Gemütliches Beisammensein

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arle

Mitglied
Jaaaaa! Er lebt noch! Er lebt noch! Er lebt noch!

Beim zweiten „Er lebt noch!“ klatschen etwa fünfunddreißig kompakte Hintern zurück auf die Stühle, um bei „Jaaaaa!“ wieder in die Höhe gewuchtet zu werden. Immer und immer wieder. So muss das Fegefeuer sein. Holzmichel bis zum Jüngsten Gericht und kein Entrinnen.

Raus hier. Ein kleiner Dicker schneidet mir den Fluchtweg ab, versucht einen verführerischen Augenaufschlag und fragt im breitesten Sächsisch, ob er mich verwöhnen dürfe. Selber Schuld. Wer einen kurzen Rock trägt, muss mit aufdringlichen Sachsen rechnen. Ich lehne dankend aber bestimmt ab und entkomme. Draußen regnet es. Keine Kneipe weit und breit, nicht mal eine Imbissbude. Dafür ein Wald, ein See, aus. Das hat sich der Veranstalter fein ausgedacht.

Also wieder rein. Kein Holzmichel mehr. Es gibt wohl doch einen Gott. Dafür setzt jetzt ein ohrenbetäubendes Getrommel ein, und ich werde Zeuge eines mir bisher unbekannten Rituals. Die Damen, an denen im übrigen ein beträchtlicher Überschuss herrscht, dreschen mit „Kleiner Feigling“ auf die Tische ein. Immer schneller, immer lauter. Dazu kreischen sie. Auf dem Höhepunkt des Geschehens legen sie den Kopf in den Nacken, klemmen die Schnapsfläschchen zwischen die Zähne und leeren sie in einem Zug, um sie alsdann zu formschönen Türmchen aufzuhäufen. Mein Vorsatz, etwas gesellschaftlichen Elan zu zeigen, schmilzt wie Schnee in der Sonne.

Mit meiner Freundin, bis vor wenigen Minuten die einzige Verbündete in diesem Vorhof zur Hölle, ist auch nichts mehr anzufangen. Sie hat einen Polizisten in Frührente aufgetan, dem sie pausenlos bestätigt, wie unglaublich süß er sei. Ich hadere mit meinem Schicksal, meinen Eltern, meinen Genen: Warum ist es MIR nie vergönnt, mich zu betrinken, gerade wenn es so bitter nötig wäre!

Jemand tippt mir auf die rechte Schulter. Ich drehe mich um, aber natürlich steht er links von mir. Ha ha. Der Veranstalter erweist mir die Ehre, mich um den nächsten Tanz zu bitten. Er ist zwei Meter groß, und seine Freunde nennen ihn Handtuch. Eben wegen jenes Handtuchs, das er, aufgrund einer Überfunktion der Schweißdrüsen, Tag und Nacht um die Schultern gelegt hat. Wir quälen uns im Discofox-Schritt durch „Hölle Hölle Hölle“, und ich will mich schon artig bedanken, als er mir noch mal auf die (linke) Schulter tippt. Ich schaue zu ihm hoch, und da passiert es. Er drückt mir einen klatschnassen Kuss mitten auf den Mund. Jetzt wäre es dann auch bei mir an der Zeit für einen „Kleinen Feigling“.

Zutiefst deprimiert lehne ich am Tresen und sehe dem makabren Treiben zu. Mein Kopf dröhnt vom Wummern der Lautsprecher, mein Magen rebelliert, ich will nach hause. Die Leute werfen mir misstrauische Blicke zu. Ja, Ihr habt ja Recht. Ich bin ein Spielverderber, ein Griesgram, ein Partyschreck ohne einen Funken Humor. Und sollte einer von Euch jetzt versuchen, mich in die Polonaise Blankenese zu integrieren, nehme ich den Discjockey als Geisel und laufe Amok. Also Vorsicht, Leute.

Morgen werde ich dem Freund, der genau wusste, was auf mich zukommen würde, und mich trotzdem nicht vorgewarnt hat, nach Strich und Faden die Leviten lesen. Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an, dessen Augen genau so entsetzt flackern wie meine.
 
