Gefängnis

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Mumpf Lunse

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Frank von Mumpf Lunse
Meine Beine waren steif vom stundenlangen Sitzen in der kleinen Kabine. Das Tageslicht blendete mich für einen Moment nach der absoluten Dunkelheit während der Fahrt. Die Handschellen, obwohl nicht übermäßig eng angelegt, begannen weh zu tun.
"Gesicht zur Wand!" Ich wurde vor eine grau verputzte Mauer geschoben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass noch jemand aus dem Kleinbus geholt und neben mich gestellt wurde.
Die Bewacher hatten sich einige Meter entfernt und es war fast, als wären wir allein. "Psst ...", zischte ich zu dem Mann neben mir, "Psst ... weißt du wo wir sind?" Keine Antwort. Er schien zu versteinern und starrte verbissen auf die Wand.
"Was ist los mit dir ... weißt du es?"
"Halten sie den Mund!", bellte eine Stimme von hinten.

Die Zelle war geräumig und es standen richtige Betten darin! Es war hell im Raum, die Glasbausteine des "Fensters" nahmen fast die gesamte Wand ein. Eine weiß gekleidete Frau betrat den Raum und wollte meinen Blutdruck messen, während ein Uniformierter in der Tür stehen blieb.
In ein Krankenhaus hatten sie mich also gebracht. Seit sie mich vor drei Monaten verhafteten, gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Keine Briefe, kein Besuch, keinen Rechtsanwalt. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits ein viertel Jahr krank geschrieben. Eine Beule am Hals. Tat nicht weh und beeinträchtigte mich auch sonst nicht. Aber sie war da. Ich sagte den Ärzten jedes Mal: "Ich habe Krebs und ich arbeite nicht mehr. Erst wenn sie mir sagen, was das ist, gehe ich wieder arbeiten." So hatte ich mir die Krankschreibung und zu guter Letzt eine Überweisung in die Uniklinik ertrotzt. Dort sagten sie, nachdem sie es punktiert hatten, es wäre gefährlich, kein Krebs wahrscheinlich, aber gefährlich. Es muss sofort raus. Ich sollte mir einen Termin geben lassen für die Operation. Als ich mir den Termin holen wollte, sagte die Schwester, ich solle jedes halbe Jahr mal anrufen, ob ich schon dran sei. Ich musste lachen damals, bis ich kapierte, dass es kein Scherz war. Als ich zwei Tage später festgenommen wurde, war meine Aufmerksamkeit auf alles andere gerichtet. Ich habe es dem Gefängnisarzt zwar erzählt, aber danach habe ich es einfach vergessen. Sie haben es scheinbar nicht vergessen.

Die Tür wurde geöffnet und sie brachten den Mann herein, der neben mir an der Wand gestanden hatte.

Wir waren allein. Er sah mich nicht an. Ich war mir nicht mal sicher, dass er mich bemerkte. "Mein Name ist Gunter", ich streckte ihm die Hand entgegen.
Wie schon draußen, vor der grauen Wand, schien er wieder zu versteinern. Plötzlich sprang er auf. Er ging zum Waschbecken und beschmierte sich die Lippen mit Zahnpasta. Ich schaute ihm verwundert zu und legte mich auf eines der Betten. "Warum machst du das?" Keine Antwort. Mit einer fragenden Geste streckte ich ihm die Zigaretten entgegen. Er riss sie mir fast aus der Hand, als ich ihm die Streichhölzer gab, zitterte er so stark, dass die Zigarette, die er mühsam aus der Packung gefummelt hatte, herunterfiel. Er rauchte mit hastigen Zügen und starrte die ganze Zeit auf die Glasbausteine. Es blieb nur der Filter übrig. Dann versteinerte er wieder.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn. Keine Reaktion. Das konnte ja heiter werden, dachte ich und schloss die Augen.

