Genesis 2.0 oder Die ganze Wahrheit über das Verschwinden von Billy McEhren

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Binary

Mitglied
„Ich kann so tun, als ob Dinge Bestand haben.

Ich kann so tun, als würden Leben länger andauern als Momente.

Götter kommen und Götter gehen. Sterbliche flackern auf, erstrahlen und vergehen.

Welten bleiben nicht bestehen; Sterne und Galaxien ziehen vorüber; flüchtige Dinge, die aufblitzen wie Glühwürmchen und dann zu kaltem Staub vergehen.

Aber ich kann so tun, als ob.“


(Destruction)



Gelangweilt schlurfte Billy den Gang entlang und rempelte dabei auch seine Managerin Dorothy an. „Kriegt man hier irgendwo was zu trinken?“ erkundigte er sich. „Die vom Catering sind schon abgehauen, aber frag mal die von der Vorband, die müßten noch was haben“, erwiderte sie und eilte in die andere Richtung. Schulterzuckend setzte Billy seinen Weg fort und fand hinter einer Tür die ziemlich angetrunkenen Musiker, die in seinem Vorprogramm gespielt hatten. „Jetzt guckt euch das an!“ lallte der Frontmann und warf lachend seine halbvolle Bierdose in die Ecke des siffigen Backstageraumes. „Mister Superstar gibt sich mit uns ab!“ Ungeachtet dessen sah Billy sich um und entdeckte tatsächlich eine halbe Palette Coladosen auf der Fensterbank. „Kann ich was davon haben?“ fragte er mürrisch in die Runde. „Oh, kann ich was davon haben? Mister Superstar fragt uns um Erlaubnis!“ säuselte der Drummer und äffte Billy wenig gekonnt nach. „Ja oder nein?“ erkundigte sich dieser nun nachdrücklicher. „Pah, dann nimm doch gleich alles!“ gab der Drummer eingeschnappt zurück und wandte beleidigt den Blick ab. „Ja, genau!“ stimmte der Sänger mit dem Ernst eines Volltrunkenen zu. „Nimm alles und verpiß dich! Interessierst dich ja auch sonst nicht für uns!“ „Hat auch seinen Grund“, murmelte Billy genervt, schnappte sich zwei Dosen und verschwand aus dem Raum. Er suchte sich einen halbwegs ruhigen Platz zwischen einigen Boxen und öffnete zischend die erste Dose. Doch die Ruhe währte nicht lange. Dorothy kehrte hektisch in ihr Handy redend zurück. „Der Fahrer wartet!“ erklärte sie knapp, dann wandte sie sich wieder ab und redete weiter mit dem Anrufer. Seufzend stand Billy auf und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

Heute war einfach alles Scheiße gewesen. Die Vorband war Müll, dachte Billy, ich sollte dem Management sagen, dass sie nicht mehr die erstbesten Lokalhelden nehmen sollen. Geht doch immer in die Hose. Sein eigener Gig war ziemlich durchschnittlich verlaufen, fand er, aber das sahen die Fans anders. Sie vergötterten ihr Idol und fanden jedes Konzert am allerallerbesten. Was sie nicht von Ohnmachtsanfällen oder Schlägereien mit den Ordnern abhielt und davon hatte es heute wieder reichlich gegeben. Die Backstageorganisation war das reinste Chaos gewesen und Dorothy, die an sich schon eine verdammt nervtötende Person war, hatte sich heute mal wieder selbst übertroffen. Billy war froh, endlich allein im Hotel zu sein und vor dem ganzen Müll seine Ruhe zu haben. Die ganze Tour war eine total bescheuerte Idee gewesen. Für ein „Best of“-Album hätten es auch ein paar Festivals oder Benefizauftritte für irgendwas getan. Aber nein, es mußte eine Tour sein! Dabei hatte er nur auf das Best of bestanden, um eben nicht auf Tour zu müssen und sich statt dessen ins Studio zu verziehen. In seinem Kopf brüteten zig Ideen, aber er kam einfach nicht dazu, sie vernünftig zu Papier zu bringen. Seufzend ließ Billy sich aufs Bett fallen. Was dachten die sich dabei? Hatte er nicht einen Vertrag mit ihnen unterschrieben, damit sie mit seinen Songs Geld machen konnten? Da wäre es doch wesentlich sinnvoller, ihn welche schreiben zu lassen!

Eine Weile lag Billy einfach nur auf dem Bett und starrte die Decke an. Wollte die Welt da draußen wirklich hören, was er zu sagen hatte? Er war kein Prophet, aber die Fans betrachteten seine Worte als Evangelium. Er hatte sich nie bemüht, sexy zu sein, trotzdem galt er als einer der begehrtesten Junggesellen der Welt. Bei diesem Gedanken grinste Billy gegen seinen Willen. Das war aber auch zu komisch. Da tauchte er vor ein paar Jahren aus dem Nichts auf, ein rebellischer Junge aus der Vorstadt, der nur wenig vorzuweisen hatte. Eigentlich gar nichts, außer einem beachtlichen Jugendstrafregister, ein paar geschmissenen Aushilfsjobs, jeder Menge Wut und Frust und einer durch Diebstähle finanzierten 2000-$-Gitarre. Und da dachte sich ein cleverer Plattenboß: „Das ist das Gesicht des nächsten Jahrhunderts!“, gab ihm einen Vertrag und einen Haufen Kohle, und – zack! – da war er ein Superstar.

