Fünfundzwanzigstes Märchen: Vom Goldschmied zu Köln und seinem Handel mit dem Fin

VikSo

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Fünfundzwanzigstes Märchen: Vom Goldschmied zu Köln und seinem Handel mit dem Fin

„Ich habe so langsam den Verdacht“, bemerkte Kai, „dass Märchen doch nicht immer ein gutes Ende haben.“
„Möglicherweise“, meinte Viola, während sie nachdenklich die Akte durchblätterte. „Möglicherweise sind ja einige davon noch gar nicht zu Ende.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, bei diesem hier zumindest haben wir es lange Zeit gehofft.“ Ihr Blick verweilte bei einer Zeile, um dann weiter zu schweifen. „Natürlich gab es eine ausgedehnte Suche nach dem Königspaar. Nicht nur durch die menschliche Polizei, sondern auch von Seiten der magischen Völker. Fiona – die Königinmutter – hat lange Zeit die Hoffnung nicht aufgegeben, obwohl sie von Anfang an wusste, dass die Chancen, sie zu finden, schlecht standen. Je länger die beiden verschwunden blieben, desto klarer wurde die Nutzlosigkeit unserer Bemühungen. Vor einem Jahr starb Fiona. Seitdem stockt die Suche. Stattdessen legen alle Großen der Feen ihre Energie in die Erziehung und den Schutz der Zwillinge. Es gibt wohl kaum zwei Kinder auf dieser Welt, die behüteter und strenger aufwachsen. Ich an ihrer Stelle könnte es nicht ertragen.“
„Meinst du, dass er das Königspaar irgendwo gefangen hält? Der Fin meine ich.“
Viola schüttelte den Kopf. „Hast du nicht gehört: Der Unhold wollte den Kindern sein Siegel aufdrücken? Warum ging die junge Königin wohl verzweifelt dazwischen?“
Kai dachte nach. „Weil sie dann endgültig sein Eigentum wären und er die Kinder mit sich nehmen konnte, wann er wollte.“
Viola verneinte. „Es hätte bedeutet, dass die feeische Natur der beiden unwiderruflich ausgelöscht worden wäre. Übrig geblieben wäre nur der Anteil des Fin.“ Sie strich sich eine Locke aus der Stirn. „Die Eltern haben das Gegenteil ausgehandelt. Die Kinder haben nicht mehr ein bisschen Fin in sich. Und als Ersatz dafür...“
„…machte der Fin das Königspaar zu seinesgleichen.“, murmelte Kai. Viola nickte.
Kai kratzte sich am Kopf. „Das gibt es doch nicht.“, sprach er, mehr zu sich selbst. „Ein Mensch kann doch nicht einfach so wie vom Erdboden verschwinden.“
„Nun, zum ersten sind sie keine Menschen. Und zum zweiten: Wenn jemand verschwinden will, dann verschwindet er auch. Zumal, wenn ihm seine Zauberkräfte dabei helfen.“
Kai ließ den Kopf hängen.
„Diese Gerichtsakte“, erklärte Viola, „bezeugt den Prozess gegen den Fin. Den Fremden, der das ganze Unheil erst heraufbeschworen hat.“
„Dann hat man ihn gefasst?“, fragte Kai überrascht.