Hallo arle,


Wenn ich lese, lese ich ja nicht als Leser, sondern als Kritiker und das ist eine bittere Einbuße an Leseleidenschaft und natürlicher Lesenaivität. Dann gibt es aber Texte, egal ob Geschichten oder Beschreibungen, da geht mir zum Glück die Kritikerhaltung verloren, weil mich da etwas sehr an einem Text berührt, und ich lese endlich wieder als „Nurleser“. Und so habe ich deinen Text als Nurleser lesen können. Er hat mich ganz souverän aufgenommen und wenn auch noch zwei-, dreimal der Kritiker in mir wieder aufflammte, schaffte es doch der Text mich ganz als Leser zu gewinnen.

Zunächst ist es deine bewährte Qualität, dass du weglässt. Du beginnst so, als würde man einen Fernseher mitten in einer Sendung zufällig einschalten. Zack! Es wird nicht viel aus überlegener Erzählerperspektive geboten, nichts vom hohen Ross des Allwissenden präsentiert, sondern wir befinden uns inmitten des „Gemütlichen Beisammenseins“. Das Gemütliche ist wie immer im Leben eine einzige Katastrophe. Diese Katastrophe hast du mit viel Ironie und trotzdem ohne billige Parodie sichtbar gemacht.

„Raus hier. Ein kleiner Dicker schneidet mir den Fluchtweg ab, versucht einen verführerischen Augenaufschlag und fragt im breitesten Sächsisch, ob er mich verwöhnen dürfe.“

Hier haben wir einerseits die Innenperspektive, aber zugleich einen Satz, der genauso schlicht wie stimmig ist. Der „kleine Dicke“ passt, der „verführerische Augenaufschlag“ passt, das „verwöhnen-dürfen“ passt.

Die Einordnung des Textes fällt schwer, denn er ist gleichsam nur ein Ausschnitt und der Schluss, der da doch eine Möglichkeit aufscheinen lässt, will fast zu viel ("Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an…"). Es bleibt ein Fragment, ob mit Ausblick oder ohne. Es ist eine exakte Milieuzeichnung und als solche empfinde ich den Text als sehr gelungen und in sich vollkommen stimmig.

Liebe Grüße

Monfou
 
L

Lotte Werther

Gast
An arle

"Er hat mich ganz souverän aufgenommen und wenn auch noch zwei-, dreimal der Kritiker in mir wieder aufflammte, schaffte es doch der Text mich ganz als Leser zu gewinnen."

Ja, arle, Meister Monfou war hier und hat wie immer, souverän Bestandsaufnahme gemacht. Was die zwei, drei Stellen betrifft, die den Kritiker aus der Reserve lockten, so hat er seinen Handlanger Lotte gerufen und gesagt: Bring das mal in Ordnung. So in etwa könnte es doch sein.

Nun im Ernst. Nachdem ich mich im Klartext der Meinung des Meisters anschließe, möchte ich dir die wenigen Stellen zeigen, die dem Text schaden. Ein starker Text sollte es wert sein, ihn genau zu lesen und dann auch daran zu feilen.

und ich werde Zeuge eines mir bis dato unbekannten Rituals. - wenn unbekannt, dann ist doch klar, dass es bis dato ist. "bis dato" streichen.

Die Höhe der Türmchen verhält sich reziprok zur Ausgelassenheit der Damen... - "reziprok" ist zu technisch. Umschreibe es bitte in einer Metapher.

Zutiefst deprimiert lehne ich am Tresen und sehe dem bunten Treiben zu. - der Begriff "buntes Treiben" ist zu süßlich niedlich hier. Er entspricht der Gesinnung der Holzmichel-Gröler, nicht jener der Erzählenden.

Die Leute werfen mir Außenseiterin misstrauische Blicke zu. - Hier solltest du die Außenseiterin wirklich streichen. Es ist längst klar, dass sie Außenseiterin ist, zumindest in der Konstellation jenes Abends.

Morgen werde ich dem Freund, der genau wusste, was auf mich zukommen würde, und mich trotzdem nicht vorgewarnt hat, nach Strich und Faden die Leviten lesen. Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an, dessen Augen genau so entsetzt flackern wie meine.

Da hat es Monfou schon angedeutet, der Schluss ist zu schwach. Ich kann dir auch nichts Besseres raten. Du bist die Autorin. Lass den Absatz ganz weg oder schreib ihn neu.