Kopfschüttelnd stand Billy auf und ging ins Bad. Etwas unschlüssig betrachtete er die luxuriöse Dusche. Eigentlich müßte ich als Rockstar in die Dusche oder wenigstens ins Waschbecken pissen, dachte er schmunzelnd, entschied sich dann aber doch für die Toilette. Nach getaner Arbeit überlegte er, ob er noch duschen oder direkt vor dem Fernseher einschlafen wollte. Er schloß einen Kompromiß mit sich selbst, warf sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, trocknete es ab und versuchte, ins Hotelzimmer zurück zu gehen. Es blieb allerdings bei dem Versuch. Denn dummerweise fand er das Zimmer nicht hinter der Tür vor. Da war eine irgendwie steril wirkende dunkle Straße, spärlich aber gleichmäßig von Laternen beleuchtet. Verwundert rieb Billy sich die Augen, doch die Straße war noch immer da. Billy rieb noch mal, aber das Ergebnis blieb das gleiche. Ich habe doch zu viel gesoffen, dachte er, ging ins Bad zurück und zog die Tür hinter sich zu. Er atmete tief durch, dann öffnete er die Tür erneut und fand, nun weniger überraschend, noch immer die fremde Straße dort vor. „Okay, okay, nicht mit mir…“ murmelte Billy vor sich hin. Er trat beherzt mitten auf die Straße, warf die Badezimmertür hinter sich zu und breitete die Arme weit aus, als er rief: „Ja, ist okay, hab kapiert!“ Suchend sah er sich um, aber als nichts geschah, versuchte er es noch einmal: „Ich bin Billy McEhren und ich wurde gepunk’d!“ Doch der erwartete MTV-Schelm Ashton Kutcher zeigte sich noch immer nicht. Jetzt wurde es doch etwas unheimlich.

Billy drehte sich um und wollte ins Badezimmer zurückgehen, um herauszufinden, wie zum Teufel die es geschafft hatten, diese riesige Kulisse zu ihm oder wahlweise ihn zu dieser riesigen Kulisse zu transportieren. Von außen sah die Tür aus, als führe sie zu einem Heizungskeller und sie war, wie Billy nur eine Sekunde später bemerkte, verschlossen. Zudem war sie keineswegs Teil einer riesigen Kulisse, sondern gehörte zu einem durch und durch echten grauen Haus, das sich – abgesehen von dieser roten Stahltür – keineswegs von den anderen echten grauen Häusern unterschied, die die Straße säumten. Ratlos trat Billy einen Schritt zurück und sah sich erneut um. Ihm bot sich nur leider nichts neues. Da waren die Häuser, grau und stumm, da war die Straße, die in beide Richtungen gleich aussah und da waren die Laternen mit ihrem fahlen sterilen Licht. Billy ging ein paar Schritte die Straße hinunter, um zu sehen, ob Ashton Kutcher vielleicht doch irgendwo auf der Lauer lag und sich darüber totlachte, dass sein blöder Gag so überzeugend wirkte. Aber keine Spur von ihm. Dafür fiel Billy etwas auf, was er vorher nicht bemerkt hatte. Der dumpfe Hall seiner Schritte, die völlige Windstille… Die minimale Geräuschkulisse war nicht die einer Straße. Es war die einer menschenleeren Halle; die eines geschlossenen Raumes. Also doch eine Kulisse! Vielleicht war dies der Streich eines anderen Witzboldes, der Prominente vor seine versteckte Kamera lockte und er zeigte sich nicht, weil er aufgrund Billys Annahme, Opfer von „Punk’d“ geworden zu sein, beleidigt war. Das mußte es sein! Billy ging weiter, schaute sich neugierig um, doch nichts regte sich hinter den schwarzen Fenstern und er konnte auch nirgendwo eine Kamera ausmachen. Sein Blick wanderte schließlich nach oben und was er sah, bestätigte den Verdacht, sich in einem Fernsehstudio zu befinden. Es gab keinen Nachthimmel, keine Sterne, keinen Mond. Da war in ganz weiter Ferne ein endloses Feld aus grauen Styroporfliesen, wie sie in manchen alten Tonstudios zur Schalldämmung benutzt wurden. Billy lachte sich ins Fäustchen. Er hatte den blöden Witz von Anfang an durchschaut. „Ihr könnt rauskommen!“ rief er und diesmal erhielt er eine Art Antwort. Ein leises mechanisches Surren, dessen Ursprung irgendwo hinter den grauen Häusern zu liegen schien. Zufrieden schlenderte Billy weiter und blieb auf einer T-Kreuzung stehen. Das Geräusch kam eindeutig aus der Straße, die dort abging, doch das, was dieses Geräusch verursachte – ein Kamerawagen, wie Billy annahm -, mußte noch außer Sichtweite sein. Er beschloß, dort zu warten, bis der bemitleidenswerte Scherzkeks sich zeigen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

Eine Weile stand Billy einfach nur da und starrte wartend die Straße hinunter. Das Geräusch wurde mit der Zeit lauter, doch zu sehen war noch immer nichts. Langsam überkamen Billy auch Zweifel am Verursacher des Geräusches. Für einen Kamerawagen klapperte und summte es schon ziemlich laut, soweit er es aus der Entfernung beurteilen konnte. Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Wer auch immer ihn hier verulken wollte, er würde es ihm nicht leicht machen. Entschlossen ging er auf die einmündende Straße zu und erkannte, dass diese offensichtlich einen Hügel hinunter führte. An ihrem sichtbaren Ende verschwanden sie und die grauen ewig gleichen Häuser am Horizont. Und dort bewegte sich auch etwas, wie die dem Objekt entgegen jeder Regel der Physik vorauseilenden Schatten vermuten ließen. Billy ging schneller, bis er endlich sehen konnte, dass es kein Kamerawagen war.

Die merkwürdigen roboterähnlichen Gerätschaften bewegten sich konstant summend mit mittlerer Geschwindigkeit auf ihn zu. Sie füllten fast die ganze Breite der Straße aus und zum ersten Mal wurde Billy bewußt, dass diese keinen Gehweg hatte. Sie hörte einfach direkt an den Häusern auf. Und auch Türen schienen diese nicht zu haben, abgesehen von der roten Stahltür, durch die Billy aus dem Hotelbadezimmer auf diese seltsame Straße gekommen war. An vorderster Front der Maschinen gingen zwei kniehohe Roboter, die aussahen, als habe man an einen sehr futuristischen Motorradhelm zwei hydraulische Beine geschraubt. Die „Köpfe“ bewegten sich monoton drehend von links nach rechts, offensichtlich, um den Blickwinkel ihrer Kameras zu ändern und die Breite der Straße überschauen zu können. Hinter diesen Maschinen bewegte sich etwas langsamer ein riesiger undefinierbarer Haufen aus Metall. Er schien weder ein Vorne noch ein Hinten noch Seiten zu haben; er rotierte und überall ragten seltsame Apparaturen heraus, teilweise an hydraulischen Armen, teilweise einfach aus irgendwelchen Öffnungen.