Viola schüttelte den Kopf. „Der Prozess wurde in Abwesenheit geführt. Hauptsächlich diente er dazu, die Informationen, die nach dem Verschwinden von Finn und Finos Eltern über die Unholde zu Tage gefördert worden, so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu verbreiten, um alle magischen Völker – und durch die Erzähler auch die Menschen – zu warnen. So sollte es den Fin so schwer wie möglich gemacht werden, ihr Werk weiter zu treiben.“
„Ich dachte, es gibt kaum Informationen über diese Wesen.“
„Wenig, am Anfang. Aber nachdem wir wussten, worauf wir achten mussten, kamen zumindest ein paar hilfreiche Dinge zusammen. Die Erzähler schrieben sie auf und die Geschichten wurden zu tausenden gedruckt. In dieser Akte sind die wichtigsten gesammelt.“
„Zum Beispiel?“
„Hier“, murmelte sie, ein gelbliches Blatt aus dem Stapel hervorziehend. „Die älteste Geschichte, die wir fanden. Sie muss sich irgendwann in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zugetragen haben, denn es wird folgendes darin gesagt:

Von weither kann man heute, wenn man sich der stolzen Stadt Köln am Rhein nähert, den hohen Dom sehen, denn Generationen von Bauleuten dort zur Ehre Gottes und ein wenig auch zu ihrer eigenen errichteten. Vor Jahren und Jahrzehnten aber, wenn ein Reisender durch die Stadt zog, konnte er noch über dessen Grundstein stolpern. In dieser Zeit lebte in Köln ein Goldschmied, der verstand es, feinere Schmuckstücke zu fertigen als irgendeiner im Umkreis. Er bildete sich denn auch einiges auf sich selbst ein und verkündete überall auf den Straßen, dass er aus Gold alles nachbilden könne, und wenn es die geheimsten Gedanken eines Menschen seien.
Von diesen Reden hörte über kurz oder lang der König des Landes. Und weil er ein gerechter Mann war, der mit aufgeblasenen Schreihälsen nichts anzufangen wusste, beschloss er, den Goldschmied auf die Probe zu stellen. Er ließ ihn also zu sich rufen und als der Mann, nun doch ein wenig zittrig, vor ihm stand, verkündete er: „Ich habe von deinem außerordentlichen Talent gehört und dass du es sogar vermagst, sie verborgenen Gedanken eines Menschen in Gold zu gießen. Nun, so beauftrage ich dich mit folgendem: Seit Jahr und Tag sucht mich jede Nacht ein Traum heim und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Meine Ärzte rieten mir nun, dass ich mir einen Künstler suchen solle, der diesen Traum an den Tag holen kann. Wenn ich das Bildnis dann bei Tageslicht betrachtete, so wäre ich geheilt. Ich darf aber niemandem verraten, wovon der Traum handelt, sonst müsste ich ihn ewig erdulden. Du bist der einzige, dem dieses Kunststück gelingen kann. Nimm dazu so viel Gold wie du brauchst. Schaffst du es innerhalb von drei Tagen, will ich dich reichlich belohnen und dir die Hand meiner jüngsten Tochter geben. Scheiterst du aber, so lasse ich dir die Zunge und beide Hände abhacken, denn die eine hat falsch versprochen und die anderen nicht gehalten.“
Mit dieser Rede entließ der König den Prahlhans. Der ging eilig nach Hause, schloss sich in seiner Werkstatt ein und wollte sich nicht trösten lassen. Wie sollte er dieses Werk ausführen? Wusste er doch sehr wohl, dass sein Geschwätz auf den Straßen nur Angeberei gewesen war. Stundenlang hockte er in seiner Werkstatt und zerbrach sich den Kopf über die Aufgabe, bis er schließlich erschöpft das Haupt sinken ließ und einschlief.
Er weilte noch nicht lange im Reich der Träume, da schlug auf einmal die alte Kuckucksuhr in seiner Stube. Das war ungewöhnlich, denn die Uhr war schon lange kaputt und hatte seit Jahren nicht mehr die Stunde angezeigt. Auch schlug sie nicht etwa Mitternacht, wie es sein sollte, zwölfmal, sondern eins-zwei-drei-vier – und so weiter – elf-zwölf – und – dreizehn. Beim dreizehnten Schlag aber hörte der Goldschmied ein leises Räuspern hinter sich. Als er sich umdrehte, stand dort im Schatten ein Herr und das war doppelt seltsam, denn der Goldschmied war sich ganz sicher, Türen und Fenster verriegelt zu haben. Der Eindringling trug einen leuchtend roten Rock, grüne Beinlinge und ein gelbes Käppchen auf dem Kopf. Ein spitzer Bart ragte wie ein Horn über sein Gesicht hinaus nach vorn.
„Einen schönen guten Abend.“, gackerte der Unbekannte; das klang wie Ziegenmeckern.