Lotte Werther
 

Inu

Mitglied
Hallo arle

Ich liebe Deinen Stil. Du verstehst es, alltägliche Ereignisse so zu schildern, dass man sie atemlos mitlebt . Mir ging es wie Monfou. Hab einfach die kleinen Unzulänglichkeiten vor lauter Lesegenuss übersehen.

Das einzige was mir ( im Hinterkof und eigentlich schon halb weggedrückt ) auffiel, war ( wie bei Lotte auch ) die ‚Außenseiterin‘. Nein, ich glaub, das brauchst Du nicht extra zu erwähnen. Und vielleicht noch für das 'bunte' Treiben ein drastischeres, präziseres Wort nehmen.

Und das, was Lotte von dem letzten Abschnitt denkt, hab ich auch so empfunden. Mir würde die Geschichte ohne ihn besser gefallen und ich hab ihn mir gleich weggedacht... andererseits gibt ja der allerletzte Satz ( ich werde einen Menschen ansprechen... usw. ) dem Text eine größere Dimension, Hoffnung einer neu sich-anbahnenden, vielleicht interessanten Beziehung Gleichgesinnter, einen positiven Ausblick also. Eigentlich auch ein guter Schluss. Vielleicht eine reine Geschmacksfrage?

Ich finde aber, passender zum Charakter der Geschichte wäre es, wenn Du den letzten Abschnitt wegließest.


Sonst habe ich absolut nichts zu bemäkeln

Liebe Grüße
Inu
 

arle

Mitglied
An Lotte und Inu

Das ist ja nett, dass sich jemand so intensiv mit meiner kleinen Schilderung befasst. Und das am frühen Morgen, wo unsereins noch blind und mies gelaunt durch die Gegend tapert. Vielen Dank Euch beiden. Monfou habe ich per Mail geantwortet.

Vorweg: Ich bin leider kein Geschichtenerfinder. Ich schreibe ab, was ich erlebt habe. Drum werde ich jetzt auch nicht von "ihr" oder gar "der Protagonistin" reden, sondern einfach nur von Silvia, die in eine Situation geraten ist, mit der sie überhaupt nicht zurecht kam.

Du hast vollkommen Recht, Lotte, "dato" ist ein blödes Wort. Andererseits wollte ich damit ausdrücken, dass (wie mein kluger Papa immer sagt) man auch vom Dümmsten noch was lernen kann. An diesem Abend lernte ich, dass es Rituale gibt, von denen ich Feiermuffel keine Ahnung habe. Ich ersetze jetzt einfach "dato" durch "bisher". Mal schauen, ob es dann runder klingt.

"Reziprok" ist ein genau so blödes Wort. Ein ungeschickter Versuch, ironisch zu sein. Und jetzt zermürbe ich mir den Kopf, um eine Umschreibung für die simple Tatsache zu finden: Je höher die Türmchen, desto lauter das Kreischen. Hilfe!

Schade, dass die "Außenseiterin" nicht ankam. Ich selbst empfand mich ja nicht unbedingt als Außenseiterin. Ich wollte eigentlich nur nach hause. Was aber, mangels Mitfahrgelegenheit, nicht möglich war. Aber die Blicke der Leute waren überdeutlich: Hau ab, du arrogante Kuh! Du gehörst nicht zu uns. Jemand, der sich nicht der Polonaise anschließt, ist nicht würdig, mit uns zu feiern.

Für das "bunte Treiben" fällt mir bestimmt noch was anderes ein. "Sächsischer Frohsinn" vielleicht? Nee, auch blöd. Es ist wahrscheinlich noch zu früh für geniale Formulierungen.

Ja ja, der Schluss. Ja ja, die Schlüsse überhaupt. Auch das ist genau so geschehen. Und aus dem ersten Ansprechen hat sich eine sehr schöne Freundschaft ergeben. Er ist ungeschickt formuliert, das weiß ich. Vielleicht fällt irgendjemandem was Griffigeres ein? Drin lassen würde ich die Wendung schon sehr gerne; denn einfach mit "Vorsicht, Leute" aufzuhören, gefällt mir nicht besonders. Ich lass die Geschichte mal ruhen und warte auf die Eingebung.