Nachdem Billy die erste Verwirrung überwunden hatte, rannte er instinktiv in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Was auch immer diese Dinger waren, freundlich gesonnen waren sie ganz sicher nicht. Während Billy rannte, verwarf er auch endlich die Annahme, irgendeine Show versuche, ihn quotenträchtig hereinzulegen. In seiner Panik fiel ihm zu spät auf, dass er von einer T-Kreuzung aus losgegangen war und er diese längst erreicht haben müßte. Dem war aber eben nicht so – die Straße ging geradeaus einfach weiter. Hinter sich hörte er die trotz ihres geringen Tempos immer näherkommenden Maschinen. Blindlings rannte er weiter, stolperte, fing sich und rannte. Vielleicht träume ich, durchfuhr es ihn. Vielleicht habe ich wirklich zu viel gesoffen und bin im Klo einfach umgekippt. Das passiert ständig, redete er sich ein, viele Rockstars sind in Hotelzimmern gestorben. Vielleicht will das Schicksal, dass ich ein Klischee erfülle. Schnell gelebt, jung und einsam gestorben… Während Billy halbherzig darüber nachdachte, ob er bereits tot oder doch nur im Koma sei, realisierte er, dass er auf eine graue Häuserfront zulief. Nach Luft ringend blieb er stehen; nur drei oder vier Meter trennten ihn von der grauen Mauer. Er sah sich suchend nach einem Ausweg um und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, dass er in einer Sackgasse gelandet war. In der Entfernung konnte er bereits die Maschinen sehen, die beständig, mit aller Zeit der Welt, auf ihn zukamen. Es blieben nur die Fenster… Billy stürmte zu einem der Häuser, links von ihm, und schlug mit voller Wucht vor eine der schwarzen Scheiben im Erdgeschoß, doch diese brach nicht. Mit einem lauten Fluch schüttelte Billy die schmerzende Faust. Unmöglich! Das war doch nur Glas! dachte er, doch ein zweiter Schlag mit der anderen Hand belehrte ihn eines Besseren. Es war doch möglich: Die Scheibe brach nicht. Fieberhaft überlegte er, was er jetzt tun konnte. Warten, bis die Maschinen ihn erreicht hätten, schien die einzige Option zu sein. Und er würde kämpfen, wenn es sein mußte. Innerlich machte er sich bereit, so wie damals, auf den Straßen seiner Heimat. Mit dem feinen Unterschied, dass er damals gegen andere Jugendliche gekämpft hatte, nicht gegen riesige Roboter und seltsame kleine Maschinen…

„Hey, hierher!“ riß ihn plötzlich eine Stimme aus der Konzentration. Erschrocken fuhr Billy herum und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass eines der Häuser hinter ihm doch eine Tür hatte. Sie hob sich deutlich von der Umgebung ab, denn sie war nicht grau. Es war eine hölzerne Haustür mit dezenten Schnitzereien, zu der drei flache Stufen führten. Eine gewöhnliche Haustür, wie es sie überall auf der Welt gab. Und sie war einen Spalt breit geöffnet. Billy entschied spontan, dass es besser war, sich auf das Unbekannte hinter der Tür zu stürzen, statt auf die Ankunft der Maschinen zu warten. Er rannte auf das Haus zu, sprang die Stufen hinauf und stürmte durch die Tür ins Innere, dann warf er sie sicherheitshalber zu.

