aufpasser, die Besserwisser, Wolfgang und Jenny, alle, bis er sich noch einmal ganz allein gehörte, wie ein Wolf im Wald. Er müsste nur wieder so flink, so rücksichtslos und so wachsam sein wie damals.

Wie er da so stand, fehlte allerdings der kühne Blick. Stattdessen war es der geweitete Blick eines Kindes, das rückwärts in die Seele eintaucht und dort am Grunde im Dunkel verzweifelt etwas sucht.
 

Alex Knov

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Hallo Homosapiens,

Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Die Stimmung ist meiner Meinung nach sehr gut rüber gekommen und hier und da habe ich einen gewissen Zynismus rausgelesen, den ich sehr passend fand. Scheiss Jenny und scheiss Wolfgang...
Am besten jedoch hat mir das Ende gefallen, wo du noch abstrakt geworden bist und man nach dem Lesen erst einmal überlegen muss, was das alles überhaupt zu bedeuten hat.
Weiter so!

Grüße

Alex
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo Alex, es freut mich, dass vor allem die Stimmung angekommen ist. Die Sozialarbeit gibt Einblick nicht nur in anrührende Biographien, sondern auch in sehr menschliche Erlebniswelten. Die Mehrheit der Gesellschaft versucht ängstlich, eine "heile Welt" normativ dagegenzusetzen, die aber dem Einzelnen, dem ungewollten Außenseiter, nicht gerecht wird. Die Helferberufe haben u.a. den Auftrag zur Vermittlung, eine fast unlösbare Aufgabe. Zu vielschichtig ist das menschliche Erleben, über den Zeitverlauf sogar im Individuum selbst. Früh erlebte gravierende Mängel bleiben leider meist zeitübergreifend wirksam. Die Psyche konstruiert sich seltener an Logik und Einsicht, sondern viel öfter an ihren ursprünglichen Erfahrungsgrundlagen. Grüße von Homosapiens
 



 
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