In diesem Sinne, Ihr Lieben, bedanke ich mich noch mal recht herzlich und wünsche Euch einen schönen Tag.

Und du, Inu, grüß mir bitte die "alte Heimat". Ich vermisse sie ganz schön.

Silvia
 

Gandl

Mitglied
Hi Silvia,
also: ich an deiner Stelle würde deinem Freund nicht die Leviten lesen!
Hat er es doch glücklicherweise nicht verhindert, dass du in solch eine Situation kamst, die dich letztendlich dazu brachte, diesen wunderbaren Text zu schreiben. Also sei ihm dankbar! Wir, die Leser, sinds schon.
Ansonsten: Monfou und Lotte haben wie immer Recht ... mit allem.
Gruß
Gandl
(das ist der, der in der Ecke sitzt, flackernden Blicks ...)
 

arle

Mitglied
Jaaaaa! Er lebt noch! Er lebt noch! Er lebt noch!

Beim zweiten „Er lebt noch!“ klatschen etwa fünfunddreißig kompakte Hintern zurück auf die Stühle, um bei „Jaaaaa!“ wieder in die Höhe gewuchtet zu werden. Immer und immer wieder. So muss das Fegefeuer sein. Holzmichel bis zum Jüngsten Gericht und kein Entrinnen.

Raus hier. Ein kleiner Dicker schneidet mir den Fluchtweg ab, versucht einen verführerischen Augenaufschlag und fragt im breitesten Sächsisch, ob er mich verwöhnen dürfe. Selber Schuld. Wer einen kurzen Rock trägt, muss mit aufdringlichen Sachsen rechnen. Ich lehne dankend aber bestimmt ab und entkomme. Draußen regnet es. Keine Kneipe weit und breit, nicht mal eine Imbissbude. Dafür ein Wald, ein See, aus. Das hat sich der Veranstalter fein ausgedacht.

Also wieder rein. Kein Holzmichel mehr. Es gibt wohl doch einen Gott. Dafür setzt jetzt ein ohrenbetäubendes Getrommel ein, und ich werde Zeuge eines mir bisher unbekannten Rituals. Die Damen, an denen im übrigen ein beträchtlicher Überschuss herrscht, dreschen mit „Kleiner Feigling“ auf die Tische ein. Immer schneller, immer lauter. Dazu kreischen sie. Auf dem Höhepunkt des Geschehens legen sie den Kopf in den Nacken, klemmen die Schnapsfläschchen zwischen die Zähne und leeren sie in einem Zug, um sie alsdann zu formschönen Türmchen aufzuhäufen. Mein Vorsatz, etwas gesellschaftlichen Elan zu zeigen, schmilzt wie Schnee in der Sonne.

Mit meiner Freundin, bis vor wenigen Minuten die einzige Verbündete in diesem Vorhof zur Hölle, ist auch nichts mehr anzufangen. Sie hat einen Polizisten in Frührente aufgetan, dem sie pausenlos bestätigt, wie unglaublich süß er sei. Ich hadere mit meinem Schicksal, meinen Eltern, meinen Genen: Warum ist es MIR nie vergönnt, mich zu betrinken, gerade wenn es so bitter nötig wäre!

Jemand tippt mir auf die rechte Schulter. Ich drehe mich um, aber natürlich steht er links von mir. Ha ha. Der Veranstalter erweist mir die Ehre, mich um den nächsten Tanz zu bitten. Er ist zwei Meter groß, und seine Freunde nennen ihn Handtuch. Eben wegen jenes Handtuchs, das er, aufgrund einer Überfunktion der Schweißdrüsen, Tag und Nacht um die Schultern gelegt hat. Wir quälen uns im Discofox-Schritt durch „Hölle Hölle Hölle“, und ich will mich schon artig bedanken, als er mir noch mal auf die (linke) Schulter tippt. Ich schaue zu ihm hoch, und da passiert es. Er drückt mir einen klatschnassen Kuss mitten auf den Mund. Jetzt wäre es dann auch bei mir an der Zeit für einen „Kleinen Feigling“.