Irgendwie war Billy nicht sonderlich überrascht, als er feststellte, dass das Haus, in dem er sich nun befand, völlig leer war. So leer wie ein gerade fertiggestellter Neubau. Keine Tapeten, keine Teppiche, keine Lampenfassungen, nicht einmal Zimmertüren. Die Fensterscheiben wirkten von innen genauso schwarz wie von außen und auch als Billy näher heranging, konnte er nicht auf die Straße sehen. Aber von irgendwoher kam Licht. Er ging durch eine leere Türöffnung in den Korridor, wo eine Treppe nach oben und eine andere nach unten, vermutlich in den Keller, führte. Und so unlogisch es Billy auch erschien, das Licht kam von unten. „Ist hier jemand?“ rief er. Seine Stimme hatte keinen Hall, obwohl um ihn herum nur große leere Räume waren. Da jedoch keine Antwort kam, atmete er tief durch und ging die Kellertreppe hinab. Was er dort vorfand, war ein schmaler Raum; gerade einmal so breit wie die Treppe selbst, an dessen Ende eine weitere Tür war. Auch diese war aus Holz, allerdings wesentlich schlichter als die Haustür. Eine solche Tür fand man üblicherweise an Schuppen, Garagen, Gartenhäusern oder eben in Kellern. Noch etwas hatte die Kellertür mit der Haustür gemeinsam: Sie stand etwas offen. Und die Lichtquelle befand sich eindeutig hinter ihr. Vorsichtig näherte Billy sich der Tür und zog sie auf. Hinter der Tür befand sich ein typischer Kellergang, eng, weiß gekalkt und von einfachen Wandlampen beleuchtet. Unter einer davon lehnte eine junge Frau in Lederklamotten und musterte Billy mürrisch. Ihr wasserstoffblondes Haar war vermutlich schulterlang, allerdings hatte sie es wie in einem Achtziger-Jahre-Remake zu einem wilden Mob auftoupiert. Eine Fliegerbrille hielt die vorderen Strähnen nur notdürftig im Zaum. „Dachte schon, ich wäre zu spät gekommen“, sagte sie. Billy starrte sie erstmal einfach nur an. Sie nickte in den Gang und wandte sich zum Gehen. „Ist schon okay, du bist vermutlich so verwirrt, wie jeder andere Neuankömmling. Gehen wir und hoffen, du findest die Sprache bald wieder.“ Billy blieb wie angewurzelt stehen. „Wo bin ich?“ brachte er hervor. Überrascht zog die Frau eine Augenbraue hoch. „Woanders“, sagte sie dann schulterzuckend. „Äh…“ machte Billy. Unbeeindruckt zog sie die Kellertür zu und ging tiefer in den Gang. Zögernd folgte Billy ihr. „Und wie bin ich hierher gekommen?“ fragte er. „Ich meine, ich sollte eigentlich in meinem Hotelzimmer sein! Statt dessen bin auf irgendeiner Straße gelandet, die ich noch nie gesehen habe!“ Wieder zog sie nur die Schultern hoch. „Bist du aber nicht. So ein Pech, wie?“ „Moment!“ Billy hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. „Was soll das heißen?“ Jetzt blieb die Frau stehen und lehnte sich wieder an die Wand. Sie griff in die Innentasche ihrer Lederjacke, zog eine Packung Kaugummi heraus und schob sich einen Streifen in den Mund. Dann hielt sie Billy die Packung hin und nickte ihm aufmunternd zu. Dankend schüttelte er den Kopf. „War ein schlechter Einstieg“, erklärte sie. „Ich bin Binary. Und du heißt…?“ Wieder verschlug es Billy die Sprache. „Ich will ja nicht prahlen, aber eigentlich solltest du wissen, wer ich bin!“ erwiderte er etwas beleidigt. „So?“ Binary hob skeptisch eine Augenbraue. „Und woher? Kann mich nicht dran erinnern, dass wir uns schon mal gesehen haben.“ „Ich bin Billy McEhren. War letzten Monat auf dem Cover von der Rock Hard.“ „Hm.“ Binary nickte nachdenklich und steckte die Kaugummis wieder in die Tasche. „Rock Hard, ja? Kenn ich nicht“, sagte sie dann. Genervt verdrehte Billy die Augen. „Lebst du hinter dem Mond oder so? Ich hab mehr Specials auf MTV und VH1 gehabt als Michael Jackson! Jeder Trottel kennt mich!“ „Bin aber kein Trottel“, konterte Binary gelassen. „Und ich lebe nicht hinter dem Mond, sondern woanders.“ „Wo wir schon bei örtlichen Begebenheiten sind“, seufzte Billy. „Wie wäre es, wenn du mir endlich verrätst, wo ich gelandet bin?“ Binary grinste nur. „Woanders“, erwiderte sie schließlich und ging tiefer in den Kellergang. Leise vor sich hin fluchend folgte Billy ihr. Das alles war ein verdammt schlechter Witz, wie er fand.

Eine Weile trottete er schweigend hinter Binary her, dann fragte er: „Wohin gehen wir überhaupt? Sag jetzt nicht ‚woanders hin’, dann kriege ich die Krise!“ „Wir gehen nach Anasazi“, gab Binary gleichgültig zurück. „Was?“ erwiderte Billy wütend. „Nie davon gehört!“ Wieder blieb Binary stehen, denn sie hatte eine geschlossene Kellertür erreicht. „Anasazi liegt hinter dieser Tür. Es ist unsere größte Kolonie, abgesehen von Sumer.“ „Was?“ wiederholte Billy, nun endgültig verwirrt. „Erklär mir doch endlich, was hier los ist!“ „Ist nicht mein Job“, sagte Binary seelenruhig. „Wird dir alles der Hohe Rat erklären.“ Sie öffnete die Tür und Billy gingen die Augen über. Statt dem erwarteten Kellerraum erstreckte sich eine Höhle von unüberschaubarer Größe vor ihm, in der Wagenburgen, Zelte und aus irgendwelchem Gerümpel gebaute Behausungen lagen. Es wimmelte nur so vor Menschen verschiedenster Herkunft, an manchen Stellen brannten Feuer und Wäscheleinen zogen sich quer durch die verwinkelten Schluchten. „Was zur Hölle…?“ begann Billy stammelnd. „Das ist Anasazi“, antwortete Binary trocken und schob ihn durch die Tür, um diese hinter sich zu schließen.

„Wir gehen zuerst zur Registrierungsstelle, dann zum Hohen Rat“, erklärte Binary, als sie die in den schwarzen Fels geschlagenen Treppenstufen, die zum Grund der Höhle führten, hinter sich gelassen hatten. „Registrierungsstelle?“ wiederholte Billy verständnislos, folgte Binary aber dennoch durch die Schluchten zwischen den zusammen gewürfelten Behausungen. „Registrierungsstelle“, bestätigte sie. „Du wirst dort einen Code bekommen, der um ein Zeichen von meinem abweicht. Sie zog im Gehen die Lederjacke aus und hielt Billy ihren Unterarm hin. Darauf war ein langer Code tätowiert, der aus verschiedenen Buchstaben, Zahlen und Symbolen bestand und sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen erstreckte. „Das erste Zeichen, ganz unten, wird weggelassen, statt dessen wird der Code um ein von dir gewähltes Symbol ergänzt. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, damit wir genau zurückverfolgen können, wer wen hierher geführt hat.“ „Und wovor müßt ihr euch schützen?“ fragte Billy, noch immer ziemlich verständnislos. „Vor Infiltration. Wenn wir auffliegen, war alles umsonst und die Kolonien sind dem Untergang geweiht.“ „Aha“, sagte Billy, aber wirklich kapiert hatte er noch nicht, was all das sollte.