„Guten Abend.“, entgegnete der Goldschmied verblüfft. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ein Vergnügen, ein Vergnügen, das wird es sein.“, meckerte der andere. „Bist heute Nacht wenig vergnügt, Goldschmied.“
„Hab auch keinen Grund dazu.“, brummte der Hausherr.
„Hast Sorgen, hast Sorgen? Macht nichts, macht nichts, ich will dich davon erlösen. Ich habe dir ein Geschäft vorzuschlagen, das wird dich von deinem Problem befreien.“
„Was weißt du von meinen Problemen?“, rief der Goldschmied unwirsch.
„Alles, alles.“, kicherte der Fremde. „Hast den Mund zu voll genommen, nun hast du gleich den ganzen Kopf in der Schlinge. Aber gräme dich nicht ich kann dir helfen.“
„Wie?“, fragte der andere atemlos, denn obwohl er dem Unbekannten nicht traute, war er doch neugierig geworden.
„Ich weiß, welcher Traum den König quält. Wenn du willst, beschreibe ich ihn dir und du kannst ihn dann in Gold nachfertigen. Das dauert nicht länger als drei Nächte und in der vierten wirst du im Bett neben der Königstochter liegen.“
Das klang verlockend im Ohr des verzweifelten Mannes. Zwar war er immer noch skeptisch, allein: Welche bessere Hoffnung hatte er?
„Was aber ist der Preis dafür?“, fragte er schließlich noch.
„Nicht Silber, nicht Gold, nicht Reichtum und nicht Gut. Sei unbesorgt, die Rechnung wirst du sehen; doch schreibe ich sie erst nach getaner Arbeit.“
Das schien dem Goldschmied fair zu sein; einen, der erst schaffte und dann seinen Lohn verlangte, hatte er selten gekannt. So willigte er ein und gab dem Fremden seine Hand darauf. Der kicherte vergnügt und fing sogleich an, dem Künstler genau zu beschreiben, wovon der Traum des Königs handelte. Der Goldschmied trat an seine Werkbank und so arbeiteten die beiden bis zum frühen Morgen. Dann verschwand der geheimnisvolle Gast. Als gegen Mittag der König kam, um den Fortgang des Werkes zu inspizieren, fand er den Handwerksmeister schlafend vor.
„Sieh einer an, der Mensch wird noch seine eigene Hinrichtung verschlafen. Heda, aufgewacht! Willst du den ganzen Tag lang faul sein? Wo ist das Werk, das ich dir aufgetragen habe.“
„Gestatten Herr König, am Tag bin ich faul, aber in der Nacht war ich fleißig. Seht, wie weit die Arbeit gediehen ist.“ Da zeigte er dem König, was er und der Fremde in der Nacht geschafft hatten. Der war rechtmäßig beeindruckt, aber er dachte bei sich: „Der Anfang ist ihm gelungen, doch in zwei Tagen will ich ihn dem Henker vorstellen.“
So ging er und der Goldschmied legte sich wieder schlafen. Pünktlich um Mitternacht jedoch erhob er sich und wollte Tür und Fenster weit öffnen, damit sein Helfer ja ins Haus käme. Gerade aber als er den Schlüssel zur Hand nahm, hörte er die kaputte Uhr, die den ganzen Tag geschwiegen hatte, dreizehnmal schlagen und mit dem dreizehnten Schlag stand der Fremde im Zimmer.
„Frisch ans Werk, ans Werk!“, rief der. „In zwei Tagen hältst du Hochzeit mit der Prinzessin.“
So saßen die beiden wieder die ganze Nacht. Am nächsten Tag kam der König um dieselbe Stunde und fand den Goldschmied wieder schlafend.
„Was ist das?“, polterte er. „Willst du denn immerzu ruhen? Seit gestern hast du dich nicht von der Stelle bewegt.“
„Gestatten Herr König, Am Tag bin ich faul, aber in der Nacht war ich fleißig. Seht, das Werk ist fast vollendet.“
Da präsentierte er dem König seine Arbeit. Der erschrak, denn tatsächlich war fast sein ganzer Traum in dem Kunstwerk abgebildet. Eine wichtige Einzelheit fehlte aber noch.