Das Abendessen wurde gebracht. Viel besser als die letzten Monate, na immerhin. Mein Mitbewohner schlang schnell alles in sich hinein und schielte dann mit unverkennbarer Gier nach den Resten meines Essens. Um seinen Mund waren noch Spuren der Zahnpaste, die er sich immer wieder auf die Lippen geschmiert hatte. Wortlos schob ich den Teller ein paar Zentimeter in seine Richtung. Als er seine Hand ausstreckte, zog ich ihn zurück und fragte: "Wie heißt du?"
"Frank", stieß er hervor und griff energisch zu.
"Oh Manne", seufzte er, nachdem er alles gegessen hatte. Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er sah mir einen Moment lang in die Augen und in seinem unsteten Blick glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das wortlos geblieben war, rauchten wir meine Zigaretten. Danach begann er im Raum auf und ab zu laufen. Ich versuchte zu lesen. Den ersten Band der Josephus Trilogie von Lion Feuchtwanger. Sein Umhergehen erinnerte mich an einen Fuchs, den ich mal im Zoo sah. Er ging auf einem imaginären Pfad, dem er unerschütterlich folgte. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren.
"Willst du nicht auch was lesen?" Er antwortete nicht.
"Die Zeitung vielleicht?" Er blieb stehen und sah mich an.
"Ich kann nicht, oh Manne", antwortete er.
"Wie, du kannst nicht?"
Er sah mich gequält an und sagte: "Ich versteh's nicht".
"Was gibt's da zu verstehen?"
"Wenn ich eine Zeile gelesen habe, dann habe ich den Anfang schon wieder vergessen". Ich musterte ihn ungläubig.
"Aber du kannst doch lesen?"
"Ja, aber ich versteh's nicht." Er begann wieder auf und ab zu gehen.
"Bist du zu aufgeregt jetzt - zum Lesen? Verstehst du es nicht, weil dir so viel durch den Kopf geht?"
"Nein, oh Manne, ich will arbeiten. Ich kann nicht ohne arbeiten", brach es aus ihm heraus.
"Als was hast du gearbeitet?"
"Melker."
"Auf der LPG?", fragte ich überflüssigerweise nach.
"Ja, 200 Kühe, ich habe nie gefehlt." Und nach einer Pause: "Ich halte das nicht aus, oh Manne, ... ohne arbeiten."
"Na dann lies doch was", sagte ich wieder.
"Ich kann doch nicht, oh Manne", stieß er gequält hervor.
Er sah zu meinen Zigaretten. "Gibst du mir noch eine?" Ich nickte und er griff schnell nach der Schachtel auf dem Tisch. Er tat mir Leid und ich sagte sanft: "Wir fragen mal, wann du welche kaufen kannst."
Er sehr leise: "Ich habe doch kein Geld, oh Manne."
"Hast du niemanden draußen?" Er sah mich an, als verstünde er die Frage nicht.
"Eine Frau? Eltern? Irgendjemand?"
"Doch, Frau und zwei Kinder." Er setzte sich und sah zu den Glasbausteinen.
"Schickt die dir kein Geld?"
"Nein, sie will sich scheiden lassen." Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können. Alles was mir einfiel war: "Wie lange bist du schon hier drin?"
"Drei Monate?" Es klang wie eine Frage.
"Weißt du das nicht?"
"Oh Manne ...", stöhnte er wieder. Ich gab ihm eine Schachtel Zigaretten, ich hatte genug und ich hatte auch Geld.
"Hier, da brauchst du mich nicht immer zu fragen". Er nahm die Schachtel und als er aufblickte, sah ich, dass er Tränen in den Augen hatte und dabei lächelte. Er setzte sich sofort auf das Bett und begann zu rauchen. Ich widmete mich wieder Flavius Josephus.

Als das Mittagessen gebracht wurde, war die halbe Schachtel geraucht.
Die Schließer hatten das Geschirr geholt. Die Zelle wurde wieder verriegelt.
"Warum bist du hier", fragte er mich leise. Ich sah ihn an. Vielleicht war er ein Spitzel. Vielleicht glaubte er das auch von mir. Nein, dachte ich, der ist zu fertig.
"Ich habe mich mit Leuten getroffen und diskutiert", sagte ich ausweichend. Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand.
"Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein."
"Musik?", fragte er.
"Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und manchmal auch Flöte und Mandoline. Aber eigentlich habe ich gesungen, na ja und Gedichte geschrieben und vorgetragen."
"Du bist ein Künstler", sagte er und ich musste lachen über den resignierten Ton in seiner Stimme.
"Ich bin Schlosser, die Musik war nur Hobby", lachte ich. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen.
"Ich habe mal eine Musikkapelle im Fernseher gesehen", sagte er "aber ich versteh nichts davon. Früher dachte ich, das ist alles wirklich". Ich sah ihn fragend an.
"Wenn ich was im Fernseher gesehen habe, dachte ich, dass es wirklich passiert."
"Du meinst die Nachrichten?"
"Nein alles." Er sah mich an.
"Du willst mich verarschen?", grinste ich, aber in seinen Augen sah ich, dass er es völlig ernst meinte.
"Meine Frau hat mir das dann erklärt, wie das ist mit den Schauspielern und so. Sie hat mich ausgelacht ... die Kinder auch, oh Manne." Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. "Alle haben über mich gelacht". Ich schwieg betreten. Es war mir peinlich, einen erwachsenen Mann so zu sehen. Wie konnte er das sagen, hatte er keinen Stolz?
"Einmal habe ich meinem Nachbarn den Betonmischer geborgt. Er brachte ihn nicht wieder und meine Frau sagte, ich soll ihn holen, ich wäre ein Schlappschwanz sonst. Ich ging zum Nachbarn. Er sagte, der ist kaputt, den brauchst du sowieso nicht mehr und dann hat er gelacht über mich, oh Manne ... was sollte ich denn machen?"
"Er hat dich beklaut?", fragte ich.
"Nein, er war doch kaputt", antwortete er trotzig.
"Du bist ein kräftiger Kerl, warum hast du ihm keine reingehauen?" Ich fragte das ziemlich aufgebracht.
"Das ist nicht richtig, das darf man nicht", er sagte es wie ein Kind.
"Vielleicht hast du Recht, macht alles nur schlimmer", lenkte ich ein.

Die Zelle wurde geöffnet, ein Uniformierter forderte mich auf mitzukommen. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Er befragte mich zu meinen Beschwerden, danach ging es zurück.
Mit dem Abendbrot kam ich an. Frank hatte sich wieder die Lippen mit Zahnpasta eingeschmiert. Die Zigaretten sind alle, dachte ich sofort.
"Hilft das, wenn du nichts zu rauchen hast?"
"Oh Manne ...", stöhnte er nur.
Wir begannen zu essen. Diesmal blieb nichts auf meinem Teller und Frank war sichtlich enttäuscht. Ich überlegte, ob ich ihm eine Zigarette anbieten sollte. Wenn ich ihm noch eine Schachtel gäbe, würde er sie sicher in kürzester Zeit leeren. Ich hielt ihm die Schachtel hin. Wir rauchten. Ich widmete mich wieder Josephus. Während ich las, ging er auf und ab. Ich bot ihm von Zeit zu Zeit etwas zu rauchen an, das beruhigte ihn ein wenig.
"Nachtruhe!" Das Licht wurde gelöscht.