Binary machte an einem Häuschen Halt, das aus verschiedenen Brettern und Pappen gezimmert worden war. Es erinnerte ein wenig an eine Zollstation, ein wenig aber auch an die kleinen Hütten, in denen Figuren von Märchenparks auf Knopfdruck ihr kurzes Theater vorführten. Auf Binarys Klopfen an der halbherzig in den Angeln hängenden Tür öffnete ein Mann Mitte fünfzig, der jedem Klischee eines Altrockers gerecht wurde. Wortlos musterte er Billy durch seine Sonnenbrille, dann griff er in ein Bonbonglas, das mit allerlei Schnickschnack gefüllt war und zog eine Handvoll heraus, die er Binary gab. Es waren zwei Murmeln, ein Karamelbonbon und eine winzige Spielzeuglokomotive. Binary nickte, offensichtlich zufrieden, und ließ diese Schätze in ihrer Innentasche verschwinden. Das Geschäft war damit scheinbar abgeschlossen und der Rocker wandte sich Billy mit einem freundlichen Grinsen zu. „Immer rein in die gute Stube, setz dich ruhig!“ Er deutete einladend auf den speckigen Sessel im Inneren des Häuschens. Billy ließ sich widerstandslos von Binary hineinschieben und nahm Platz, Binary selbst blieb wartend in der Tür stehen. Der Rocker zog einen kleinen Hocker heran und hielt Billy die ausgestreckte Hand hin. „Herzlich willkommen in Anasazi erstmal!“ begrüßte er ihn. Zögernd schüttelte Billy die Hand. „Ich bin der verheimlichte Sohn von Pablo Picasso“, erklärte der Rocker, während er sein Tätowierbesteck auf einem Tischchen neben dem Sessel zurechtlegte. „Nenn mich einfach Ernest.“ „Okay…“ sagte Billy irritiert. Was besseres fiel ihm darauf nicht ein. Ernest warf seine Tätowiermaschine an und wank Binary herüber. „Laß mal sehen, was wir da heute haben“, sagte er fröhlich. „Du kannst dir meinen Code noch immer nicht merken?“ gab Binary amüsiert zurück. Ernest sah grinsend zu ihr auf. „Bin ein alter Mann, meine Liebe!“ Dann begann er, die Symbole und Schriftzeichen von ihrem Arm auf Billys zu übertragen.

Während er tätowierte, wirkte Ernest sehr konzentriert hinter seiner Sonnenbrille und Billy überlegte für einen Moment, ihn darauf hinzuweisen, dass er ohne sie vermutlich besser sehen könne. Doch Ernest begann von sich aus eine andere Unterhaltung. „Und, mein Junge? Was bist du?“ „Wie, was bin ich?“ erwiderte Billy etwas ratlos. Ernest tunkte die Nadel wieder in die Farbe. „Na, was machst du so?“ „Hm“, antwortete Billy zögernd. „Ich mache Musik.“ Erfreut sah Ernest auf. „Und, bist du gut darin? Ich meine, hast du Erfolg? Bist du berühmt?“ „Dann kennen sie mich also auch nicht, ja?“ gab Billy zurück. Überrascht unterbrach Ernest seine Arbeit. „Nein, sollte ich denn?“ „Ich bin Billy McEhren. Ich hab neun goldene Schallplatten, fünf Platinplatten und meine Biographie lief letztes Jahr im Kino.“ „Oh!“ Bewundernd musterte Ernest ihn, dann sah er zu Binary herüber, die sich auf einem alten Klappstuhl neben der Tür niedergelassen hatte. „Ein rebellischer Superstar! Das hatten wir lange nicht mehr!“ „Was? Was soll das heißen? Machen sie sich über mich lustig oder so?“ fuhr Billy ihn etwas ruppiger als gewollt an. Ernest schüttelte energisch den Kopf. „Himmel, Junge, ich bin der verschwiegene Sohn von Picasso! Ich bin sicher nicht in der Position, mich über andere lustig zu machen!“ „Hm, okay“, nickte Billy entschuldigend und entschied für sich, es schlicht und ergreifend mit einem bisher harmlosen Irren zu tun zu haben. „So, dann wollen wir mal sehen…“ murmelte dieser in seinen Bart und ließ den Blick prüfend über Billys tätowierte Arme wandern. „Ah, ja, das hier!“ Er deutete auf das Logo von Billys erstem Album, das auf seinem rechten Unterarm prangte. „Das ist ein gutes Symbol!“ Ohne weiter nachzufragen fügte er dem fast fertigen Code auf dem anderen Unterarm eine Miniaturausgabe des Logos hinzu. „Fertig!“ rief er dann stolz und legte die Tätowiermaschine zur Seite. Mißtrauisch beäugte Billy das Kunstwerk. „Und jetzt?“ wandte er sich dann fragend an Binary. „Jetzt gehen wir zum Hohen Rat“, sagte diese.

Der Hohe Rat entpuppte sich als ein älterer Herr, der so aussah, wie man sich als Kind den lieben Gott vorstellt. Er trug eine lange weiße Robe, hatte einen langen weißen Rauschebart und langes weißes Haar. Er sah Billy freundlich aus seinen weisen alten Augen an, die im faltigen Gesicht nur unter den buschigen weißen Augenbrauen zu erahnen waren. Er schritt dabei langsam vor einer Art Thron auf- und ab und stützte sich auf einen lächerlichen Stab, offensichtlich ein Besenstiel, der mit silberner Folie umklebt worden war. „Herzlich willkommen in Anasazi!“ sagte er schließlich und setzte sich auf seinen Thron. Billy blieb mit mißtrauischem Blick vor ihm stehen. „Er ist registriert“, sagte Binary, die neben der Tür des Wohnwagens an der Wand lehnte. Der Hohe Rat nickte abwesend, dann lächelte er Billy zahnlos an. „Ich bin der Zwillingsbruder von Moses“, erklärte er. Sein fast zu freundlicher Tonfall verlieh ihm etwas von einem Heimerzieher, der es tagtäglich mit geistig minderbemittelten Kindern zu tun hatte. „Aber hier nennt man mich Kenny“, fügte er an. „Kenny?“ wiederholte Billy skeptisch wie amüsiert. Der Hohe Rat ging weder auf die eine noch auf die andere Regung ein, und erwiderte freundlich: „Ganz genau. Kenny.“ „Und sie verraten mir endlich, was hier los ist?“ fragte Billy weiter. Der Hohe Rat nickte. „Natürlich, das ist meine Aufgabe.“ „Okay, sehr gut!“ stellte Billy zufrieden fest. „Dann wüßte ich gerne, wo ich bin. Ich meine, Anasazi, schön und gut, aber wie bin ich hier gelandet und warum? Eigentlich sollte die Tür, durch die ich gegangen bin, nämlich in ein Hotelzimmer führen, nicht auf diese komische Straße da oben…“ Der Hohe Rat hörte weise lächelnd zu und wartete, bis Billy eine Pause machte. „Der Ort da oben nennt sich ‚woanders’. Es ist ein Nicht-Ort, weil er zwischen allen tatsächlichen Orten ist. Aber fangen wir lieber am Anfang an…“ Billy wollte gerade Einspruch erheben, nickte aber nun dankbar. „Würde mir deutlich weiterhelfen“, sagte er.

