Frühling für alle

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Meckie Pilar

Mitglied
Frühling für alle

„Waren Sei schon mal in einer Obdachlosensiedlung?“ fragte der Kollege. Sie lachte. „Nein eigentlich nicht“. Es fiel ihr erst jetzt auf. Aber warum sollte das problematisch sein? Sie hatte sich sofort gemeldet, als der Chef in der letzten Teamsitzung am Montag gefragte hatte, wer von ihnen bereit sei, in Zukunft die Betreuung des Kindergartens in der Siedlung „Im Pöttgen“ zu übernehmen. Die Psychologin, die das bisher gemacht habe, sei letzten Oktober in Pension gegangen und nun habe er von dort die Anfrage, ob die Beratungsstelle auch weiterhin bereit sei, die Mitarbeiter dort bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
Iris war neu im Team, frisch von der Uni, voller Tatendrang aber auch ohne Illusionen. Natürlich war sie bereit, ihre Kompetenzen auch solchen Menschen zur Verfügung zu stellen. Solchen erst recht, dachte sie mit ein klein wenig Trotz. Und was soll’s? Kinder sind Kinder.
Eine kleine Autofahrt in der Dienstzeit bei diesem schönen, klaren Vorfrühlingswetter, das war außerdem eine Freude. Iris begrüßte die sanft gewellte Landschaft, die die sie fuhr. Auch vom Auto aus war deutlich zu erkennen, dass sie gerade dabei war aus dem Winterschlaf aufzuwachen. Noch waren Bäume und Sträucher kahl. Aber auf den weiten Feldern leuchtete die Wintersaat in einem satten Grün. Ab und zu fuhr sie durch ein Dorf. In den Vorgärten blühten Forsythien und lockten Primeln. Der Himmel hatte jene veilchenblaue Tiefe, wie er sie nur im März hat, wenn die Sonne plötzlich die Erde wieder für sich entdeckt.
Iris fuhr langsamer und ließ die Wagen, die sich hinter ihr in einer ungeduldigen Schlage aufgestaut hatten, vorbei fahren. Sie ließ ihr Fenster herunter. Genüsslich reckte und dehnte ihre Glieder und atmete tief ein. Der Winter war lang und trübe gewesen in diesem Jahr. Jetzt räumte also endlich der Frühling mit dem Schmuddelwetter auf.
Iris sah die paar Häuserblocks von weitem. Sie standen einfach mitten in den Feldern, ein halbes Dutzend graue, dreistöckige Häuser mit flachen Dächern. Inmitten der sich gerade herausputzenden, strahlenden Natur wirkten sie ernüchternd und trübselig. Als Iris näher kam, sah sie, dass bei einigen der Häuser im oberen Stockwerk Fensterscheiben zerbrochen waren. Der Putz blätterte überall von den Fassaden ab und unter den Fenstern zeugten große, dunkle Flecken davon, dass hier seit Jahren Dreck an den Hauswänden herunter geflossen war.
Die Straße zwischen den sechs Häusern hatte man nur flüchtig geteert. Sie bestand fast nur noch aus Schlaglöchern. Vor einem der Eingänge lagen ausrangierte Sessel herum, aus denen die Sprungfedern herausragten. Daneben standen ein Kühlschrank und ein zerbrochenes Bett. Neben dem letzten Haus auf der linken Seite sah Iris eine Baracke. Dort würde sie vermutlich die Kindertagesstätte finden. Genauso hatten es ihr die Kollegen beschrieben. Ein halbwegs stabiler, braun gestrichener Zaun grenzte an das Haus. Dahinter lag ein Innenhof. Das Tor, das diesen Innenhof zur Straße hin abschließen konnte, stand weit auf. Im Schritttempo steuerte Iris nun ihr Auto dort hin.
Während sie durch die kleine Siedlung fuhr, sah sie sich vergeblich nach irgendwelchen Pflanzen um. Offenbar hatte hier kein Baum, kein Strauch, kein Balkonkasten, hatte nicht einmal Unkraut eine Chance. Dafür standen überall alte Autos herum und erstaunlich viele Menschen bewegten sich zwischen den Häusern, die meisten geschäftig, manche auch müßig, an die Hauswand gelehnt. Eine Gruppe junger Männer mit Bierflaschen in den Händen blockierten die Toreinfahrt zum Kindergarten. Iris fuhr behutsam um sie herum. Die Männer sahen sich nach ihr um ohne sich von der Stelle zu bewegen.