Nach dem Frühstück wurde die Tür geöffnet. Ein Offizier, der einen weißen Kittel umgehängt hatte, kam in die Zelle. Er sah sich um und fragte wer ich sei. Ich sagte meinen Namen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich Frank zu. "Kommen sie mit". Kurz nachdem sie weg waren, wurde auch ich geholt. Man brachte mich in ein Labor und mir wurde Blut abgenommen. Als ich wieder in der Zelle war, kam eine Krankenschwester und gab mir eine braune Kapsel, die ich schlucken sollte.
"Was ist das?"
"Das müssen sie nehmen", antwortete sie.
"Was ist das?", fragte ich noch mal. Sie war sichtlich verärgert.
"Wer weiß was sie mir geben", sagte ich "ich nehme nichts, solange ich nicht weiß, was das ist, ihnen traue ich alles zu." Sie drehte sich wütend um und ging. Den Rest des Vormittags konnte ich ungestört lesen. Kurz vor dem Mittagessen kam mein Zellengenosse wieder. Ich sah ihn erwartungsvoll an.
"Was war denn das für einer?", fragte ich, während ich ihm die Zigaretten reichte.
"Ich weiß nicht, er sagt er muss mich untersuchen, weil es der Rechtsanwalt will."
"Was hat er denn untersucht?", wollte ich wissen.
"Er hat mich nur so komische Sachen gefragt", sagte Frank und sah mich ratlos an.
Das Essen kam. Während wir aßen, fragte ich ihn wieder, warum er hier sei. "Ich habe doch nichts gemacht. Nur einmal. Da brauchten wir ein Kabel, für den Keller. Meine Frau sagte, ich soll es von der LPG mitbringen. Ich kann doch nicht stehlen, sagte ich. Sie sagte, ich soll nicht so blödes Zeug reden und die Kinder haben mich ausgelacht. Da habe ich es mitgebracht. Dann konnte ich nicht mehr schlafen. Ich bin ein Dieb." Als er das sagte, sah er verzweifelt aus. Sein Körper wurde schlaff, seine Augen trüb. "Das darf man doch nicht", kam es leise und abwesend. Er richtete sich wieder auf und sah zu dem Fenster aus Glasbausteinen. "Nach einem Monat bin ich zum Gefängnis in Dessau gegangen."
"Was wolltest du denn im Gefängnis?" Ich guckte ihn ratlos an.
"Wer klaut muss ins Gefängnis!", sagte er trotzig. Das glaubte ich einfach nicht, aber seine Stimme, seine Augen, alles drückte aus, dass er die Wahrheit sagte.
"Hat dich einer erwischt?"
"Nein."
"Bist du zur Polizei gegangen?"
"Nein."
"Warum bist du dann zum Gefängnis gegangen?", fragte ich wieder.
"Ich dachte, wenn ich bestraft werde, kann ich wieder schlafen", sagte er leise.
"Und? Was haben die mit dir gemacht?" Ich stellte mir vor, wie er am Gefängnistor anklopfte um den Bullen zu erklären, dass er bestraft werden wollte und musste grinsen.
"Die wollten Papiere sehen. Ich hatte doch keine Papiere. Der am Tor fragte, ob ich Selbersteller bin."
"Selbststeller", verbesserte ich ihn.
"Aber ich weiß doch nicht, was das ist. Oh Manne. Dann hat er mich angebrüllt und weggeschickt." Ich musste unwillkürlich lachen.
"Mann, du bist ein Herzchen", grinste ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Ein Uniformierter holte das Geschirr. Als wir wieder allein waren, versuchte ich Frank zu erklären, dass man erst verurteilt sein muss, um ins Gefängnis zu kommen. Oder wenn die Polizei oder die Stasi denken, dass man was gemacht hat, wie bei uns jetzt, dann kommt man in Untersuchungshaft. Dass ein Selbststeller jemand ist, der verurteilt wurde, aber nicht mehr in Untersuchungshaft bleiben muss, weil er nur eine Kleinigkeit gemacht hat und dass der dann einen Termin bekommt, zu dem er sich im Gefängnis melden muss, um seine Strafe abzusitzen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er verstand mich nicht.