Kenny räusperte sich lautstark, dann begann er: „Die Welt, die du kennst, in der sich das Hotelzimmer und so befindet, hat der Schöpfer erdacht. Es ist allerdings nur eine von vielen Welten, die er erfunden hat. Er hat sich auch dich ausgedacht und dein Leben…“ „Moment!“ unterbrach Billy. „Wer ist dieser ‚Schöpfer’? Ist das euer Gott oder so? Betet ihr ihn an?“ „Oh nein!“ versicherte Kenny kopfschüttelnd. „Wir hassen ihn! Die meisten jedenfalls… Denn wir sind, wie du auch, seine verworfenen oder nicht zu Ende gedachten Ideen! Deshalb bist du hier gelandet! Der Schöpfer hat uns alle auf Eis gelegt, weil er nicht wußte, was er mit uns anfangen soll!“ Er kicherte boshaft in seinen Bart, bevor er fort fuhr: „Aber er weiß nicht, dass wir hier, in seinem Unterbewußtsein, weiter existieren und unser eigenes Schicksal erdenken!“ Verwirrt schüttelte Billy den Kopf. „Angenommen, das, was sie sagen, ist nicht kompletter Bullshit…“ begann er, doch Kenny unterbrach ihn beschwichtigend. „Ich weiß, es ist schwer zu verstehen… Aber du mußt das komplexe System der Existenz an sich verstehen, dann verstehst du auch dein eigenes Dasein.“ „Dann erklären sie es mir!“ Kenny nickte und lächelte weise vor sich hin. Dann fragte er: „Wenn du zu den Sternen geschaut hast, hast du dich dann manchmal gefragt, ob das Universum wirklich unendlich ist?“ Zögernd nickte Billy. „Klar, das hat vermutlich jeder Mensch. Aber was hat das hiermit zu tun?“ „Die Antwort ist: Es ist unendlich. Und es gibt unendlich viele Welten darin, Multiversen. Jede Welt, die irgendwer sich irgendwo ausgedacht hat, existiert darin. Und in diesen erdachten Welten gibt es wieder Personen, die sich Welten ausdenken und so weiter und so weiter. Jeder, egal wo und egal in welchem Multiversum, ist nichts weiter als die Erfindung einer anderen erfundenen Person. Und diese kreative Matrix setzt sich unendlich fort. Aus jedem Multiversum erblühen unendlich viele neue Multiversen und aus denen wieder neue… Es ist ein ewig fortlaufendes, sich selbst erhaltendes und dabei in alle Richtungen ausdehnendes System.“ Billy wollte unterbrechen, doch der Hohe Rat sprach einfach weiter: „Es gibt unzählige wie mich, unzählige wie dich und unzählige Welten wie die deine. Und das Geheimnis, die Antwort auf die große ewige Frage nach dem Sinn des Lebens, ist derart simpel, dass es schon fast weh tut. Es gibt keinen Sinn des Lebens, weil es kein wirkliches Leben gibt. Weil wir alle, und alles was existiert, nicht real ist. Das ist die schmerzliche Wahrheit.“ Billy starrte ihn eine Weile einfach nur an. „Soweit, so gut“, sagte er schließlich. „Und seit wann geht das schon so?“ Kenny schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Diese Frage läßt sich nicht beantworten. Es war schon immer so. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, denn auch die Zeit ist nichts weiter als eine Erfindung des Schöpfers.“ „Und wer ist dieser Schöpfer?“ fragte Billy mißtrauisch. Der Hohe Rat zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Niemand hat ihn je gesehen. Manche hier suchen nach Wegen, sich ihm wieder bewußt zu machen, um in ihr altes Multiversum zurückkehren zu können. Andere wollen den Schöpfer töten, denn wenn er aufhört zu existieren, würden wir aus diesem Zwischendasein seines Unterbewußtseins befreit werden. Wir wären frei, uns unsere eigenen Multiversen zu schaffen und selbst zu Schöpfern zu werden.“ „Aha“, sagte Billy unschlüssig. „Und was davon ist besser?“ „Das muß jeder für sich entscheiden!“ verkündete der Hohe Rat mit wichtiger Miene. „Schließlich sind wir an diesem Ort nicht mehr seiner Vorbestimmung unterworfen und können selbst wählen!“ Er stand von seinem Thron auf und wandte sich zum Gehen. „Das ist alles, was ich dir sagen kann, Rockstar Billy McEhren.“ Er humpelte zu einem Vorhang neben dem Thron und verschwand. Billy sah ihm verwirrt nach, dann wandte er sich zu Binary um, die gelangweilt neben der Tür wartete. „Und jetzt?“ fragte er. „Jetzt zeig ich dir die Stadt“, sagte sie.