Wenn man näher hinsah, merkte man, dass das Gebäude der Kindertagesstätte eigentlich ein Bungalow war, der einmal vielleicht freundlich und einladend hatte aussehen sollen. Alt konnte er eigentlich noch nicht sein. Die ganze Siedlung gab es ja erst seit zehn Jahren. Inzwischen hatte sich die Front des Gebäudes an ihre Umgebung angepasst.
Vom Hof aus änderte sich das Bild ein wenig. Iris stellte ihr Auto auf einer Art Parkplatz ab, wo offenbar auch die Wagen der Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätte standen. Neben den Autos hatten sie große Kübel aus Beton plaziert, in denen sich kümmerliche Pflanzen gegen grobe Behandlung, Trockenheit und Autoabgase zu behaupten suchten.
Iris wurde bereits erwartet. Die Erzieherinnen begrüßten sie hocherfreut.
Man hatte sie also doch nicht vergessen in der Stadt! Dafür waren sie aufrichtig dankbar. Wer ahnte denn auch schon, wie schwer ihre Arbeit hier war? Das war wirklich Sysiphusarbeit hier!
Man wisse ja nicht, wo man anfangen solle. Und was man mühsam aufgebaut habe, das würde garantiert in kürzester Zeit und mit großer Sicherheit wieder kaputt gemacht: durch den Alkoholkonsum der Väter, die ständig schimpfenden und schlagenden Mütter, durch den Fernseher, der überall den ganzen Tag liefe. Was sollte dabei schon heraus kommen?! Und auch unter den Kindern gäbe es schon Gewalt und zumindest bei den Hortkindern längst auch Drogen. Rauchen täten sie ohne hin alle ab dem achten Lebensjahr.
„Man sollte das alles nicht für möglich halten. Am liebsten, das können Sie uns glauben, würden wir manchmal die Klamotten hinwerfen. Die Kolleginnen aus den feinen Kindertagesstätten in der Stadt draußen, die machen sich kein Bild von unserer Arbeit hier in der Siedlung. Aber man muss schließlich froh sein, dass unser Träger die Einrichtung noch nicht dicht gemacht hat. Für die Kinder muss man froh sein. Wissen Sie, wir lieben unsere Kinder hier. Sie brauchen uns.“
Die kleine Ansprache der Leiterin wurde fast leidenschaftlich vorgetragen. Die drei Mitarbeiterinnen nicken und sollten ihrer Sprecherin deutlich Beifall.
„Aber was können wir schon wirklich ausrichten!“, fügte sie nun etwas verhalten hinzu. „Aber wenn Sie uns unterstützen und in besonders schwierigen Fällen unter die Arme greifen, das hilft uns dann schon ein ganzes Stück weiter. Schön, dass Sie sich bereit erklärt haben, diese Aufgabe in Zukunft zu übernehmen.“
Iris war fast gerührt. Sie fühlte sich wohl hier. Es war schön, willkommen zu sein.
Sie hörte sich in Ruhe und in aller Ausführlichkeit an diesem Nachmittag die Kümmernisse und Probleme der Erzieherinnen an, notierte, versprach Unterstützung, gab auch hier und da gleich einen Tipp oder einen Rat. Alles was sie sagte, wurde mit Interesse entgegen genommen.

Es war Iris‘ Wunsch, noch ein wenig Zeit zu haben, um sich die Tagesstätte anzusehen und um die Kinder selber kennen zu lernen. Sie wollte nicht kluge Ratschläge vom grünen Tisch aus geben.
Es war gar nicht schwer, mit diesen Kindern hier in Kontakt zu kommen. Es dauerte keine fünf Minuten, da war sie bereits von einer kleinen Gruppe umringt, die ihr die Einrichtung zeigen wollten. Sie hefteten sich an ihre Fersen und zerrten sie am Pullover in alle Ecken. Und sie fragten Iris Löcher in den Bauch: Wie alt sie sei. Ob sie selber Kinder habe. Ob sie einen Mann habe. Ob sie jetzt öfter kommen würde.
Befriedigt stellte Iris bei sich fest, dass es ihr überhaupt keine Probleme bereitete, mit diesen Kindern klar zu kommen. Es waren eben wirklich Kinder wie alle Kinder, genau so, wie sie es erwartet hatte. Natürlich waren sie schon etwas distanzlos, natürlich wirkten sie gierig nach Zuwendung, nach Anerkennung. Aber sonst? Abgesehen von einem Mädchen, das offenbar in die Hose gemacht hatte, rochen die Kids nicht ungepflegt, sahen auch nicht abgerissen aus und schon gar nicht ausgehungert. Sie konnten normal sprechen und sie waren mit Sicherheit auch nicht dumm. Es würde Spaß machen, für diese Kinder etwas tun zu können.

