Gatterheben in Strahl

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majissa

Mitglied
Einmal im Monat hocke ich im Keller eines mir gänzlich unbekannten Mannes, trinke Wein und lausche seinen Ausführungen:

„Du betrittst ein hohes gotisches Studierzimmer. Draußen Nacht. Gewitter zieht auf. Rechterhand ein Regal mit Zaubertränken, Schriftrollen und Silberpokalen. Links die stinkende Leiche einer fehlgeschlagenen Kreuzung zwischen Mensch und Frostwurm. Ein fleischiger Fühler ragt aus ihrer Stirn. Fackeln beleuchten eine Truhe in der Zimmermitte. Du hast Dietriche im Gepäck. Was tust du?“
„Ich öffne ein Fenster und lasse erstmal Luft in die Bude.“
„Die Truhe schaut aber äußerst wertvoll aus.“
„Ich mag nun mal Gewitter!“
„Aha.“

Der mir gänzlich unbekannte Mann verdreht die Augen, nimmt einen großen Schluck Met und fragt die anderen: „Was tut ihr?“
„Wir öffnen die Truhe, Meister!“, tönt es wie selbstverständlich aus sieben Mündern. Es ist Freitag. Rollenspieltag. Ich bin Paladin unter Fürst Strahl in der Stadt Strahl und habe mich von einer Freundin überreden lassen, regelmäßig an diesem Irrsinn teilzunehmen. Im Keller eines Bekannten, dessen Klospülung kaputt ist, den man aber ehrfürchtig „Meister“ nennt, weil er die Gruppe eloquent durch das Abenteuer führt. Vor mir auf dem Tisch liegen Chips, Colaflaschen und bunte Würfel, die so viele Seiten haben, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Und mein Charakterbogen, auf dem ich jederzeit nachlesen kann, dass mein Paladin einerseits schlau genug ist, böse Schwingungen auf 18 Meter Entfernung wahrzunehmen, andererseits dämlich genug, den 10. Teil seiner Beute der Kirche abzutreten. Den Rest kapiere ich nicht. Was hat es mit der Eigenschaft „Gatter anheben – 13 %“ auf sich? Ich trage 5 Elektrummünzen bei mir und bin 14 Punkte schön. Zu Beginn schenkte mir der Meister großzügig ein Eselchen. Es heißt Caesar, hat eine Moral von 6 und wurde während der letzten Rast von einem bösartigen Huhn versteinert. Zusammen mit unserem Magier. Seitdem klemmen beide in meiner linken Armbeuge, weil ich stark genug bin, sie bis zum nächsten Tempel zu schleppen, wo ein Heiler sich ihrer annehmen wird. Meine rechte Hand hält ein Langschwert. Womit habe ich im Studierzimmer dann eigentlich das Fenster öffnen können? Das sollte der Meister wissen, denke ich und will schon intervenieren, als sich mein Sitznachbar an mich wendet:

„Der ist ja süß!“, raunt er und blickt begehrlich auf meinen kleinen blauroten Radiergummi.
„Du darfst ihn dir ruhig mal ausleihen“, ermuntere ich Progowitz; im Rollenspiel als Zwerg - im Leben als Richter unterwegs. Mehr weiß ich nicht über ihn, aber seine Fähigkeit, Gatter anzuheben, liegt bei satten 19 %, wie ich mit einem schnellen Blick auf seinen Charakterbogen konstatiere. Mir persönlich ist Progowitz zu laut. Außerdem reißt er ständig das Spielgeschehen an sich. Zuletzt in der behaglichen Taverne, wo er säuisch lachte und der Magd befahl, sechs Krüge Bier auf ihrem wogenden Busen heranzuschaffen.
„Das schaffst du nicht!“, meinte der Meister. „Es sei denn du würfelst mit dem W20 über 17.“
„Was ist ein W20?“, flüsterte ich meiner Freundin ins Ohr.
„Ein Würfel mit 20 Seiten.“
„Aha! Und warum muss er über 17 kommen?“
„Wenn er seinen Thakowert von der Rüstungsklasse der Magd abzieht, Boni addiert und Malus subtrahiert – was bleibt dann?“
„17?“ Ich schlug auf den Tisch und lachte säuisch.
„Das kommt schon noch“, warf der Magier gönnerhaft ein. „Du spielst zum ersten Mal. Wir machen das bereits seit Jahren.“
„Hey Magier - was mischst du dich überhaupt ein?“, bellte Progowitz. „Du bist versteinert. Also halt gefälligst die Klappe!“
Der Zwerg würfelte eine 4. Dann flog er aus der Taverne.