„Das wird er nie und nimmer erraten.“, sprach der König zu sich. „Meine Tochter ist sicher und ich will ihr morgen die Zunge und die Hände dieses frechen Kerls zum Geschenk machen.“
So ging der König. Am Abend aber, um die zwölfte Stunde, schlug die Uhr wieder dreizehn und der Fremde erschien. „Zum letzten Mal“, sprach er, „schaffen wir heute zusammen, zum letzten Mal. In dieser Nacht will ich dir ein Geheimnis über den Traum des Königs verraten, von dem er glaubt, nur er allein kenne es, nur er allein, der Dummkopf. Doch bevor ich das tue, erinnere dich an unseren Vertrag und schwöre mir bei deinem Leben, dass du mir geben wirst, was ich als Bezahlung verlange, was auch immer ich verlange.“
Der Goldschmied wunderte sich ob dieser Forderung. Weil er aber so gut wie fertig war und voller Wohlbehagen an die schöne Königstochter und das gemütliche Leben im Schloss dachte, willigte er ein. So arbeiteten sie wieder die ganze Nacht. Am Mittag dann kehrte der König wieder und fand den Goldschmied schlafend.
„Wach auf!“, rief er dem Ruhenden zu. „Jetzt geht es dir an den Kragen.“
„Gestatten Herr König“, wandte der Goldschmied ein, „das ist nicht nach der Vereinbarung. Hier steht die Arbeit, wie ihr sie verlangtet. Sehr selbst, ob auch nur ein Hundertstel davon fehlt.“
Da gingen dem König die Augen über vor Staunen. Wirklich: Jedes Detail seines Traumes hatte der Künstler in seinem Werk eingefangen. Nun konnte er nicht umhin: Er musste dem Mann Zunge und Hände lassen und ihm stattdessen die Hand seiner jüngsten Tochter geben. Noch am gleichen Tag wurde Hochzeit gefeiert und am Abend betrat der Goldschmied mit seiner schönen Braut die Kammer und schlief an deren Seite ein.
Um Mitternacht aber erwachte er, als eine Uhr schlug: Eins-zwei-drei-vier – und so weiter – elf-zwölf – und dreizehn. Beim dreizehnten Schlag stand der Fremde neben seinem Bett.
„Was willst du hier?“, wisperte der Goldschmied, vor Schreck aufrecht sitzend.
„Meinen Lohn, meinen Lohn einfordern.“, antwortete dieser. „Es ist an der Zeit.“
Der Goldschmied warf einen besorgten Blick auf seine schlafende Frau. „Können wir das nicht morgen besprechen?“, flüsterte er. „Wenn uns einer hört...“
„Sie schlafen, sie schlafen.“, beruhigte ihn der Fremde selbstgewiss.
„Nun denn – was willst du also? Du sollst alles haben und wenn es die Krone meiner Frau wäre.“
„Nicht Silber, nicht Gold, nicht Reichtum und nicht Gut.“, entgegnete der andere. „Was ich will, ist weit wertvoller.“
„Nun denn, so sag, was es ist und es soll dir geschenkt werden mit Gold überzogen und mit Edelsteinen geschmückt.“
„Wie du es sagst, wie du es sagst, so soll es sein“, grinste der Fremde. „Als Preis verlange ich dein Herz, schlagend aus deiner Brust. Mit Gold überzogen und mit Edelsteinen geschmückt.“
Ganz still ward es im Zimmer. Ungläubig starrte der Goldschmied den Unbekannten an und der Atem stockte ihm.
„Was ist, was ist?“, höhnte der. „Ich habe meinen Preis genannt, nun zahle ihn! Oder willst du den Betrag auf Raten begleichen?“
„Den Preis“, krächzte der arme Mann, „kann ich nicht zahlen.“
Der Fremde runzelte die Stirn. „Du kannst und musst, kannst und musst. Und willst du nicht, so nehme ich das meine mit Gewalt.“
„Gnade!“, flehte der Goldschmied verzweifelt. Hektisch ließ er sich zu Boden fallen und kniete vor dem unheimlichen Fremden nieder. „Kann ich denn durch nichts mein Leben retten?“
Der andere lachte meckernd auf. „Das gleiche Spiel, das gleiche Spiel, immerzu das gleiche Spiel. Was sind die Menschen doch erbärmlich. Nun gut, weil es mich amüsiert, will ich dir eine Chance geben.“
Hoffnungsvoll hob der Goldschmied das Haupt. Doch der Unbekannte blickte nur verächtlich auf ihn hinab.
