G L E I S 10

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Maribu

Mitglied
Gleis 10 (an einem Winterabend im Jahre 1947)

Sie standen frierend auf der Verladerampe des Stückgutschuppens
und starrten in die feuchte Dunkelheit.
Die Gleise des Verschiebebahnhofs Hamburg-Eidelstedt breiteten
sich fächerartig vor ihnen aus.
Manchmal hatten Alfred und Werner, die 15-jährigen Zwillinge, Glück, nicht entdeckt zu werden. Wann machten die Bahnpolizisten
wieder eine Pause?
Der Nebel war dichter geworden. Nur noch schemenhaft erkannten sie die abgestellten Waggons auf Gleis 10.
"Los!" Alfred gab das Kommando. Er schwenkte den Kohlensack in seiner Hand wie eine Fahne. Entschlossen sprangen sie von der Rampe hinunter und liefen wie Sprinter zum Abstellgleis.
Vorbei an Tankwagen mit Chemikalien, offenen Waggons mit
Baumstämmen, zerschossene Panzer und demontierte Flakkanonen, bis sie endlich einen Waggon mit Kohlen erreichten.
"Jetzt aber rauf!" Diesmal kam der Schlachtruf von Werner.
Gelenkig wie Katzen kletterten sie hinauf; und dann hinein, nichts wie hinein in den Sack. Die Steinkohle war kalt und zusammengefroren, ihre Finger schmerzten bei jeder Berührung damit.
Es war 23,19 Uhr. Der letzte Güterzug dieses Tages musste jeden Augenblick das Nebengleis passieren.
Alfred und Werner hatten keine Augen für ihre Umgebung, denn der Sack sollte unbedingt voll werden.
Bellte da nicht eben ein Hund? Sie hatten sich nicht getäuscht
Plötzlich tauchten zwei Gestalten auf. Sie kamen von der
Bahnhofsseite über die gepflasterte Straße. Die Scheinwerfer-
kegel ihrer Taschenlampen versuchten den Nebel zu durchdringen, erfassten ihren Waggon. Ein Schäferhund war vorweg gelaufen und bellend unter ihnen sitzen geblieben.
"Komm Werner!" rief Alfred und sprang zur anderen Seite hinunter. Er stolperte über eine Schwelle, fiel hin, schlug sich das Knie auf..."Werner!" schrie er.
Kreischend lief der Zug ein. Das Knacken der Räder in den
Lücken der Schienen war wie eine Säge. Wo war das Zugende?
Wann kam er endlich zum Halten?!
Die Bahnpolizisten waren sofort zur Stelle, hoben das leblose Bündel Mensch aus dem Gleis und trugen es davon.
Der Hund, plötzlich still geworden, als spürte er etwas Schreckliches, schlich hinterher.
Werner hatte den Sack mit den Kohlen liegen gelassen und war mit einem Sprung auf dem Pflaster gelandet. "Alfred!" schrie er verzweifelt. Er war wie gelähmt, unfähig, den Bahnpolizisten zu folgen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen und vor seinen Augen tanzten tausend nasse Sterne.
Er setzte sich irgendwo hin. Als er zu sich kam, war eine ganze Zeit vergangen. "Alfred ist tot", sagte er und seine Augen wurden nicht mehr feucht. Und warum? Sie wollten doch nur Kohlen 'klauen', wie sie das schon öfter getan hatten, damit die Familie nicht fror, damit sie Essen kochen konnte!
Warum musste sein Bruder deswegen sterben?
Er blickte hinüber in das angrenzende Wohngebiet, hinauf zu den Fenstern. Doch die waren verdunkelt, die Leute schliefen.
Sie schlafen immer, wenn es solche Fragen zu beantworten gibt.
Sie schlafen und überhören diese Fragen! Und er will sie auch nicht beantworten, er will auch schlafen! Schlafen und aufwachen mit der Gewissheit, dass es nur ein Albtraum war!
Von irgendwoher hörte er eine Glocke. Werner sah vor seinem inneren Auge eine Kirche, eine kleine Kapelle auf einem Friedhof, und es war ihm, als komme das Geläute vom Himmel.
Er stand auf und ging mit schleppendem Gang nach Haus.
"Alfred ist tot", wiederholte er noch einmal, als wollte er von irgendwo hören, dass es nicht stimmt, dass es eine Lüge ist!
 
U

USch

Gast
Hallo Maribu,
eine sehr betroffen machender dicht geschriebener Text. Ich weiss von solchen Geschichten von meinen Eltern, war aber noch zu klein um selbst Kohlen klauen zu gehen. Mein Vater hat Torf gestochen. Aber das ewige Frieren ist mir noch gut in Erinnerung. Mein erster Satz, den ich sprach war "Ich friere am Topf", wobei ich mit Topf meinen Kopf meinte. Noch heute achte ich sehr darauf, den Kopf immer gut warm zu halten.
LG USch
 



 
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