„Paladin!“, reißt mich der Meister aus meinen Gedanken. „Nachdem du das Fenster geöffnet hast, zerfällt der stinkende Kadaver am anderen Ende des Raumes zu Staub und hinterlässt eine schimmernde rote Feder. Sie sieht wertvoll aus. Was gedenkst du zu unternehmen?“
„Ich lasse die Versteinerten fallen und schließe äßma das Fenster.“
Allgemeine Entrüstung: „Was?“
„Ich schließe das Fenster. Was ist daran verwerflich?“
Der Meister räuspert sich. „Du kannst die Versteinerten nicht einfach fallenlassen. Sie gehen zu Bruch.“
„Na dann lasse ich das Fenster auf und untersuche lieber diese Feder.“
Allgemeine Entspannung: Hört hört …
Progowitz: „Na bitte! Geht doch.“
„Die Feder erreichst du aber erst in der dritten Runde. Sie liegt sehr weit weg“, stichelt der Meister.
„Bah! Dann mache ich eben eine beherzte Flugrolle.“
„Dazu musst du mit dem W8 mindestens auf 7 kommen. Und es gibt natürlich Punkteabzug wegen deiner Traglast.“
„Kann ich diese blöden Versteinerten denn nicht mal für eine Minute absetzen?“
„Nö.“
Ich würfele eine 8, erreiche die Feder schnappe sie mir. Dabei verliere ich Caesar und den Magier. Scherben bedecken den Boden.
„War ja klar“, kläfft Progowitz.
„Frag du mich noch mal nach meinem Radiergummi!“
„Ich möchte die Truhe endlich mal auf Fallen untersuchen“, klagt meine Freundin, Diebin unter Fürst Strahl in der Stadt Strahl. Schönheitsfaktor: 18 – Gatter anheben: Fehlanzeige! Tscha … schön aber dusslig, denke ich gehässig und blicke verstohlen auf die Uhr. Wo sind nur die letzten sieben Stunden geblieben? Eine ältere Dame huscht an der Kellertür vorbei, spannt eine Wäscheleine quer durch den Flur und hängt zwei weiße Mieder auf.
„Wann kommst du endlich hoch essen, Junge?“ kräht sie zu uns hinein. Eine Persilwolke weht ins Zimmer.
„Nicht jetzt!“, winkt der Meister ab. Und dann: „Du hast keine Falle entdecken können. Was machst du als nächstes?“
„Ich öffne das Schloss mit einem Dietrich.“
Der Meister kramt in seinen Unterlagen. „Du bist gerade dabei, das Schloss zu knacken, als der Truhe plötzlich handlange Zähne entwachsen. Sie beginnt zu glühen und greift die Gruppe an. Was tut ihr?“
„Es gibt heut Königsberger Klopse!“
„Ich sollte ihr einen W6 an die Stirn pfeffern“, brummt Progowitz.
„Und viele Kapern!“
„Gibt’s eigentlich Gatter im Raum?“, will ich wissen.
Der Meister packt genervt seine Blätter zusammen. „Lassen wir es für heute gut sein. Ihr habt euch gut geschlagen und 1500 Erfahrungspunkte gesammelt. Die Werte berechnen wir das nächste Mal.“

Morgen ist es wieder soweit. Ich werde im Keller eines mir gänzlich unbekannten Mannes hocken, Wein trinken und seinen Ausführungen lauschen. Vielleicht retten wir ein Centaurenbaby, womöglich werden wir von Goblins angegriffen, sicher aber werde ich versuchen, mal ein Gatter anzuheben.
 

Engelchen

Mitglied
Ich gebe zu ich habe herzlich gelacht, da mir derlei Rollenspielgruppen alles andere als fremd sind. Gut zu wissen dass nicht nur wir uns mit derartigen Problemen rumschlagen.
Witzig geschrieben, habs gern gelesen :)
 

majissa

Mitglied
Hebst also auch hin und wieder Gatter an, hm? Danke fürs Lesen und Kommentieren. Hat mich gefreut.