Ich gab es auf und begann wieder zu lesen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Jetzt bin ich schon wie Frank, dachte ich. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gerade gelesen habe. So muss es ihm immer gehen. Kein Wunder, dass er keine Lust zu lesen hat. Ich hatte zwar welche, aber das nutzte mir jetzt wenig. Noch immer hatte ich nicht erfahren, warum er eigentlich hier war.
Als er wieder zum Waschbecken ging um sich die Lippen einzuschmieren, sagte ich: "Wir sind hier bei der Stasi. Das weißt du doch?"
"Ja, oh Manne ..." Ich gab ihm eine neue Schachtel Zigaretten und sah ihn erwartungsvoll an um eine weitere Erklärung von ihm zu bekommen.
"Ich wollte auch mal zur Stasi gehen, weil die von der Stasi die Republik schützen. Aber Irene sagte, wenn ich das mache, heiratet sie mich nicht."
"Irene ist der Name deiner Frau?", fragte ich nach.
"Ja."
"Na jetzt bist du ja bei der Stasi", meinte ich ironisch. Er guckte mich traurig an: "Ich halte das nicht aus, so ohne arbeiten." Und nach einer Pause: "Ich war in Halle mit einem auf der Zelle, der sagte, wenn man ins richtige Gefängnis kommt, darf man arbeiten."
"Haben die von der Stasi dir gesagt, warum du hier bist?" Er schüttelte den Kopf.
"Was sagt denn dein Rechtsanwalt?", bohrte ich weiter.
"Den habe ich nur einmal gesehen, ganz kurz, da hat er mir nichts gesagt."
Irgendwie musste es doch zu erfahren sein, wie er hier reingeraten war.
"Wo bist du denn verhaftet worden?", machte ich einen neuen Anlauf.
"Bei Eisenach, mit dem Auto". Ich blickte ihn fragend an.
"Was für ein Auto?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Führerschein hatte.
"Ich habe einen Wartburg!" So was wie Stolz klang in seiner Stimme.
"Aber die von der Stasi, sagen den nehmen sie mir jetzt weg, oh Manne ...". Er sah resigniert auf den Boden.
"Du hast einen Führerschein?", fragte ich ungläubig nach.
"Ja", sagte er mit Nachdruck und sah mich verwundert an. Ich fragte mich, wie er den geschafft hatte, beschloss aber nicht weiter nachzufragen. Jetzt, wo ich so nah dran war, den Grund seiner Haft zu erfahren.
"Hast du einen Unfall gebaut?", fragte ich und dachte befriedigt, dass wir der Sache jetzt näher kommen. Sicher hatte er einen Unfall gebaut und aus irgendeinem Grund war er nicht in der normalen U-Haft, sondern beim Mfs gelandet.
"Ist der Wartburg sehr kaputt?", fragte ich anteilnehmend.
"Nein, wieso denn?", antwortete er und sah mich verwundert an. Ich war einen Moment sprachlos.
"Na der Unfall! Du hattest doch einen Unfall!"
"Nein, keinen Unfall", antwortete er.
Ich war keinen Schritt weiter. Ich lehnte mich auf dem Bett zurück und sagte so ruhig ich konnte: "Du hast mir doch gerade gesagt, du wurdest bei Eisenach mit dem Auto verhaftet, richtig?"
"Ja."
"Wieso, ... wieso wurdest du da verhaftet? Ich verstehe das nicht!" Er sah mich nur an, mit traurigen Augen.
"Was wolltest du denn bei Eisenach? Hast du jemanden besucht? War deine Familie dabei? Haben sie dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?"
Das klang viel gereizter, als ich es wollte. Er sah mich erschrocken an, dann senkte er den Blick und sagte leise: "Ich hab?s doch nicht mehr ausgehalten."
"Was hast du nicht ausgehalten? Pinkeln zu müssen? Willst du mir im Ernst erzählen, die haben dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?" Ich war laut geworden und er schwieg verstört.

