Geheimzahl

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Raniero

Textablader
Geheimzahl

„Was machen Sie denn da, verdammt noch mal? Das ist doch wohl die Höhe!!“ empörte sich Ronald Wiesenhof, ein rüstig gebliebener Ruheständler.
In der Außenstelle seiner Hausbank hatte er sich soeben die aktuellen technischen Service-Neuerungen wie elektronische Überweisungen, Konteneinsicht etc. von Herrn Rautetal, dem neuen, netten Filialleiter, ausgiebig erklären lassen,
Nun wollte er diese Neuerungen noch einmal selbst am Automaten testen, um sicher zugehen, für das nächste Mal.
Ein junger Mitarbeiter der Bank hielt sich in diskretem Abstand bereit, wie dies alle Mitarbeiter von Banken zu tun pflegen, für den Fall, dass ihre Hilfe benötigt werde.
In gleichen Augenblick jedoch, als Ronald seine Scheckkarte in den Automaten steckte und im Begriff war, seine persönliche Geheimzahl einzugeben, geschah etwas sehr merkwürdiges. Statt diskret zur Seite zu blicken, wie das in einem solchen Fall selbst an Kassen von Supermärkten üblich ist, näherte sich der Mitarbeiter der Bank Ronald auf unangenehme Weise und blickte ihm über die Schulter, direkt auf die Zahlentastatur.
So etwas hatte Ronald Wiesenhof noch nicht erlebt, seit er von seiner Geheimzahl Gebrauch machte, und nach ein paar Sekunden der Verblüffung machte er seiner Empörung lautstark Luft.
„Treten Sie sofort zurück, Sie ungehobelter Mensch“, herrschte er den Bankangestellten an, „Sie können ja meine Geheimzahl sehen. Ist das üblich, bei Ihnen, dass Sie die Geheimzahlen Ihrer Kunden auf diese Weise erspähen, wie ein Taschendieb?“
„Üblich noch nicht, aber es könnte durchaus üblich werden“, antwortete der junge Mann trocken.
Ronald wischte sich den Schweiß von der Stirn. Befand er sich wirklich in der Filiale seiner Hausbank, der Bank, welcher er seit über dreißig Jahren die Treue hielt, oder war er heute versehentlich im Tollhaus gelandet? Dabei hatte dieser Tag doch so gut angefangen.
„Holen Sie mir mal ihren Chef, junger Mann!“ brüllte Ronald entnervt.
Das brauchte der junge Mann nicht mehr, denn aufgeschreckt durch das laute Geschrei eilte der Filialleiter mit schnellen Schritten herbei.
„Gibt's ein Problem?“
„Ein Problem?“ zischte Ronald Wiesenhof, „das kein Problem, das ist eine Katastrophe!“
„Aber, aber, Herr Wiesenhof, wer wird denn gleich in die Luft gehen?“
„Das ist zum in die Luftgehen, Herr Rautetal, oder was würden Sie machen, wenn Ihre Leute“, wies er auf den jungen Angestellten, „einem schamlos in die Karten, ich meine, in die persönliche Geheimzahl guckt.“
„Ach, das meinen Sie“ antwortete der Filialleiter trocken, „das ist doch nicht tragisch, im Gegenteil, das wird bald Pflicht.“
„Wie bitte?!“
Nun war sich Ronald tatsächlich nicht mehr sicher, ob er sich in seiner Hausbank befand. Vorsichtig trat er ein paar Schritte zurück, wie ein Räuber auf der Flucht.
„Aber Herr Wiesenhof, warum wollen Sie denn davon laufen? Ich schlage vor, wir suchen mein Büro auf und erörtern dort einvernehmlich Ihr Problem. Sie werden sehen, es wird sich im Nu in Luft auflösen.“
„Meinen Sie?“
Langsam trottete Ronald dem Filialleiter hinterher, überzeugt davon, dass sich sein Problem garantiert nicht in Luft auflösen würde.
Nein, heute war nicht sein Tag. Wäre er doch gar nicht erst aufgestanden.
„Nehmen Sie doch erst einmal Platz, lieber Herr Wiesenhof“, forderte Herr Rautetal seinen Kunden auf, „Sie sind ja ganz blass. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“
Ronald winkte ab. Das fehlte auch noch. Solange er diese Bank betrat, hatte er noch nie Wasser gebraucht, und damit wollte er erst gar nicht anfangen.
„Ja, Herr Wiesenhof, wie ich sehe, hat Sie das ganze doch ein wenig mitgenommen, ich glaube, da bin ich Ihnen da eine Erklärung schuldig.“
„Ich bitte darum.“