LG
Majissa
 
M

Melusine

Gast
Hallo majissa,

eine mir gänzlich fremde Welt, die du da schilderst, aber ich kann mich sehr gut in deine Prot. reindenken. Jetzt verstehe ich endlich ein seltsames Erlebnis, das ich vor mittlerweile bald 2 Jahrzehnten hatte. Eine Zufallsbekanntschaft schleppte mich zu einem Treffen mit so einer Rollenspielgruppe mit. Ich kam mir vor wie im falschen Film, dabei spielten sie gar nicht sondern unterhielten sich bloß.

Gelungene Erlebnisschilderung! So richtig lachen kann ich zwar nicht darüber. Ich frage mich nämlich, was Menschen dazu bringt, so verbissen in einer geregelten Fantasiewelt zu leben ...

LG Mel
 

Engelchen

Mitglied
Ich frage mich nämlich, was Menschen dazu bringt, so verbissen in einer geregelten Fantasiewelt zu leben ...


Ich denk mal von "verbissen" kann keine Rede sein (guuut, manche übertreiben es auch). Normalerweise steht aber immer der Spaß definitiv im Vordergrund ;)
Eine Figur zu erschaffen, sie zu lenken und mit ihr Abenteuer zu bestehen......alles noch irgendwo Kindeheitsträume die man nicht vergessen hat.
 
M

Melusine

Gast
Hi Engelchen,
na ja, vielleicht kommt es für mich ja einfach falsch rüber, kann sein. Mir kommen die Regeln halt seltsam vor - und die Leute die ich da unverhofft kennenlernte waren jedenfalls abstruse Sonderlinge, nicht im Stande Spiel und Realität zu trennen, denn wie gesagt, die Begegnung war nicht bei einem Spiel.

Bestimmt kann es, wie alles was man mit Begeisterung betreibt, viel Spaß machen.

Aber das hat jetzt mit majissas Text eigentlich nicht mehr viel zu tun - sorry majissa!

LG Mel
 

majissa

Mitglied
Sind wir nicht alle ...

abstruse Sonderlinge? ;)

Gerade wollte ich schreiben, dass die Vorgänge natürlich überzogen geschildert wurden. Das würde aber nicht stimmen, denn in so etwa spielte es sich tatsächlich ab. Und ja, die meisten Rollenspieler unterhalten sich überall, jederzeit und gerne über ihre neuesten Abenteuer, Entwicklungsstufen, Waffen etc. Auf Dauer für Außenstehende sicher nervig. Die im Text beschriebene Gruppe findet aber gottlob noch andere Themen - d. h., man kann sie auch mal geschickt von diesen dämlichen Gattern und Zauberrollen ablenken. Insofern hast du vielleicht mit den Leuten damals Pech gehabt, Melusine. Danke übrigens für den Kommentar und das Lob.

LG
Majissa
 
H

HFleiss

Gast
Gut, Majissa, das war ein bisschen kurz. Also schreib ich es länger:

Ich frage mich, wie die Prämisse dieses Textes lautet, ich bin nämlich nicht drauf gekommen, und das ist immer die erste Frage, wenn ich einen Text lese - Blödsinn schafft nichts als Blödsinn? Oder hattest du eine intelligentere Idee für deinen Text und ich bin bloß nicht drauf gekommen?

Lieben Gruß
Hanna
 

majissa

Mitglied
Danke für die Rückmeldung und schade, dass du dem Text nichts abgewinnen kannst, der m. E. verständlich genug geschrieben ist - selbst für den unintelligenten Leser.

LG
Majissa
 
H

HFleiss

Gast
Wie auf dem Arbeitsamt: überqualifiziert, leider.
Aber Majissa, das ist doch ein herrlicher Blödsinn, selten so gegrinst. Auf was für Schnapsideen die Leute so kommen, tja.
Hanna
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo majissa,

ach was bin ich froh,

1. zufällig hier vorbeigekommen zu sein und ein paar höchst vergnügliche Minuten am Bildschirm verbracht zu haben

2. einen tiefen Blick hinter die Kulissen dieser oft so frenetisch bejubelten bzw. auch tierisch ernst genommenen Rollespiele geworfen haben zu dürfen,

3. endlich mal mit Hannah Fleiss – zumindest was ihre ersten beiden Kommentare angeht – nicht einer Meinung sein zu müssen

4. festgestellt zu haben, dass majissa das Schreiben einfach nicht verlernen will.

und 5. endlich mal wieder die „Zehn“ drücken zu dürfen.