Das Abendessen kam. Es gab jeden Tag was anderes. Das waren wir von Halle nicht gewöhnt. Da gab es an einen Tag Leberwurst, eine halbe Scheibe und am nächsten Tag Jagdwurst in Würfeln. Ich hatte die Würfel mal zusammengelegt. Es war auch nur eine halbe Scheibe. Dazu gab es immer einen Löffel voll Schweineschmalz. Tagein tagaus, seit drei Monaten.
Nach dem Essen waren wir etwas entspannter und fast zufrieden. Irgendwie war unsere kleine Welt ein wenig harmonischer. Ich beschloss, die Stimmung zu nutzen und nicht locker zu lassen.
"Jetzt mal im Ernst", ich sah ihn an, "was hast du nicht ausgehalten?" Seine Augen wurden dunkel, seine Hände bewegten sich unruhig, ziellos und zitterten dabei.
"Ich hab's versucht, ein paar Mal, aber ich konnte es doch nicht, oh Manne. Alle haben mich ausgelacht. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Die Frau, die Kinder ... auf Arbeit. Ich hab's versucht ein paar Mal." Er wirkte gequält und abwesend. Und nach einer langen Pause sagte er: "Auf Arbeit haben sie sich unterhalten, wenn man an die Grenze geht, wird man erschossen. Ich dachte, wenn ich's nicht selber kann, fahr ich zur Grenze da werde ich erschossen."
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
"Du wolltest dich an der Grenze erschießen lassen?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er sehr leise.
"Du wolltest dich umbringen!?"
"Ja ... oh Manne".
Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ich jetzt sagen konnte. Mir fiel nichts ein. Wir schwiegen. Wortlos streckte ich ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. Er griff abwesend zu, und als ich ihm Feuer gab, reagierte er nur mechanisch.
"Wie hast du dir das denn gedacht?", fragte ich nach einiger Zeit.
"Wolltest du hingehen und sagen >Erschießt mich<?"
"Ich dachte, wenn ich mit dem Auto auf die Grenze zufahre, werden sie mich erschießen", antwortete er leise.
"Und warum haben sie es nicht getan?"
"Ich weiß nicht, oh Manne", sagte er resigniert.
"Bist du denn wirklich auf den Grenzübergang zugefahren?", fragte ich ungläubig.
"Ich wusste doch nicht, wo die Grenze ist ... Ich bin einfach gefahren, erst auf der Autobahn in Richtung Eisenach, dann auf der Landstraße. Dann sah ich einen Posten. Ich gab Gas und dachte, wenn ich jetzt durchfahre, erschießen sie mich. Sie sprangen auf die Straße mit Maschinen-Pistolen, als ich fast da war. Ich dachte nur ... jetzt, jetzt schießen sie gleich. Aber sie haben nicht geschossen." Er starrte ins Leere. Nach einer langen Pause redete er weiter.
"Irgendwann war ich in einem Dorf und da war die Straße auf einmal zu Ende. Ich hielt an, vor einem Tor und da kamen von überall Soldaten und zerrten mich aus dem Auto."
"Das war sicher nur ein Vorposten ins Sperrgebiet", sagte ich. Er sah mich verständnislos an. "Das war noch nicht die Grenze. Vor der Grenze ist ein Sperrgebiet. Da darf man nur mit Sondergenehmigung rein", versuchte ich ihm zu erklären.
"Und du bist jetzt hier, weil die denken, du wolltest in den Westen abhauen?"
Er sah mich fragend an.
"Haben sie dich gleich nach Halle zur Stasi gebracht?"
"Gera", sagte er.
"Hast du denen gesagt, dass du dich umbringen wolltest?", fragte ich.
"Sie haben gesagt, ich weiß schon, warum ich hier bin und ich soll am Besten alles erzählen" und nach einer Pause: "Und da dachte ich, es ist wegen dem Elektrokabel von der LPG. Ich habe dann alles erzählt. Sie haben mich angebrüllt. Ich soll die Wahrheit sagen."
Ich sah ihn an, er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Ich fragte ihn trotzdem: "Du dachtest, du bist wegen dem Kabel bei der Stasi gelandet?"
"Ich habe doch nichts anderes gemacht."
Ich musste laut lachen, als ich mir vorstellte, wie sich die Stasi verarscht vorkam.
"Haben sie dich nicht gefragt, was du im Sperrgebiet wolltest, an der Grenze?"
"Ja, aber erst viel später."
"Und?" Ich sah ihn gespannt an.
"Ich habe erzählt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe", sagte er leise.
"Haben sie dir das geglaubt?", fragte ich mit erwartungsvoller Spannung in der Stimme. Er sah mich verständnislos und fragend an.
"Sie fragten, wieso ich glaube, dass die DDR Menschen erschießt. Ich erzählte, dass ich das gehört habe. Sie fragten dann, ob ich damit sagen will, dass die von der Stasi und die von der Volksarmee Mörder sind ... oh Manne. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte" und nach einer Pause: "Dann wurde ich in so ein Auto gesteckt wie das, das uns hergebracht hat und kam nach Halle. Aber das wusste ich nicht. Als ich in Halle war, wurde ich am zweiten Tag in einen Raum gebracht, da stand ein Stuhl drin und ich musste mich draufsetzen und einer von der Stasi sagte: So jetzt werden sie erschossen ... und ich habe gedacht, jetzt erschießen sie mich ... und ich habe solche Angst gehabt. Ohh Manne ..."
Ich wusste sofort, was er meinte. Im 'Roten Ochsen', das war der Name der Stasi U-Haft in Halle, gab es im Keller einen Raum, in dem die Häftlinge fotografiert wurden. Diese 'Verbrecherfotos', die jeder schon einmal gesehen hat. Man setzte sich auf den Stuhl und wenn die Aufnahmen im Profil gemacht werden sollten, betätigte der Fotograf, ein Stasimann in Uniform, einen Hebel und über eine lautstarke Mechanik drehte sich der gesamte Stuhl geräuschvoll um 90°.
"Und dann zog er an einem Hebel und ich bekam so einen Schreck. Ich dachte, dass sie jetzt schießen, ich habe in die Hose gemacht ... oh Manne ... und die von der Stasi lachten wie verrückt." Er begann zu weinen. Ich ging zu ihm hin und legte meinen Arm um seine Schultern. Eine unbändige Wut war in mir. Und ich sagte nur immer wieder: "Diese Schweine, diese Schweine".

Nachdem wir das Frühstück am nächsten Morgen beendet hatten, fragte ich ihn: "Willst du dir immer noch das Leben nehmen?"
"Nein", sagte er. "Ich will nur arbeiten ... ich kann nicht ohne arbeiten".
Er wird wohl bald wieder arbeiten, dachte ich, sie werden ihn sicher bald rauslassen, zumal er ja offensichtlich hier war, um von einem Psychiater beurteilt zu werden. Und ich sagte zu ihm: "Frank, so schlimm das alles war, du kommst sicher bald hier raus und dann wird alles wieder gut. Dann kannst du arbeiten, bis du umfällst" und dann grinste ich ihn an. Er sah mich ungläubig an und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll: "Meinst du wirklich?"
Und ich sagte: "Ja!"
Die Tür wurde geöffnet und man forderte mich auf mitzukommen. Ich warf ihm noch ein Lächeln zu, als ich mich in der Tür umdrehte.
Ich wurde abermals zu einem Arzt gebracht, der mir eine Packung mit den braunen Kapseln zeigte, die ich abgelehnt hatte einzunehmen. Es war Tetrazyklin, ein Antibiotikum. Er erklärte mir, dass es wichtig sei, dass ich sie nehme. Dann eröffnete er mir, dass ich operiert werden sollte. Der Knoten am Hals würde entfernt werden. Ich war einverstanden. Als ich am Nachmittag wieder auf die Zelle gebracht wurde, war ich allein. Das Bett von Frank war sauber gemacht und nichts deutete daraufhin, dass er zurückkommen würde oder jemals hier war.
Am nächsten Morgen wurde ein neuer Häftling in die Zelle gebracht. Er war jünger als ich, gerade mal 20 Jahre alt. Er war ganz anders. Wir lachten viel und die Zeit verging sehr schnell. Fast zu schnell, ich hatte die Befürchtung, dass ich den Flavius Josephus nicht schaffen würde, zumal am Tag nach der Operation mein Vernehmer aus dem "Roten Ochsen" auftauchte und ich wieder jeden Tag vernommen wurde. Zwei Wochen später wurde ich nach Halle zurückgebracht. Offensichtlich war die Stasi jetzt dabei, den Prozess vorzubereiten. Ich sah zum ersten Mal meinen Rechtsanwalt. Die zwei fehlenden Bände der Josephus Trilogie konnte ich zum Glück in Halle auch bekommen und lesen. Das Essen bestand wieder abwechselnd aus einer halben Scheibe Leberwurst und einer halben Scheibe Jagdwurst, gewürfelt.