„Nun, lieber Herr Wiesenhof, zuerst einmal möchte ich Ihnen noch einmal, vor allem auch im Namen der Geschäftsleitung, für Ihr Vertrauen danken, das Sie unserem Haus schon so lange schenken. Glauben Sie mir, das ist nicht überall üblich so, vor allem in der heutigen Zeit.“
Ronald Wiesenhof kratzte sich nervös am Kopf.
'Was faselst du denn da für ein Gesülze', dachte er, komm endlich zur Sache.'
Der Filialleiter aber schien von Ronalds Ungeduld nichts zu merken und setzte ungerührt seine Lobesarie auf seinen treuen Kunden fort.
Allmählich wurde es Ronald zu bunt
„Könnten wir langsam zur Sache kommen? Sie wollten mir erklären, warum die Bekanntgabe meiner Geheimnummer, wie sagten Sie so schön, bald Pflicht wird.“
„Ach so, ja, Entschuldigung. Die Sache ist die. Wir handeln, und das muss ich betonen, als erstes Bankinstitut nach einer einfachen, aber genialen Methode. Wissen Sie eigentlich, dass die Genialität stets in der Einfachheit liegt, niemals im Komplizierten?“
„Herr Rautetal, ich bitte Sie, wir wollten doch zur Sache kommen“, unterbrach Ronald ihn entnervt
.„Entschuldigung . Also, die Sache ist die: Wir verfolgen bei unserer neuen Strategie, und darunter fällt auch die Geheimzahl unserer Kunden, die Geheimzahl, das Vielaugenprinzip.“
„Wie bitte? Ich verstehe nicht...“
„Nun ganz einfach. Nehmen wir Ihren Fall. Sie waren vorhin ein wenig verärgert, dass mein Kollege Sie beim Eingeben Ihrer Zahl mehr in Augenschein genommen hat , als Ihnen lieb war, aber das geschah nur zu Ihrem Besten. Das war einfach die pragmatische Umsetzung unseres Vielaugenprinzips. Sie müssen wissen, je mehr Augen Kenntnis von Ihrer Geheimzahl haben, umso besser für Sie.“
„Ja, wieso das denn?“
„Ganz einfach. Je mehr Augen davon Kenntnis haben, umso mehr sind schließlich in der Lage, Ihnen im Bedarfsfall zu helfen.“
„Im Bedarfsfall?“
„Ja, falls Sie die einmal vergessen haben, oder aus einem anderen Grund verhindert sind, sie zu nennen. In diesem Fall stehen gleich mehrere Personen bereit, Ihnen beiseite zu stehen.“
„Mir beiseite stehen? Mit meiner Geheimzahl? Mehrere Personen? Ich werd' gleich verrückt!“
„Ja, Herr Wiesenhof, können Sie denn ausschließen, dass ein solcher Fall einmal eintreten kann. Wir sind doch alle nur Menschen. Überlegen Sie doch nur, Sie stehen hier bei uns vor dem Bankomat und haben aus irgendeinem Grund Ihre Geheimzahl nicht parat, das wäre doch peinlich, und umständlich. Sie müssten vielleicht unser Haus verlassen, nach Hause eilen, um sie da zu suchen, und stellen Sie sich vor, da finden Sie die nicht mehr, Ihre Geheimzahl! Das wäre im höchsten Maße ärgerlich. Davor wollen wir Sie doch nur bewahren.“
Ronald Wiesenhof kratzte sich erneut am Kopf. Er war nachdenklich geworden
.„Sie meinen… gut, das könnte passieren, in der Tat. Sie sind wirklich der Meinung, dass, je mehr Personen meine Geheimzahl wüssten...“
„Umso leichter könnte Ihnen geholfen werden“, vollendete Rautetal Ronalds Gedankengang, „irgendeiner würde sich schon finden lassen. Es findet sich immer einer.“
„Von diesem Standpunkt habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet, Herr Rautetal. Sie haben Recht, mit Ihrem wie nannten Sie es noch gleich, ach ja, Ihrem Vielaugenprinzip. In der Tat, ja, das leuchtet ein. Sagen Sie mal, sollte ich nicht, um dieses Prinzip so effizient wie möglich zu machen, meine Geheimzahl gleich in die Zeitung setzen?“
„Das lieber Herr Wiesenhof“, lächelte der Filialleiter „halte ich nicht für erforderlich, es genügt schon, wenn wir hier im Hause sie wissen, eventuell noch ein paar Verwandte und Bekannte von uns, um sicher zu gehen.“
Mit einem nie zuvor erlebten Glücksgefühl verließ Ronald Wiesenhof die Bankfiliale. Es gab doch noch vernünftige Menschen, in der heutigen Zeit.
Auf dem Nachhauseweg zog Ronald in Erwägung, dieses Prinzip auch bei seinem Wohnungsschlüssel anzuwenden, allerdings nicht als Vielaugen- sondern als Vielhändeprinzip.
Mit dem Autoschlüssel aber wollte er damit noch etwas warten...
 



 
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