„Dein Herz soll dein sein.“, erklärte er. „Unter einer Bedingung: Drei Nächte habe ich für dich gearbeitet, drei Nächte ohne Schlaf. Binnen derselben Zeit musst du in der Lage sein, mir meinen Namen zu nennen. Gelingt es dir, verschwinde ich und kehre niemals wieder, niemals nie und nimmer. Schaffst du es nicht, reiße ich mit dem Hahnenschrei nach der dritten Nacht dein Herz aus deiner Brust.“
„Dein Name?“, wunderte sich der Mann. „Weiter nichts?“
Der Unbekannte kicherte. „Geh nur frisch ans Werk, frisch ans Werk.“, gackerte er. „Morgen um dieselbe Zeit komme ich wieder, dann wollen wir sehen, wollen sehen, wie weit du gekommen bist.“
Sprach's und war verschwunden.
Kein Auge tat der Arme Mann nun für den Rest der Nacht zu. Früh am nächsten Morgen fand ihn seine Frau in der Bibliothek des Schlosses sitzen.
„Was tust du?“, fragte sie ihn schlaftrunken.
„Ich wälze die Bücher.“, antwortete er kurz angebunden.
„Zu welchem Zweck?“
„Ich suche Namen.“
„Wozu?“
„Ei, dumme Gans“, murrte der Goldschmied gereizt, „für unser Kind, warum sonst. Nun schweig und lass mich in Ruh' oder hilf mir!“
Dergleichen Antworten war die Prinzessin nicht gewöhnt. Gleichwohl ließ sie sich neben ihrem Gemahl nieder und schrieb den ganzen Tag lang Namen aus den dicken, alten Wälzern heraus: Lange Namen, kurze Namen, gewöhnliche und besondere, einheimische und fremde. Am Abend dann gingen beide müde zu Bett. Pünktlich um Mitternacht aber – die Prinzessin schlief bereits – läutete es wieder dreizehn Mal und der Fremde erschien im Schlafgemach.
„Nun denn, nun denn, hast du meinen Namen gefunden?“
„Allerhand Namen habe ich hier.“, sprach der Goldschmied und zog die Papiere hervor, die er dicht an dicht mit Buchstaben gefüllt hatte. „Heißt du vielleicht Karl?“
„Nein.“
„Heinz, Kurt, Pierre, Gustav?“
„Nein, nein.“
„Hieronymus, August, Ludwig?“
Der Fremde lachte „Nein, nein, nein. Nicht im mindesten.“
So ging es dir ganze Nacht weiter. Im Morgengrauen endlich las der erschöpfte, übernächtigte Mann den letzten Namen auf seiner Liste vor.
„Keiner von denen stimmt, keiner auch nur im Entferntesten.“, kicherte der Fremde, der sich gemütlich auf einem Sofa ausgebreitet hatte. „Die erste Nacht ist nun herum, rum herum. Morgen zur selben Stunde hast du noch eine Chance. Bis dahin – frohes Schaffen, frohes Schaffen!“ Sprach's und verschwand.
Als die Prinzessin an diesem Morgen erwachte, fand sie ihren Mann in den Archiven der königlichen Verwaltung.
„Was tust du?“, fragte sie wieder.
„Ich wälze die Bücher.“, antwortete er.
„Zu welchem Zweck?“
„Ich suche Namen.“
„Schon wieder? Reichen denn nicht die gestrigen?“
„Es war noch nicht der rechte dabei.“, murrte ihr Gatte. „Nun hör auf zu schwatzen und hilf mir.“
Das tat die Königstochter, wenn auch widerwillig. So fand sie wenig später der oberste Verwalter des Königs.
