Karl Feldkamp
Mitglied
Im fortgeschrittenen Alter brauchen mancher Mann und einige Frauen irgendwann wieder Windeln. Inkontinenz (lat. Unvermögen) nennt das der Gerontologe diskret. Unvermögen meint, wie ältere Menschen selbstverständlich längst wissen, nicht Mangel an Finanzen, sondern die leidige Unfähigkeit dicht zu halten.
Nun gibt es nicht nur im Alter viele Arten, nicht mehr ganz dicht zu sein. Während bei der gewöhnlichen Inkontinenz der Strom menschlichen Verdauungsflusses gar nicht oder nur noch bedingt aufzuhalten ist, leide ich an einer Art Hirn-Inkontinenz. Mein Gedankenfluss strömt flutartig über alle denkbaren Ufer hinweg. Nicht einmal mit Meditation oder mit selbst befohlenem Gedankenstopp ließ er sich aufhalten, auch nicht durch Ermüdung und durch sedierende Medikamente auf rein pflanzlicher oder gar chemischer Basis.
Und diese Flut überrascht mich sowohl am Tage als auch nachts.
Mein Freund Ernst Leuwald, der die Dinge überdeutlich beim Namen zu nennen pflegt, meinte leidenschaftslos, alte und kranke Bäume treiben, bevor sie eingehen, besonders viele Früchte. Und bei uns Männern, klärte er mich auf, erhebe sich im Sterben unser Geschlechtsmerkmal sogar noch einmal zur vollen Größe und recke sich demonstrativ als vermeintliche Lebensquelle in die Höhe und das bis nach Eintritt des Todes.
Mein Hirn zeigt mit seinem Gedankenüberfluss also überdeutlich Überlebenswillen.
Jetzt weiß ich allerdings nicht, ob bereits die eben geäußerten Gedanken eine Folge jener Überlebensflut sind oder ob das geistige Hochwasser erst noch folgen wird.
Die geistige Inkontinenz lässt mich jedenfalls nicht schlafen, verhindert jede Art von Konzentration auf mich oder einen gerade gefassten Gedanken, überschwemmt ihn mit nachfolgenden Gedanken und reisst ihn weiter und weiter mit sich.
Ich weiß nicht, ob Sie mir noch folgen können. Komme ich doch schon mit mir selbst und meiner Denkfülle nicht mehr ganz mit.
Gerade dachte ich, zuviel zu denken, und denke bereits jetzt schon wieder, dass die Gedankenfluten für mich als Autor nicht von Nachteil sein müssen, wenn ich ihnen denn stand halte. Natürlich möchte ich der Nachwelt ein paar oder auch ein paar weitere Gedanken hinterlassen. Zum Beispiel diesen: Altersweisheit ist nichts als Vergesslichkeit, da Alte nur vergessen haben, welche Dummheiten sie noch begehen wollten. Und wenn ein Gedanke bereits den nächsten verdrängt, leistet das der Vergesslichkeit noch gehörigen Vorschub. Aber ich will mir keine Gedanken mehr über meine Gedanken machen.
Da fällt mir gerade ein, wie sinnlos eigentlich Zurückhaltung sein kann. Nun hat meine Mutter ungeheuer viel pädagogische Energie darauf verwandt, mir vornehme Zurückhaltung anzuerziehen. Ob das allerdings meinem Selbstbewusstsein nützte, muss ich nachträglich eher bezweifeln. Als Schriftsteller benötige ich, um die häufigen Durststrecken der Erfolglosigkeit durchzustehen, ein in jeder Hinsicht übersteigertes Selbstvertrauen.
Meine möglicher Weise altersbedingte Vernunft, die sich in bescheidener Selbstbegrenzung zeigen könnte, ist aus schriftstellerischer Sicht ein lästiges Hindernis. Die Rolle des verückten Alten wäre durchaus die wesentlich vernünftigere. Aber wie, wenn der ein gehöriges Übermaß an vernunftbedingter Neigung zu Scham entgegen steht?
Die Antwort ist einfach: Schamlos werden. Die Würde des Alters skrupellos entwürdigen. Eben doch jene Dummheiten begehen, vor der die eigene Vergesslichkeit mich schützen könnte. Lieber die vernünftigen Anforderungen der Alzheimerschen opfern.