Iris war richtig froh, dass sie diese Aufgabe hier übernommen hatte. Aber jetzt freute sie sich schon auf die Heimfahrt im milderen Nachmittagslicht. Für heute hatte sie Feierabend.
Iris stand mit ihrem kleinen Trupp Kindern an einem der Fenster, die zur Straße hin gingen, und sah hinaus. Man konnte von hier die Straße überblicken mit ihren Autos und Menschen. Auf der anderen Straßenseite sah man die Hauseingänge. Über den flachen mit dunkler Pappe bedeckten Dächern floß der blaue Himmel. Von den Feldern ringsherum um die Siedlung war nichts zu entdecken.
„Leute, ich muss jetzt wieder heim!“, erklärte sie den Kindern, auf Protest eingestellt, der auch sofort kam.
„Schade! Bleib doch noch zehn Minuten!“
„Ich muss aber los!“
„Wo fährst du denn jetzt hin?“
„Nach Hause, nach Krefeld.“
„Ist das weit?“
„Ich war schon mal in Krefeld mit meinem Opa!“
„Ach nein, es ist nicht sehr weit. Es ist eine schöne, kleine Fahrt. Es macht mir Spaß bei diesem Wetter durch den Frühling zu fahren?“
„Was ist das?“
Iris sah den Jungen scharf an. „Du willst wissen, was der Frühling ist? Ist das dein Ernst? Komm, veralbere mich nicht!“
Iris sah, wie der Junge beschämt schwieg. Sie blickte verwundert in die Runde.
Alle blickten sie nun erwartungsvoll an.
„Frühling, das ist das da draußen, all das Wunderbare, was jetzt in der Natur passiert.“
„Frühling ist im April“, sagte jetzt ein Junge.
„Genau“, lächelte Iris. „Und im Mai. Und jetzt, seit ein paar Tagen hat er angefangen. Man kann ihn riechen draußen und fühlen. Die Luft ist ganz weich.“
„Es ist doch erst März. Wieso kann dann der Frühling schon angefangen haben?“, fragte ein Mädchen.
Iris sah sie einen Moment verständnislos an. „Aber Leute, Frühling, das ist doch nicht einfach ein Monat oder zwei, das ist ein Erlebnis! Das ist, wenn die Natur aufwacht aus ihrer Winterstarre und alles wieder anfängt zu leben und Blätter zu bekommen und zu blühen!
Die Kinder schwiegen.
„Wir haben zu Hause einen Strauß Plastikrosen, der steht immer auf dem Schlafzimmerschrank“ bemerkte schließlich eines der Mädchen.
Iris fiel nichts ein, was sie antworten könnte.
„Das ist doch gut“, ereiferte sich das Kind. „Da brauchen wir gar keinen Frühling!“
Die Kinder lachten, als hätte jemand einen Witz erzählt.

Iris schluckte. Sie spürte eine merkwürdige Kälte in sich aufsteigen. Sie wollte plötzlich ganz schnell weg von hier.
Sie ging hinaus zu ihrem Auto, die Kinder blieben in ihrem Kielwasser.
Sollte es möglich sein, dass diese Kinder nichts mit dem Frühling anfangen konnten, dass es in ihrem Leben so etwas nicht gab? Die Natur ist doch schließlich für alle da, oder etwa nicht, überlegte sie verwirrt. Sie wird doch schließlich noch nicht zugeteilt und bleibt immer dieselbe für Arme und Reiche. Oder etwa nicht?
„Ist das dein Auto?“, fragte ein Junge mit Kennerblick.
Sie nickte und steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Das ist aber schon alt. Und schnell ist es auch nicht. Höchstens 60 PS schätze ich“.
Iris spürte, dass sie anfing, sich zu ärgern. Über Autos wussten sie genau Bescheid. Aber den Frühling kannten sie nicht, brauchten sie nicht?
Die Pflanze in dem Betonkübeldirekt neben ihrem Auto, hatte schon einige dicke grüne Knospen angesetzt.
„Seht mal“, sagte sie zu den Kindern. „Hier geht es doch los! Den ganzen Winter über sah es aus, als sei der Strauch kahl und tot. Und jetzt holt die Sonne die Blätter aus den Knospen. Seht ihr, die hier ist schon richtig dick. Bald platzt sie auf!“
Die Kinder staunten die Zweige an.
Iris stieg ein und fuhr los. Sie winkte. Die Kinder winkten zerstreut zurück.
Als Iris in den Rückspiegel blickte, bevor sie in den Feldweg hinter dem letzten Siedlungshaus einbog, sah sie, dass die Kinder noch immer um den Blumenkübel herumstanden.
 



 
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