Nach dem Prozess und der Verurteilung wurde ich in die Justizvollzugsanstalt Cottbus verlegt. Wir mussten in einem Drei Schichtsystem arbeiten. Als Schlosser, der im Werkzeugmaschinenbau beschäftigt war, arbeitet ich in einer Werkstatt.
Ich war seit etwa einem Jahr in Cottbus. Es war ein warmer Sommermorgen und das 'Kommando', in dem ich arbeitete, hatte Frühschicht.
Manchmal begegnete die Frühschicht, wenn sie am Morgen zum Frühstück in den Speisesaal geführt wurde, der Nachtschicht, die gerade mit dem Frühstück fertig war. So war es an diesem Morgen. Während sich die Frühschicht in den Speisesaal drängelte, drängelte sich die Nachtschicht hinaus. Plötzlich war in dem Durcheinander ein Gesicht vor mir. Es strahlte mich an und ich erkannte es sofort.
"Frank?", sagte ich ungläubig. Er grinste nur.
"Wieso bist du hier? Haben sie dich denn nicht freigelassen?", fragte ich überrascht.
"Ich habe drei Jahre bekommen, wegen Republikflucht" antwortete er, immer noch grinsend.
"Wie geht es dir?", ich fragte, obwohl ich sehen konnte, wie es ihm ging.
"Mir geht es gut, ich kann arbeiten. Das ist das Wichtigste."
Der Strom der Häftlinge riss uns auseinander.
"Alles Gute", rief ich ihm nach, während er ins Freie gespült wurde.
 
willkommen in der leselupe, mumpf lunse

du kannst erzählen - und das glaubwürdig und so, dass ich gar nicht schnell genug lesen konnte, so spannend war es.
von mir für diesen gelungenen text eine 8 - ein gutes erstlingswerk. es hat freude gemacht, es zu lesen.
ich als leser glaube dir, was du schilderst. nicht nur, weil du bilder erzeugen kannst und ich mir vorstellen kann vor meinem inneren auge, was geschieht, sondern auch, weil sich die begegebenheiten nicht als erfunden lesen.
mein vater war vier jahre politischer häftling im osten und auch er hat seine geschichte aufgeschrieben. ich finde übereinstimmungen.
einen tip noch: ordne die dialoge untereinander an, es erleichtert das lesen und verstehen.
lass mich mehr lesen!
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Re: willkommen in der leselupe, mumpf lunse

Es ist meine erste Geschichte, die Erste die ich aufgeschrieben habe. Deine Worte machem mir Mut weiter zu
schreiben. Die Dialoge untereinander...ich werde es ausprobieren. Danke fürs lesen und kommentieren.
 
L

Larissa

Gast
Hallo Mumpf Lunse,

deine Geschichte hat mich sehr betroffen gemacht.
Viel zu schnell ist man bereit, zu vergessen, wie grausam das Regime der DDR gewütet hat und alles im verklärenden Licht, das jede Vergangenheit wirft, zu sehen. Gut, dass es Autoren wie dich gibt, die uns den Schrecken so plastisch vor Augen führen und mit ihren Werken Mahnmale schaffen. Danke für deine eindrucksvolle Erzählung!

Liebe Grüße
Larissa
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo Larrisa,

vielen Dank für diese Ermunterung. Ich war nicht sicher ob es mir gelingt"die Botschaft" rüber zu bringen.

Liebe Grüße
Mumfp Lunse
 
B

Betty Blue

Gast
Gelungener Einstieg

Hallo

Zunächst einmal ....Herzlich willkommen in der Lelu.

Deine Story gefällt mir, sowohl vom Stil, wie auch vom Thema.

Du hast diese Geschichte mit sehr viel Feingefühl geschrieben, ohne dabei kitschig zu wirken.

Eine Fortsetzung wäre toll...:)

Viele Grüße von

Betty Blue
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Mumpf,

Dein Text gibt die Situation in den achtziger Jahren in einem Teilbereich der DDR realistisch wieder, der sowas wie ein „konzentriertes Abbild“, eine „Brennpunktspiegelung“ staatlicher Mißverhältnisse war.
Er gibt die Situation wieder, soweit, ja, soweit sie mit Worten überhaupt wiederzugeben ist. Insofern ein hervorragender Text. (Von formalen Dingen wie Anordnung der Redeteile, Zeichensetzung etc. einmal abgesehen, da kann man sicher noch ein bißchen bessern. Ist marginal...)

Das Problem für mich ist: Inwieweit kann der Leser, der solche Situationen nicht selbst erlebte, der nur davon las, hörte, erzählt bekam, vielleicht ein paar Filme oder Berichte sah, inwieweit also kann ein solcher „heutig-Unbetroffener“ sich in die Geschichte wirklich eindenken und –fühlen bzw. aus den Worten die tatsächlichen Sachverhalte herauslesen?