Zutiefst deprimiert lehne ich am Tresen und sehe dem makabren Treiben zu. Mein Kopf dröhnt vom Wummern der Lautsprecher, mein Magen rebelliert, ich will nach hause. Die Leute werfen mir misstrauische Blicke zu. Ja, Ihr habt ja Recht. Ich bin ein Spielverderber, ein Griesgram, ein Partyschreck ohne einen Funken Humor. Und sollte einer von Euch jetzt versuchen, mich in die Polonaise Blankenese zu integrieren, nehme ich den Discjockey als Geisel und laufe Amok. Also Vorsicht, Leute.

Morgen werde ich dem Freund, der genau wusste, was auf mich zukommen würde, und mich trotzdem nicht vorgewarnt hat, nach Strich und Faden die Leviten lesen. Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an, dessen Augen genau so entsetzt flackern wie meine.
 

arle

Mitglied
Jaaaaa! Er lebt noch! Er lebt noch! Er lebt noch!

Beim zweiten „Er lebt noch!“ klatschen etwa fünfunddreißig kompakte Hintern zurück auf die Stühle, um bei „Jaaaaa!“ wieder in die Höhe gewuchtet zu werden. Immer und immer wieder. So muss das Fegefeuer sein. Holzmichel bis zum Jüngsten Gericht und kein Entrinnen.

Raus hier. Ein kleiner Dicker schneidet mir den Fluchtweg ab, versucht einen verführerischen Augenaufschlag und fragt im breitesten Sächsisch, ob er mich verwöhnen dürfe. Ich lehne dankend aber bestimmt ab und entkomme. Draußen regnet es. Keine Kneipe weit und breit, nicht mal eine Imbissbude. Dafür ein Wald, ein See, aus. Das hat sich der Veranstalter fein ausgedacht.

Also wieder rein. Kein Holzmichel mehr. Es gibt wohl doch einen Gott. Dafür setzt jetzt ein ohrenbetäubendes Getrommel ein, und ich werde Zeuge eines mir bisher unbekannten Rituals. Die Damen, an denen im übrigen ein beträchtlicher Überschuss herrscht, dreschen mit „Kleiner Feigling“ auf die Tische ein. Immer schneller, immer lauter. Dazu kreischen sie. Auf dem Höhepunkt des Geschehens legen sie den Kopf in den Nacken, klemmen die Schnapsfläschchen zwischen die Zähne und leeren sie in einem Zug, um sie alsdann zu formschönen Türmchen aufzuhäufen. Mein Vorsatz, etwas gesellschaftlichen Elan zu zeigen, schmilzt wie Schnee in der Sonne.

Mit meiner Freundin, bis vor wenigen Minuten die einzige Verbündete in diesem Vorhof zur Hölle, ist auch nichts mehr anzufangen. Sie hat einen Polizisten in Frührente aufgetan, dem sie pausenlos bestätigt, wie unglaublich süß er sei. Ich hadere mit meinem Schicksal, meinen Eltern, meinen Genen: Warum ist es MIR nie vergönnt, mich zu betrinken, gerade wenn es so bitter nötig wäre!

Jemand tippt mir auf die rechte Schulter. Ich drehe mich um, aber natürlich steht er links von mir. Ha ha. Der Veranstalter erweist mir die Ehre, mich um den nächsten Tanz zu bitten. Er ist zwei Meter groß, und seine Freunde nennen ihn Handtuch. Eben wegen jenes Handtuchs, das er, aufgrund einer Überfunktion der Schweißdrüsen, Tag und Nacht um die Schultern gelegt hat. Wir quälen uns im Discofox-Schritt durch „Hölle Hölle Hölle“, und ich will mich schon artig bedanken, als er mir noch mal auf die (linke) Schulter tippt. Ich schaue zu ihm hoch, und da passiert es. Er drückt mir einen klatschnassen Kuss mitten auf den Mund. Jetzt wäre es dann auch bei mir an der Zeit für einen „Kleinen Feigling“.

Zutiefst deprimiert lehne ich am Tresen und sehe dem makabren Treiben zu. Mein Kopf dröhnt vom Wummern der Lautsprecher, mein Magen rebelliert, ich will nach hause. Die Leute werfen mir misstrauische Blicke zu. Ja, Ihr habt ja Recht. Ich bin ein Spielverderber, ein Griesgram, ein Partyschreck ohne einen Funken Humor. Und sollte einer von Euch jetzt versuchen, mich in die Polonaise Blankenese zu integrieren, nehme ich den Discjockey als Geisel und laufe Amok. Also Vorsicht, Leute.

