Gäb' es nur ein Du

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Walther

Mitglied
Gäb‘ es nur ein Du


Ich kleide mich, ich leide mich, umgebe
Die Hülle mit der Leere, Ich zu sein.
Ach, gäb‘ es nur ein Du, und es wär mein,
Ich könnte fast noch glauben, dass ich lebe.

Du strahlst mich an und weißt schon, dass ich schwebe,
Umwölkt von falscher Hoffnung, fadem Schein:
Ich wähnte mich so groß, bin elend klein
Und ranke mich an Dir wie eine Rebe

Empor zu lichten Höhen: Sonnenglut
Soll mich verbrennen, weil ich eitel frevle!
In mir ist wahrhaft nichts als böse Brut,

Die ich für Dich versenge und beschwefle:
Du bist es doch, die mich erretten soll!
Es ist vergeblich wohl, mein Maß ist voll.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gäb‘ es nur ein Du
Neugier: was bedeutet "Du"?
Es kann viererlei sein: eine andere Person, "Du" im Gegensatz zu "Sie" und "Du" als Synonym zu "man", Ich, als Selbstansprache.

Ich kleide mich, ich leide mich, umgebe
Die Hülle mit der Leere, Ich zu sein.
Schöner Binnenreim, schöne Assonanzen.
Du also im Gegensatz zu "Ich", es kann aber noch eine andere Person oder eine Selbstbetrachtung sein.
Deppressive Stimmung, Leere.

Ach, gäb‘ es nur ein Du, und es wär mein,
Ich könnte fast noch glauben, dass ich lebe.
Seensucht nach jemand anderem, oder nach der eigenen Person, die in einem fehlt.

Du strahlst mich an und weißt schon, dass ich schwebe,
Umwölkt von falscher Hoffnung, fadem Schein:
Hier ist es klar, es ist eine andere Person, oder die Vision einer anderen Person.
Ich wähnte mich so groß, bin elend klein
Und ranke mich an Dir wie eine Rebe
Metapher: du hältst mich.
Empor zu lichten Höhen: Sonnenglut
Soll mich verbrennen, weil ich eitel frevle!
Es gibt einen russischen Spielfilm aus dem Beginn der 1960er Jahre, der das Brennen buchstäblich zeigt, aber auch die Rettung vor der Hitze. Und es gibt den Mythos von Ikaros.
Der erste und das Gedicht reflektieren letzteren.

In mir ist wahrhaft nichts als böse Brut,

Die ich für Dich versenge und beschwefle:
Selbstzweifel. Ich bin böse. Ich bin der Teufel. Thou art the man. - Ich bin der Teufel oder zumindest doch Faust.
Du bist es doch, die mich erretten soll!
Die Frau, Symbol Gretchen.
Es ist vergeblich wohl, mein Maß ist voll.
Der Teufel, der Selbstzweifel hat gesiegt.
Wir aber wissen: "Du bist gerettet" ist das letzte Wort.

Formal: altertümelnde Großschreibung der Anfangsbuchstaben - Verbindung zur Tradition.

Weibliche und männliche fünffüßige Jamben,
Schema: abba abba cdc dcc

Zusätzlich Assonanz a und d.

Einige gut eingefügte Enjambements.

Steigerung von der ersten bis zur dritten Strophe:
kleiden, strahlen, verbrennen

Auflösung:
Ich bin verloren.
Faust, 2. Teil:
"Du bist erlöst"

Wir haben wohl hier eine Zwei- bzw. Vierteilung.
Strophe 1...3 und 4
oder 1,2,3 erste Hälfte von 4, letzte Zeile von hier.


Klang:

Die Vokale sind gut aufeinander abgestimmt und abgewogen.
Viele "e"-Laute ...
Schöne, altertümelnde Sprache, eitel, wähnen, frevle ...
 

Kaleidoskop

Mitglied
Hallo Walther,

Ein sehr gelungenes Sonett, voller Leidenschaft.

Da bin ich gestolpert. „Ich leide“ ist mir bekannt. Aber „Ich leide mich“?
Soll das eine Kurzform sein von „Ich leide an mir selbst“ „Ich mache mich krank“?
Ich kann mich selbst nicht leiden, ich meide mich.

So meine Assoziation.



Ach, gäb‘ es nur ein Du, und es wär mein,
Ich könnte fast noch glauben, dass ich lebe.

Du strahlst mich an und weißt schon, dass ich schwebe,
Umwölkt von falscher Hoffnung, fadem Schein:
Ich wähnte mich so groß, bin elend klein
Und ranke mich an Dir wie eine Rebe
Da dem so ist, LI sich selbst nicht liebt, braucht es etwas
zum Lieben, das es am Leben erhält. Doch weiß es schon,
das eine solche Liebe egoistisch und zum Scheitern verurteilt ist.
Denn schon zweifelt es, ob LD's Liebe echt ist, ob man so jemand wie
LI überhaupt lieben kann.

Die ich für Dich versenge und beschwefle:
Du bist es doch, die mich erretten soll!
Ich tu doch alles für dich, nun rette mich auch!
Eine Forderung - und weil gefordert, nicht erfüllbar.
Denn wahre Liebe fordert nicht.

Ein Gedicht, das berührt.

Lg,
kalei
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich denke, "leide" wie in "ich kann mich leiden" - Gegensatz zu "Ich kann mich selbst nicht leiden".
Aber vielleicht kann Walter sagen, ob es so stimmt.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd,

das ist eine faszinierende Auslegung dieses Sonetts, das fast wie von selbst in die Tastatur, auf den Bildschirm und in die Textverarbeitung floß. Ich weiß nicht, ob Du dieses Gefühl kennst, daß Du als Autor die Kontrolle über den Text verlierst und er sich dann faktisch wie von selbst schreibt.

Einen solchen Text sieht man hier geschrieben.

Dies vorausgeschickt ist doch ein klassisches Sonett daraus geworden:

* In S1 dominiert die Innensicht. Das Du schafft den Übergang zu S2.

* In S2 dominiert die Außensicht, wird aus Kontemplation Handlung. Das "Ich" rankt sich im Enjambement in das erste Terzett.

* In S3 wird als synthetischer Zwischenschritt die Moral von der Geschicht "vorbereitet"; das Ausbrennen und Beschwefeln kennen wir aus der Weinherstellung.

* In S4 erkennt das Ich, daß die Rettung im Du ist. Und zugleich, daß es nicht zu retten ist (Conclusio).

Soweit die formale Betrachtung. Allerdings sind in und um den Text eine ganze Menge Bezüge gepackt, die man nur entdecken kann, wenn man sich auf die verwandten Symbole und die dadurch enstehenden Bedeutungsebenen einläßt.

Du hast einige Aspekte herausgearbeitet. Als weiteren Hinweis zur Entschlüsselung möchte ich auf die Entstehung des Sonetts und die damals verwandten Sujets aufmerksam machen.

Lieben Dank für Deine tolle Textbearbeitung!

LG W.

Lb. Kalei,

der Einstieg "Ich kleide mich, ich leide mich" stimmt ein wenig auf das auf sich zurückgeworfene Ich an, das in der Tat "bar" vor sich steht und an sich leidet. Außerdem hatte das Verb "leiden" früher auch die Bedeutung des Den-Anderen-nicht-da-haben-bzw.-gern-haben-Wollens - Formulierung etwa "Ich leide Dich nicht".

Ich hoffe, das hilft weiter.

Danke für Deinen Eintrag und die schöne Wertung.

LG W.
 



 
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