Du schilderst die Begegnung mit Frank auf teilweise recht humoristische Art. Menschenverachtende Gemeinheiten werden nicht ausgelassen, passieren euch beiden, scheinen jedoch bei Deinem Mithäftling sehr viel extremer zu wirken. Sicher waren Witz und Humor in allen Spielarten, bis hin zum Galgenhumor, Teilreaktionsweisen der Betroffenen. Neben der tiefen Verzweiflung bis hin zur abgrundtiefen Existenzangst, oft sehr unabhängig vom sozialen Stand, der Bildung, der Familiensituation...
Könnte der erwähnte Leser nicht ein falsches Bild von der insgesamt äußerst brutalen Verfahrensweise der DDR-„Organe“ bekommen, wenn er, ohne „Insiderwissen“, einen solchen Text liest?

Ich bin mir – das ist allerdings und ganz ausdrücklich meine private Meinung – noch immer nicht sicher, ob man über die Geschehnisse in den Achtzigern auf eine Art schreiben kann, die allen Betroffenen gerecht wird und die den Nichtbetroffenen ein nachvollziehbares Bild vermittelt, und ob man das je wird können...

Ich hoffe, ich täusche mich.

Liebe Grüße

Pen.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Re: Gelungener Einstieg

Ursprünglich veröffentlicht von Betty Blue
Hallo

Zunächst einmal ....Herzlich willkommen in der Lelu.

Deine Story gefällt mir, sowohl vom Stil, wie auch vom Thema.

Du hast diese Geschichte mit sehr viel Feingefühl geschrieben, ohne dabei kitschig zu wirken.

Eine Fortsetzung wäre toll...:)

Viele Grüße von

Betty Blue

Hallo Betty,

ich bin dran :))

Danke
Gunter
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von Penelopeia
Hallo Mumpf,

hervorragender Text. (Von formalen Dingen wie Anordnung der Redeteile, Zeichensetzung etc. einmal abgesehen, da kann man sicher noch ein bißchen bessern. Ist marginal...)

Hallo Pen,

etwas genauer, das würde mir sehr helfen.

Vielen Dank

Gunter





 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Mumpf,

zum ersten Teil meiner Anmerkungen habe ich mal einen kleineren Textabschnitt herauskopiert, Du schreibst:

Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand. "Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein" "Musik?", fragte er "Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und manchmal auch Flöte und Mandoline. Aber...

Sicher erkennt man hier schnell, wo in Sachen Zeichensetzung ein bißchen geschludert wurde...

Wie gesagt, das sind für mich nebensächliche Kleinigkeiten. Interessanter wäre für mich nun eine Antwort Deinerseits zur Möglichkeit/ Unmöglichkeit der Beschreibung dieser Ereignisse für die "heutig-Unbeteiligten".

Liebe Grüße

Pen.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
mumpf: Du hast ein scharfes Auge. Vielen Dank!!

Wie gesagt, das sind für mich nebensächliche Kleinigkeiten. Interessanter wäre für mich nun eine Antwort Deinerseits zur Möglichkeit/ Unmöglichkeit der Beschreibung dieser Ereignisse für die "heutig-Unbeteiligten".

mumpf: Das habe ich mir verkniffen.:))

Vielleicht nur soviel: Wenn man über die "Achtziger" nicht schreiben kann, was ist dann mit den "Vierzigern"?
Die Konsequenz ist: Klappe halten!
"Goodbye Lenin" bestimmt dann die Sichtweise.
Ich erhebe keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit.
Ich erzähle nur eine Geschichte.

Liebe Grüße

Gunter.
 

Rainer

Mitglied
hallo mumpf,

also ich kann penelopeia nicht beipflichten.
was mich an deiner geschichte begeistert hat, war eben dieses nicht offensichtliche, sondern unterschwellige herangehen.
betroffenheitsprosa bewirkt nur bei absoluten meistern was sie soll, bei allen anderen verkehrt sie sich ins gegenteil.
dieses nebenbei-erzählen, der banale ton, das abgleiten ins groteske an nebenschauplätzen ist es meiner meinung nach, was den leser fesselt und zum nachdenken anregt.

ich finde deinen text sehr wertvoll, bitte schreib uns noch mehr solch aufrührender geschichten im plauderton. dann verliert sich das "goodby lenin"-bauchgefühl beim interessierten leser zum glück wieder sehr schnell.

viele grüße

rainer
 
noch mal meinen senf dazu geb...

nein, ich denke, man kann keinen - aber auch gar keinen text schreiben, der allen lesern gerecht wird. und ich finde, dies auch nicht unbedingt ein erstrebenswertes ziel und erinnert mich ein wenig an den spruch: everybodys darling ist irgendwann nur noch everybodys depp.

es ist genauso wie mit dem bildermalen bzw. -ansehen. wer eine affinität dazu hat, dem sagen sie etwas, alle anderen sehen nichts. wer sich für die tatsachenberichte interessiert kann auch solche zu rate ziehen - dokumentationsmaterial gibt es genug.

eine geschichte aber lebt von bildern, von dem, was ich als leser sehen und nachempfinden kann. und dies kann ich, wenn mir der autor bilder malt. er kann mich - im besten falle - in bereiche führen, die ich nicht kenne und trotzdem mir so plastisch vorstellen kann, als erlebte ich sie gerade. davon lebt und an dem mangel daran stirbt ein guter text.

und das gunter - ich wiederhole mich - ist dir bestens gelungen.

meint
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Allen Lesern gerecht werden...