Morgen werde ich dem Freund, der genau wusste, was auf mich zukommen würde, und mich trotzdem nicht vorgewarnt hat, nach Strich und Faden die Leviten lesen. Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an, dessen Augen genau so entsetzt flackern wie meine.
 

MarenS

Mitglied
Schon der Beginn! Fein! Er bewirkte ein Verkrampfen bei mir mit unmittelbar darauf folgendem Fluchtwunsch. Himmel! Was eine gut dargestellte Situation.

Das arme Wörtchen reziprok gefällt mir sehr gut. Technisch? Ich könnte mir vorstellen, dass sich jemand in der Situation an solch einem Wort festhält und aufrichtet (ich würde dies tun).
Das Ende mag ich, weil es offen lässt was daraus wird.

Grüße von Maren
 

arle

Mitglied
Na, das freut mich ja, Maren und Balu, was Ihr da noch so alles auf meinem Speicher entdeckt. Vielen Dank für "saugut" und tolle Bewertung.

Ich glaube, es gibt nicht viele Texte, die ich nach vier Jahren noch mal genau so schreiben würde; bei diesem ist es der Fall. Und, ja, Maren - heute hätte ich auch mehr Mut zum Wörtlein reziprok. Genau so ist es: Man hält sich an solchen Wörtern fest. (c; Aber lassen wir die Gemütlichkeit in Frieden hier ruhen und feilen wir nix mehr an ihr rum. Schön, dass sie noch immer gefällt - sogar ich selber musste beim nochmaligen Lesen ein bisschen grinsen... Aber wohl eher beim Gedanken an diesen völlig surrealen Abend. Schon verrückt, wo man so manchmal hinein gerät, oder?

Noch mal die besten Grüße

Silvia
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Danke Balu, dass du diesen Edelstein wieder ans Tageslicht geholt hast.

Sehr gerne gelesen und das gleich 2x.

LG Franka
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Was gut ist, soll auch als gut bezeichnet werden, war und ist mir eine Freude, das Lesen und das ist keine Schmeichelei.

LG Franka
 
T

Thys

Gast
*grins* "Eben wegen jenes Handtuchs, das er, aufgrund einer Überfunktion der Schweißdrüsen"

Hast Du das vor oder nach dem Axe-Spot geschrieben ;)
 

arle

Mitglied
Weiß ich jetzt gar nicht mehr so genau, lieber Thys.

Aber ich nehme stark an, dass die Werbung noch nicht bis in jenes Lokal vorgedrungen war.

Vielen Dank für Kommentar und Bewertung und immer lustig, immer vergnügt!

Silvia
 

HerbertH

Mitglied
Das versteh ich nicht: Werbung muss in dieses Lokal eingedrungen sein, wie sollte man sonst den Schlabberknutsch erklären: Eine scharfe Werbung das :D.

Ansonsten bin ich nach der Lektüre froh,

1. nicht auf dem Land zu leben. Obwohl, "Danz ob de Deel" macht Spass...

2. dass es in absehbarer Zeit keinen Alkohol mehr zum Trinken, sondern nur noch als Medizin, zum Heizen und zum Autofahren geben wird. Wider die Exzesse, jawoll! Pro Prohibition!

Ach liebe Arle, ich kann Dir das ja soo nachvollziehen... Es gibt Lebensmomente, da meinen manche, diese seien nur noch im Suff zu ertragen. Andere denken dagegen, jene (oder diese ;)) seien nur noch im Suff zu ertragen... Das macht dergleichen Feten immer so kuschelig.

Liebe Grüße

Herbert
 

arle

Mitglied
Schön, lieber HerbertH, dass nach all den Jahren die Gemütlichkeit noch immer solche hohen Wogen schlägt...

Vielen Dank fürs Vorbeischauen. Vielen Dank für die gute Note. Und last but not least danke für dein tief(?) empfundenes(?) Mitgefühl(?)

Misstrauischen Blickes:

Silvia

PS: Nieder mit dem Alkohol!
 



 
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