Gelegenheiten, sich als Alter zu blamieren gibt es genug. Sich ganz bewusst zu blamieren, verfolgt allerdings eindeutig provokante Absichten.
Es sollte mir also einfach nicht mehr peinlich sein, wenn ich Anderen peinlich bin.
Jener Vierzeiler, der einst mit Vorliebe in Poesie-Alben geschrieben wurde und lautet:
Ich bin klein.
Mein Herz ist rein,
Soll niemand drin wohnen
Als Gott allein
wäre umzudichten zu
Ich bin alt.
Mein Herz ist kalt.
Soll niemand drin wohnen
nur ich möglichst bald.
Der alte unbekehrbare Egoman ist erreichbar, weder altersmild noch nachdenklich, sowohl sich selbst umkreisend als auch selbst verliebt, ohne Anstand und Ehrgefühl, ein später und besonders spät Spätpubertierender, der nie aus den Pflegejahren heraus will, weil er ewig zu leben gedenkt.
Das wird mir aus rein natürlichen Gründen nicht gelingen. Aber ein paar Versuche wäre es dennoch wert.
Allein, als ich heute Morgen mit der Absicht, es endlich zu versuchen, die Wohnungstür hinter mir schwungvoll zuschlug, gab mir das bereits den notwendigen inneren Elan, der mich die Schmerzen in meinen inzwischen recht abgenutzen Kniegelenken vergessen ließ. Ich hüpfte auf der Straße an meinen Nachbarn vorbei, die mit sorgenvoller Miene hinter mir hersahen und sich vielsagend mit dem rechten Zeigefinger an die Stirn tippten.
„Ja“, rief ich Ihnen zu, „genau da oben im Kopf fängt die Beklopptheit an!“
Und sie nickten. Meinten damit aber selbstverständlich nicht ihre und sondern meine.
Es funktioniert, freute ich mich.
Besonders glücklich aber wäre ich, wenn meine älteste, inzwischen elfjährige Enkelin, die in der ersten Klasse des Gymnasiums auf Wunsch ihrer ehrgeizigen Eltern an ihre Zukunft denken und jetzt schon Höchstleistungen bringen soll, ihrer Mutter (meiner Tochter) bestätigte: „Opa spinnt. Aber das find ich krass!“
Und dann, bin ich sicher, hat sie auch noch die Chance, etwas von mir zu lernen.
Nun gibt es nicht nur im Alter viele Arten, nicht mehr ganz dicht zu sein. Während bei der gewöhnlichen Inkontinenz der Strom menschlichen Verdauungsflusses gar nicht oder nur noch bedingt aufzuhalten ist, leide ich an einer Art Hirn-Inkontinenz. Mein Gedankenfluss strömt flutartig über alle denkbaren Ufer hinweg. Nicht einmal mit Meditation oder mit selbst befohlenem Gedankenstopp ließ er sich aufhalten, auch nicht durch Ermüdung und durch sedierende Medikamente auf rein pflanzlicher oder gar chemischer Basis.
Und diese Flut überrascht mich sowohl am Tage als auch nachts.
Mein Freund Ernst Leuwald, der die Dinge überdeutlich beim Namen zu nennen pflegt, meinte leidenschaftslos, alte und kranke Bäume treiben, bevor sie eingehen, besonders viele Früchte. Und bei uns Männern, klärte er mich auf, erhebe sich im Sterben unser Geschlechtsmerkmal sogar noch einmal zur vollen Größe und recke sich demonstrativ als vermeintliche Lebensquelle in die Höhe und das bis nach Eintritt des Todes.
Mein Hirn zeigt mit seinem Gedankenüberfluss also überdeutlich Überlebenswillen.
Jetzt weiß ich allerdings nicht, ob bereits die eben geäußerten Gedanken eine Folge jener Überlebensflut sind oder ob das geistige Hochwasser erst noch folgen wird.
Die geistige Inkontinenz lässt mich jedenfalls nicht schlafen, verhindert jede Art von Konzentration auf mich oder einen gerade gefassten Gedanken, überschwemmt ihn mit nachfolgenden Gedanken und reisst ihn weiter und weiter mit sich.
Ich weiß nicht, ob Sie mir noch folgen können. Komme ich doch schon mit mir selbst und meiner Denkfülle nicht mehr ganz mit.