Verwundert fragte er: „Verzeihen vielmals, eure Hoheiten – Darf ich wagen zu fragen, was eure Hoheiten da tun?“
„Ei, dummer Kerl“, schimpfte die Prinzessin entnervt, „wir suchen Namen für unser künftiges Kind. Nun steh nicht so dumm herum, sondern hilf uns!“
„Belieben eure Hoheiten“, schlug der Beamte vor, „dass ich die Schreiberlinge zu Hilfe hole?“
„Was redest du erst herum?“, knurrte nun der Prinzgemahl – er hatte sein zwei Nächten nicht geschlafen. „Das hätte längst geschehen können. Eile dich!“
Mit geflügelten Füßen eilte der oberste Verwalter da davon und wenig später wälzten hunderte Schreiberlinge am ganzen Hof Akten, Listen und Register.
In der Nacht aber, als sie alle erschöpft ruhten, schlug es dreizehn und der Fremde kehrte zurück.
„Was ist, was ist, hast du meinen Namen jetzt gefunden?“
„Allerhand Namen habe ich hier.“, entgegnete der Goldschmied und zog das Heft voll Blätter hervor, die seine Diener im Laufe des Tages beschrieben hatten. „Heißt du vielleicht Kai-Phillip?“
„Nein.“
„Kai-Louis?“
„Nein, nein.“
„Kai-Bradley oder Kai-Maria?“
Der Fremde wollte sich vor Lachen gar nicht mehr beruhigen. So brachten sie wieder die ganze Nacht zu. Am Morgen aber war der Goldschmied noch keinen Schritt weitergekommen.
„Das war die zweite Nacht, die zweite. Morgen zur selben Stunde ist deine Zeit abgelaufen. Genieße deinen letzten Tag!“ Sprach's und verschwand.
Noch zur gleichen Stunde fand die Prinzessin ihren Gatten marschbereit in festen Sachen und derben Stiefeln, einen Proviantsack auf dem Rücken.
„Was hast du vor?“, fragte sie, noch verwunderter als die Tage zuvor.
„Ei, dummes Huhn, in den Städten und Dörfern nach Namen suchen. Nun eile dich, kleide dich an und hilf mir!“
Das wurde der Prinzessin nun aber doch zu dumm. Entrüstet rief sie nach ihrem königlichen Vater und teilte ihm das Begehren ihres Gatten mit.“
„Warum habt ihr mich nicht schon vorher gerufen?“, fragte dieser wütend. „Das ist keine Arbeit für meine Tochter! Sofort sollen Boten durchs ganze Land geschickt werden, die schönsten und edelsten Namen zu sammeln.“
„Ich danke dir, mein königlicher Schwiegervater.“, warf der Goldschmied darauf ein. „Erlaube aber, dass ich selbst mich anschließe. Es ist eine zu wichtige Aufgabe, um sie allein den Dienstboten zu überlassen.“
Das erstaunte den König zwar ein wenig. Weil er es aber guthieß, dass sein Schwiegersohn nicht faul herumsaß, willigte er ein.
So strömten tausende berittene Diener aus durch das ganze Königreich. Der Goldschmied aber machte sich auf Schusters Rappen auf den Weg. Durch tiefe, grasgrüne Täler und hohe, kahle Gipfel wanderte er, überall hin, wo Menschen lebten und notierte sich Namen von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen, ja sogar von Kühen und Ziegen.
Endlich, als es schon Abend werden wollte, machte er sich erschöpft und hoffnungslos auf den Heimweg. Tausende und abertausende von Namen hatte er gesammelt, doch der rechte schien ihm nicht darunter zu sein. Wehmütig fasste er sich an sein kostbares Herz, das lebendiger denn je in seinem Brustkasten schlug. Da kam er durch einen dunklen Wald, wo es nach der Hitze des Tages angenehm kühl war. Müde und traurig ließ er sich auf ein Moosbett sinken und dachte bei sich: „Es ist dem Unhold doch gleich, ob er mich hier oder anderswo tötet. Ich aber will meine letzten Stunden in der freien Natur verbringen.“
So lehnte er sich zurück und schloss die Augen.