„Ich bin Paladin unter Fürst Strahl in der Stadt Strahl und habe mich von einer Freundin überreden lassen, regelmäßig an diesem Irrsinn teilzunehmen. Im Keller eines Bekannten, dessen Klospülung kaputt ist, den man aber ehrfürchtig „Meister“ nennt…“

Allein dieser Ausschnitt ist Spitze. Dass ich auch noch ein Dutzend andere Zitate hätte anführen können, versteht sich von selbst.

Gruß Ralph
 

Duisburger

Mitglied
Grandioser Schwachsinn (das Spiel, nicht deine Schreibe!)grandios niedergeschrieben. Temp, Witz, Satire, Ironie, alles da. Herrlich.

ten points for majissa

lg
duisburger
 

majissa

Mitglied
Wow!

Lieber Ralph,

schön, dich mal wieder unter einem meiner Texte zu lesen. Dazu noch soviel Lob. Ich bin erfreut und motiviert, hin und wieder weitere kleine Episoden vom alltäglichen Rollenspielwahnsinn einzustellen. Denn er geht ja weiter, der Wahnsinn und spätestens, wenn ich mal ein Gatter angehoben habe, wirst du es hier nachlesen können. Sicher wird’s auf einer staubigen Landstraße in idyllischer Landschaft geschehen. Ein kleines Dorf. Bauern treiben ihre Schafe auf die Wiese. Junge, schöne Mägde wandern barfuß am Bach entlang. Und irgendwo an einem uralten Gasthof kniet irgendein alter Knacker neben dem Kellerfenster und meckert los: Mist, ich krieg das Gatter hier nicht mehr hoch! Ich eile herbei, werfe herrisch den Waffenrock beiseite – mein Kettenhemd blitzt und blinkt – und hebe dann mit Macht das verrostete Gatter an, dass es in den Himmel baumelt. Tja, jetzt hats mich irgendwie mitgerissen.

Lieber Duisburger,

auch dir vielen Dank für das große Lob. Beim nächsten Treffen werde ich dem „Meister“ bierernst mitteilen, dass Rollenspiel ja eigentlich grandioser Schwachsinn sei. Mal sehen, was dann passiert. Vermutlich wird er mich in ein Zimmer mit triebhaften Wandteppichen stecken.

LG
Majissa
 

Mumpf Lunse

Mitglied
liebe majissa,
brilliant!
ich vergebe schon lange keine noten mehr.
als ich das beschloss schwor ich, von dieser ehernen regel, nie und nimmer, meinen lieben langen lebtag niemals nicht abzuweichen. es sei denn:
es käme ein palladin daher der mindestens 13% Gatter anheben vorweisen kann.
somit sei dein lohn 10 und aufgrund deiner gestiegenen reputation hast du ab sofort Gatter anheben 14%

nebenbei, nur mal so aus neugier: wie ist eigentlich dein infamiewert?

aufs wunderbarste unterhalten

mumpf
 

majissa

Mitglied
Lieber Mumpf,

entschuldige die späte Antwort, aber derweil befinde ich mich an einem Ort, wo man Flugzeuge als Donnergötter und das Internet als ein Mach(t)werk „Satans“ ansieht. Kurz: Ich bin auf Kreta und komme selten ins Netz. Dennoch habe ich mir einen kurzen Lupen-Blick erlaubt und mich gefreut, dich unter meinem Text zu finden. Noch dazu entgegen deiner ehernen Prinzipien bewertend! Danke für dein Lob und den Gatterbonus. Das sag ich nach meiner Rückkehr gleich dem Meister. Infamiewerte wurden noch nicht vergeben, aber ich hoffe auf ein gehöriges Maß, damit ich es mal in Strahl so richtig krachen lassen kann.

LG
Majissa
 

Felix

Mitglied
Ja auch ich kenne diese Situationen von meiner Rollenspielgruppe und ich muss sagen es hat mir Spaß gemacht deine Geschichte zu lesen.
Endlich schreibt mal jemand nieder was sich schon viele gedacht haben. Kompliment ;)
 

Duisburger

Mitglied
Heute habe ich mich wieder an eine meiner Lieblingsgeschichten auf der LL erinnert und beim erneuten Lesen wieder herzhaft gelacht.
Einfach Grandios.
Wo isse eigenlich, unsere Majissa? Haaallo.
Na, vielleicht locke ich sie ja mit diesem Post.
Auf jeden Fall kommen andere mal in den Genuss, diese Geschichte zu lesen. Da pushe ich gerne mal so einen Text

push
Duisburger
 



 
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