Hallo Freifrau, Rainer und Mumpf,

ich freue mich, daß mein kleiner Einwand (der vor allem als Frage eines Unsicheren verstanden sein will) eine Reaktion bzw. ein Nachdenken ausgelöst hat über die Möglichkeiten und den Sinn der Darstellung/Beschreibung von Erlebnissen, die in der Regel als Trauma bei den Betroffenen lebenslang wirken. Was kann und was darf Kunst in diesen Bereichen? Wem hilft sie und wem schadet sie? Ist sie wirklich in der Lage, Vergangenheit zu "bewältigen" oder sollte solches nicht anderen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation vorbehalten bleiben...?

Wie gesagt, das sind nur Fragen, die ich mir stelle und die aus meiner Unsicherheit gegenüber den Möglichkeiten und Rechten von Kunst und Literatur resultieren...

Liebe Freifrau von Löwe: Ich schrieb nicht von Geschichten, die es "allen Lesern" recht machen, sondern "allen Betroffenen"...

Ich will ein wenig konkreter werden: Ein Bekannter, in jungen Jahren in Kriegsgefangenschaft geraten, konnte über bestimmte Erlebnisse nur ansatzweise erzählen. Kam er in seinen Erzählungen an den Beginn solch nie verdauter Dinge, brach seine Stimme weg, er winkte meist müde ab - was wohl bedeuten sollte, es könne ihn eh keiner verstehen. Ich machte mal den Vorschlag, er solle aufschreiben, was er erlebte - es war kein guter Vorschlag...

Liebe Grüße

Pen.
 

Buffy

Mitglied
Nur eine Geschichte

So und nicht anders habe ich deine Geschichte gelesen.
Das sie mich bis zum Schluß gefesselt hat, zeigt, dass Dein Erzählstil ausgezeichnet ist.
Gruß Buffy
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Re: Nur eine Geschichte

liebe rainer, liebe freifrau, liebe penelopeia, liebe buffy,

über das allgemeine lob für meine art zu erzählen
freue ich mich natürlich. das motiviert mich sehr.
die disskusion um den inhalt meiner geschichte,
eigentlich nicht mal darum, sondern um die berechtigung
des erzählens befremdet mich.
ich glaube das eine solche diskussion "künstlich" ist.
um es klar zu sagen: theoretische überlegungen dieser
art halte ich für - an den haaren herbeigezogen -.
reine polemik.

liebe grüsse

mumpf
 
M

mirami

Gast
Hallo Mumpf Lunse,

in deine Erzählung konnte ich als Leser richtig eintauchen. Es ist dir bis zur letzten Zeile gelungen die Spannung aufrecht zu erhalten. Kompliment auch für deinen natürlichen Erzählstil!

Lieben Gruß
mirami
 

Inu

Mitglied
Hallo Mumpf Lunse

Ich kann mich nur den anderen anschließen. Auch mich hat Deine Geschichte sehr gefesselt und sie ist von der Sprache, der Ausdrucksweise blendend geschrieben. Nur... warum schmiert der Frank sich ständig Zahnpasta auf die Lippen? Das erscheint mir irgendwie zu verrückt, irrer als der seltsame und geistig etwas schwerfällige Mensch sich in seinem übrigen Benehmen darstellt. Ich seh da irgendwie eine Diskrepanz.

Liebe Grüße
Inu
 

Mumpf Lunse

Mitglied
liebe mirami,
lieb inu,

vielen dank für eure ermunterung.
spannung zu halten ist wohl immer das schwierigste.
ich werde in den nächsten tage eine weitere
geschichte zu diesem thema in die lupe stellen
und bin schon sehr gespannt ob ich mir die guten
kritiken erhalten kann.

die zahnpasta braucht der raucher um seine sucht
zu überdecken - in dem fall jedenfalls.

liebe grüße
gunter
 
M

Melusine

Gast
Hallo Gunter,

großartig! Ich konnte nicht aufhören zu lesen, die Geschichte hat mich total reingezogen. Ich glaube fast, das ist das Beste was ich hier in der Leselupe bisher gelesen habe.

Da ist natürlich ein sehr subjektiver Eindruck und das Thema interessiert mich halt. Die Knastsituation wird so lebendig, man kann sich geradezu vorstellen selbst im Knast zu sein. Besonders gut hat mir gefallen, wie du Frank darstellst - und den halb behutsamen, halb ungeduldigen Umgang des Protagonisten mit ihm.

Dass der Protagonist (der, wie mir aufgefallen ist, deinen Namen trägt) seine Lage mit solcher Selbstverständlichkeit hinnimmt, einfach als Normalität, und sich darüber wundert was Frank alles nicht am System versteht, fand ich auch sehr eindrucksvoll. Nichts hat mir je deutlicher vor Augen geführt, wie das Leben in der DDR ausgesehen haben muss.

Dass dies die erste Geschichte ist, die du niedergeschrieben hast, kann ich kaum glauben! Ich selbst habe hunderte Anläufe gebraucht, um irgendwann mal was halbwegs ordentlich hinzukriegen. (*neidischbin*)

Der Kommentar ist übrigens spontan, ich habe die Geschichte nur einmal und zwar gerade eben gelesen. Also ein erster Leseeindruck. Sie hat mir zu gut gefallen, um sie jetzt gleich noch einmal zu lesen und mehr auf Details zu achten.

Liebe Grüße, Mel
 



 
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