Ob er geschlafen hat, und ob viel oder wenig Zeit vergangen ist, weiß ich nicht. Doch als der Goldschmied die Augen wieder aufschlug, da sah er ganz in der Nähe das Lodern eines Feuers. Um ihn herum war es jetzt tief schwarze Nacht und der warme Schein lockte ihn, näher zu treten. Als er aber schon fast da war, vernahm er auf einmal die Stimme einer Frau; die klirrte wie zersprungenes Glas. Und richtig, da war die Frau: Ein verwahrlostes, knochiges Weib. Es trug einen Säugling auf den Arm, den schaukelte und streichelte es und sang dabei:

„Heia heia Ungeheuer,
heiß und tödlich brennt das Feuer.
Heia heia kleiner Kater,
morgen kommt dein lieber Vater.
Heia heia süßer Schmerz,
bringt des Goldschmieds warmes Herz.
Heia heia her und hin,
gut versorgt uns Vater Finn.“

Darauf gluckste das Kind vor Freude und die Mutter mit ihm. Dem Goldschmied aber lief es kalt über den Rücken. So leise er vermochte kroch er durch das Unterholz zurück, hinaus aus dem Wald und rannte, rannte, den ganzen Weg zurück zum Schloss.
Mit rasendem Herzen lag er in seinem Bett, als der Fremde mit dem dreizehnten Schlag zum letzten Mal bei ihm erschien.
„Nun also, also“, forderte der Unhold und machte es sich auf dem Sofa bequem. „Versuch dein Glück. Ich gestehe, es ist unterhaltsam, unterhaltsam dir zu lauschen.“
So begann der Goldschmied erneut: „Ist dein Name Ottokar?“
Der Unbekannte schüttelte den Kopf.
„Karl-Theodor, Frank-Walter?“
Wieder verneinte der andere und ein stummes Kichern erschütterte seinen Leib.
„Friedrich, Wilhelm, Fritz oder Willi? Elsa, Berta, Meckmeck oder Mitzi?“
Nun lachte der Unhold laut heraus. „Hör auf, hör auf, sonst bringst du mich vor Lachen um. Schluss, Schluss, du findest meinen Namen ohnehin nicht.“ Damit ergriff er ein Messer, dass er in einer Innentasche seines Mantels verborgen hatte und wollte damit auf den panischen Mann einstechen. Da rief dieser: „Halte ein! Ein letzter Name.“
Der Fremde zögerte. Schließlich brummte er: „Meinetwegen, meinetwegen. Beeil dich, ich hab meine Zeit nicht gestohlen.“
„Heißest du“, begann der Goldschmied und sein Puls galoppierte ihm durch die Adern. „Heißest du Finn?“
Da wuchsen die Augen des Fremden vor Staunen zu doppelter Größe heran. Heiser flüsterte er: „Das hat dir der Teufel gesagt.“ Noch als er es aber sagte, begann seine Gestalt zu leuchten. Und während der Goldschmied, starr vor Entsetzen, den Fremden von oben bis unten betrachtete, da züngelten an dessen Armen und Beinen, an Füßen, Bauch und Kopf, an seinem ganzen Leib, Flammen empor. Seltsam genug schien das ganze Schloss, inklusive der Prinzessin, weiterhin zu schlafen. Aber noch bevor der Goldschmied, vor Angst halb verrückt, zu einem Schrei Atem holen konnte, ging vor seinen Augen der Fremde gänzlich in Flammen auf.
„Das hat dir der Teufel gesagt!“, rief ihm die wütende Fratze ein letztes Mal aus dem Feuer zu. Dann war er verschwunden. Still war die Nacht wieder. Vor dem Fenster leuchteten die Sterne. Da stöhnte der Goldschmied vor Erleichterung auf. Am nächsten Morgen jedoch fand ihn die Prinzessin in einen tiefen Schlaf gesunken, aus dem sie selbst nicht, kein Diener, nicht einmal der König, ihn vor Ablauf von drei Tagen wecken konnte.
 



 
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