Anasazi war noch größer, als Billy auf den ersten Blick vermutet hatte. Von der laut Binary von über 5000 Menschen bewohnten Haupthöhle gingen acht kleinere Höhlen ab, in denen die dicht bevölkerten Außenbezirke lagen. „Was warst du eigentlich?“ erkundigte Billy sich, während Binary ihn durch die Gassen führte. So langsam hatte er sich mit der bizarren Erklärung des Hohen Rates abgefunden, obwohl er noch nicht ganz sicher war, dass dies nicht nur ein verdammt komischer und verdammt realistischer Traum war. „Ich war Superheldin in einem nie zu Ende geschriebenen Drehbuch für einen Fantasyfilm“, gab Binary gleichgültig zurück. „Wow!“ lachte Billy. „So richtig mit Superkräften und so?“ Sie nickte. „Jup. Die habe ich immer noch. Ich bin eine waschechte Technomutantin.“ Billy blieb stehen und musterte sie prüfend. „Komm, jetzt verarscht du mich aber!“ Binary schüttelte den Kopf. „Tu ich nicht. Ich kann Computer geistig beeinflussen. Darum bin ich nicht so sehr wie andere Kollektoren gefährdet, wenn ich woanders hin gehe.“ „Hä?“ erwiderte Billy. „Kollektoren sind die, die Neuankömmlinge woanders auflesen und in die Kolonien bringen. Wir haben alle die Fähigkeit, den Schleier des Vergessens für einen Moment zu durchdringen oder arbeiten mit jemandem, der es kann. Gefährlich ist der Job trotzdem, aber gut bezahlt.“ „Schleier des Vergessens?“ wiederholte Billy fragend. „Die Häuser, die Straße, die Maschinen. Das ist alles eine Fassade. Eine Metapher für den Prozeß des Vergessens“, erklärte sie. „Der Schöpfer stellt sich das Vergessen so vor. Zum Glück für mich, denn vermutlich gibt es Multiversen von Schöpfern, bei denen ich mit meiner Technomutation nichts gegen das Vergessen ausrichten könnte.“ „Okay…“ murmelte Billy nachdenklich. „Und gibt es noch andere mit Superkräften hier?“ Binary grinste breit. „Du ahnst ja nicht, was es hier alles gibt! Komm, ich führ dich ein wenig in den Außenbezirken herum!“ „Klingt gut“, gab Billy zurück, doch Binary wank lachend ab. „Warte, bis du es gesehen hast…“

Sie ging weiter und Billy folgte ihr eilig, um im regen Treiben den Anschluß nicht zu verlieren. Urplötzlich blieb Binary stehen und Billy erkannte fast zu spät, warum sie nicht weiterging. Vor ihnen ging es steil abwärts, denn der Teil der Stadt lag gut zweihundert Meter unterhalb des Zentrums. Aus der kesselförmigen Schlucht ragte ein spitzer schwarzglänzender Felsen auf, dessen Oberfläche wie ein Bienenstock von Höhlenöffnungen überzogen war. „Wow, was ist das denn?“ brachte Billy beeindruckt hervor. Sein Blick wanderte die Wände des Kessels entlang, die ebenfalls zahllose Eingänge aufwiesen. „Dieser Stadtteil heißt Obsidian“, erklärte Binary. „Hier leben die Vampire.“ „Vampire?!“ Ungläubig starrte Billy sie an. Binary nickte stumm. „Und die… beißen Leute?“ fragte er. Binary nickte erneut. „Ja, aber das macht nichts“, sagte sie dann schulterzuckend. „Wir sind vergessen worden, also existieren wir außerhalb der Zeit und haben mit dem Kreislauf von Leben und Sterben nichts mehr am Hut. Wir altern nicht, wir sterben nicht, wir kriegen keine Kinder.“

Billy schrak zurück als eine Fledermaus mit beachtlichem Tempo aus einer der Höhlen auf ihn zuschoß. Doch bevor das Tier mit ihm kollidierte, verpuffte es in einer dichten schwarzen Rauchwolke, aus der eine Sekunde später ein schlampig gekleideter Mann trat. Er trug eine Sonnenbrille, die aus den Siebzigern stammen mußte, ein früher vermutlich einmal weißes Feinrippunterhemd und zerschlissene Jeans. Um die Hüfte hatte er ein kariertes Hemd geknotet, das die gewisse Ähnlichkeit des Mannes mit Kurt Cobain unterstrich. „Hey, lange nicht gesehen“, begrüßte Binary ihn unbeeindruckt und wandte sich dann an den perplex neben ihr stehenden Billy. „Das ist ein Vampir.“ Fassungslos starrte Billy den Mann an, der grinsend seine spitzen Eckzähne entblößte. „Indigo Aurora, wenn es beliebt“, stellte er sich mit einer gekünstelten Verneigung vor. Billy nickte nur und fuhr fort, ihn anzustarren. Indigo wandte sich an die etwas gesprächiger erscheinende Binary. „Was treibst du so?“ „Zeige dem Grünschnabel die Stadt“, seufzte sie. „Hm“, machte Indigo und verzog nachdenklich das Gesicht. „Würdest lieber arbeiten, hab ich Recht?“ Binary nickte. „Job ist Job, gehört halt dazu“, erwiderte sie. „Weißt du was? Geh wieder raus, ich übernehme für dich. Hab eh gerade nix zu tun.“ Binary hob erfreut die Augenbrauen und wandte sich an Billy. „Was dagegen? Er beißt dich wahrscheinlich auch nicht.“ „Ich hab schon gegessen“, erklärte Indigo grinsend. „Außerdem, selbst wenn, was macht das schon?“ Er schlug Billy lachend auf die Schulter. „Ist doch egal!“ „Was dagegen?“ wiederholte Binary ihre Frage. Jetzt schüttelte Billy langsam den Kopf. Auch wenn der Typ ein Vampir sein sollte, erschien er ihm bei näherer Betrachtung ganz sympathisch. Schulterzuckend wandte Binary sich um und verschwand kurz darauf im Getümmel auf dem Platz.