Gerade dachte ich, zuviel zu denken, und denke bereits jetzt schon wieder, dass die Gedankenfluten für mich als Autor nicht von Nachteil sein müssen, wenn ich ihnen denn stand halte. Natürlich möchte ich der Nachwelt ein paar oder auch ein paar weitere Gedanken hinterlassen. Zum Beispiel diesen: Altersweisheit ist nichts als Vergesslichkeit, da Alte nur vergessen haben, welche Dummheiten sie noch begehen wollten. Und wenn ein Gedanke bereits den nächsten verdrängt, leistet das der Vergesslichkeit noch gehörigen Vorschub. Aber ich will mir keine Gedanken mehr über meine Gedanken machen.
Da fällt mir gerade ein, wie sinnlos eigentlich Zurückhaltung sein kann. Nun hat meine Mutter ungeheuer viel pädagogische Energie darauf verwandt, mir vornehme Zurückhaltung anzuerziehen. Ob das allerdings meinem Selbstbewusstsein nützte, muss ich nachträglich eher bezweifeln. Als Schriftsteller benötige ich, um die häufigen Durststrecken der Erfolglosigkeit durchzustehen, ein in jeder Hinsicht übersteigertes Selbstvertrauen.
Meine möglicher Weise altersbedingte Vernunft, die sich in bescheidener Selbstbegrenzung zeigen könnte, ist aus schriftstellerischer Sicht ein lästiges Hindernis. Die Rolle des verückten Alten wäre durchaus die wesentlich vernünftigere. Aber wie, wenn der ein gehöriges Übermaß an vernunftbedingter Neigung zu Scham entgegen steht?
Die Antwort ist einfach: Schamlos werden. Die Würde des Alters skrupellos entwürdigen. Eben doch jene Dummheiten begehen, vor der die eigene Vergesslichkeit mich schützen könnte. Lieber die vernünftigen Anforderungen der Alzheimerschen opfern.
Gelegenheiten, sich als Alter zu blamieren gibt es genug. Sich ganz bewusst zu blamieren, verfolgt allerdings eindeutig provokante Absichten.
Es sollte mir also einfach nicht mehr peinlich sein, wenn ich Anderen peinlich bin.
Jener Vierzeiler, der einst mit Vorliebe in Poesie-Alben geschrieben wurde und lautet:
Ich bin klein.
Mein Herz ist rein,
Soll niemand drin wohnen
Als Gott allein
wäre umzudichten zu
Ich bin alt.
Mein Herz ist kalt.
Soll niemand drin wohnen
nur ich möglichst bald.
Der alte unbekehrbare Egoman ist erreichbar, weder altersmild noch nachdenklich, sowohl sich selbst umkreisend als auch selbst verliebt, ohne Anstand und Ehrgefühl, ein später und besonders spät Spätpubertierender, der nie aus den Pflegejahren heraus will, weil er ewig zu leben gedenkt.
Das wird mir aus rein natürlichen Gründen nicht gelingen. Aber ein paar Versuche wäre es dennoch wert.
Allein, als ich heute Morgen mit der Absicht, es endlich zu versuchen, die Wohnungstür hinter mir schwungvoll zuschlug, gab mir das bereits den notwendigen inneren Elan, der mich die Schmerzen in meinen inzwischen recht abgenutzen Kniegelenken vergessen ließ. Ich hüpfte auf der Straße an meinen Nachbarn vorbei, die mit sorgenvoller Miene hinter mir hersahen und sich vielsagend mit dem rechten Zeigefinger an die Stirn tippten.
„Ja“, rief ich Ihnen zu, „genau da oben im Kopf fängt die Beklopptheit an!“
Und sie nickten. Meinten damit aber selbstverständlich nicht ihre und sondern meine.
Es funktioniert, freute ich mich.
Besonders glücklich aber wäre ich, wenn meine älteste, inzwischen elfjährige Enkelin, die in der ersten Klasse des Gymnasiums auf Wunsch ihrer ehrgeizigen Eltern an ihre Zukunft denken und jetzt schon Höchstleistungen bringen soll, ihrer Mutter (meiner Tochter) bestätigte: „Opa spinnt. Aber das find ich krass!“
Und dann, bin ich sicher, hat sie auch noch die Chance, etwas von mir zu lernen.