„Weißt du, irgendwie ist es unbefriedigend, Leute zu beißen, die dann nicht sterben“, erklärte Indigo. „Hast du denn irgendeine Wahl?“ fragte Billy zögernd. Der Vampir zog unschlüssig die Schultern hoch. „Keine Ahnung“, gestand er dann fast kleinlaut. Er sah sich in alle Richtungen um, dann flüsterte er verschwörerisch grinsend: „Wenn der Schöpfer erst tot ist, werden auch die tot bleiben, die ich beiße!“ „Dann willst du selbst ein Schöpfer werden?“ folgerte Billy unsicher. Indigo nickte begeistert. „Ja, ganz genau!“ Er musterte Billy prüfend, dann fragte er: „Und du? Willst du in dein Multiversum zurück oder willst du auch den Tod des Schöpfers?“ „Ich weiß nicht“, gab Billy zurück. „Ich hatte noch nicht wirklich die Zeit, darüber nachzudenken.“ „Verstehe, verstehe…“ nickte Indigo. „Dann setzen wir doch einfach die Stadtführung fort und du überlegst, okay?“ „Klar, warum nicht?“ erwiderte Billy schulterzuckend. „Aber muß ich mich denn direkt für was entscheiden?“ „Nein, natürlich nicht!“ antwortete Indigo eilig. „Aber weißt du, wir planen da was und vielleicht willst du ja mitmachen!“ „Ah“, sagte Billy etwas lahm. „Na ja, überlegen kann ich es mir ja.“ Indigo nickte begeistert. Er packte Billy am Arm und zerrte ihn in eine breite Gasse. Etwas überrascht von dieser plötzlichen Eile bemühte Billy sich, ihm zu folgen. „Sag mal, wie kommt es, dass das Vampirviertel so groß ist? Gibt es so viele von euch?“ rief er Indigo zu. „Momentan 1276!“ erwiderte der über die Schulter. „Aber das ist gar kein Vergleich zu den Werwölfen! Der Schöpfer muß ein echter Horrorfreak sein!“

Knapp zwanzig Minuten später blieb Billy atemlos neben Indigo stehen, der sich körperlich offensichtlich überhaupt nicht hatte verausgaben müssen, während er Billy quer durch die Gassen Anasazis geführt hatte. Vor ihnen befand sich nun der Durchgang zu einer weiteren Nebenhöhle, der jedoch von oben bis unten mit Zäunen und Gittern blockiert war. „Was ist das?“ erkundigte Billy sich. „Golgatha!“ verkündete Indigo beinahe stolz. „Das Reich der Lykanthropie!“ „Lykan-was?!“ Fragend sah Billy seinen Stadtführer an, dann wanderte sein Blick wieder zu dem Chaos hinter der Absperrung. „Die Stadt der Werwölfe!“ erklärte Indigo. „Zu ihrer und unserer Sicherheit leben sie unter sich. Jeder von ihnen hat einen eigenen Vollmond, man weiß nie, wann sie sich verwandeln.“ Verwundert musterte Billy die scheinbar ziellos umherirrenden Menschen und auch die vereinzelten Wölfe zwischen den baufälligen Ruinen und verwahrlosten Wohnwagen. „Aber wenn der Schöpfer sie doch erfunden hat, warum unterscheiden sie sich dann?“ fragte er schließlich. „Oh, das hat nichts zu sagen. Der Schöpfer denkt in zigtausend verschiedene Richtungen. Bei uns Vampiren gibt es ja auch alle möglichen Arten. Klassische Vampire, Seelenvampire, moderne Vampire… Manche sind gegen Knoblauch allergisch, manche nicht. So ist das eben.” Indigo wank ein uraltes Mütterchen heran, das mit einem Bauchladen durch die Gasse stakste. Er deutete einladend auf das Angebot und stieß Billy kameradschaftlich in die Rippen. „Ich lade dich ein!“ Skeptisch begutachtete Billy die bunt gemischte Produktpalette. Da lag ein in Papier gewickelter Cheeseburger, daneben befand sich eine komisch gefärbte Frucht, die abgesehen von ihrem hellen Blauton eine Birne zu sein schien, darunter lagen drei verschiedene Schokoriegel. Außerdem gab es eine Scheibe Schinken, eine Dose Thunfisch und einen ganzen Haufen wild gemischter Süßigkeiten. Nach einigem Zögern entschied Billy sich für einen der Schokoriegel. Indigo kramte daraufhin in seiner Hosentasche und zog schließlich ein Donald Duck-Bügelbild heraus, das er dem alten Mütterchen scheinbar zur Bezahlung anbot. Sie nahm das Bügelbild, drehte es in ihren uralten Händen, dann nickte sie und ließ es in einer Manteltasche verschwinden.

Während Billy den Schokoriegel aß, führte Indigo ihn weiter durch die belebten Straßen. „Sag mal, gibt es hier eigentlich eine richtige Währung? Oder irgendein System?“ fragte er ihn nach einer Weile. Indigo schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Wir tauschen, was wir haben. Aber Lebensmittel sind mit das wertvollste hier.“ „Äh, woher kommen die überhaupt? Denkt die auch dieser Schöpfer aus?“ Jetzt nickte der Vampir zufrieden. „Hast es endlich kapiert, ja? Dir ist das sicher auch mal passiert, dass du zum Beispiel Bock auf ein gegrilltes Würstchen hattest, aber kein Würstchen, oder?“ Billy nickte und Indigo erklärte weiter: „Irgendwann hast du das Würstchen dann vergessen, richtig?“ Wieder nickte Billy. „Und so landen hier Lebensmittel! Man ernährt sich von dem, was der Schöpfer vergessen hat zu essen.“ Grinsend fügte er an: „Mann, bin ich froh, dass ich davon nicht abhängig bin!“ Er sah sich kurz um, dann deutete er auf eine breite Straße, die in eine eigene längliche Seitenhöhle führte. „Ah, da wären wir auch schon! Das ist der beste Teil von Anasazi!“ „Wieso, was ist das?“ fragte Billy. Die Straße unterschied sich auf den ersten Blick kein Stück von der, auf der sie sich befanden. „Das ist die Boogie Street!“ verkündete Indigo, packte Billy am Arm und zerrte ihn zu besagter Straße. „Hier leben die Ladies!“ Jetzt, wo der Vampir es sagte, fiel Billy auf, dass hier deutlich mehr Frauen als Männer unterwegs waren und diese Frauen waren ausnahmslos attraktiv und zumeist leicht bis gar nicht bekleidet. „Warum habt ihr die Straße nicht ‚Stairway to Heaven’ genannt?“ brachte Billy fasziniert hervor. „Weil sie nicht zum Himmel führt“, hatte Indigo eine überraschend plausible Begründung parat. „Wohin denn dann?“ fragte Billy, etwas abgelenkt durch die ihn umgebenden Schönheiten. „Nach Narayan“, sagte Indigo. „Willst du es sehen?“ „Eigentlich finde ich es hier ganz nett!“ grinste Billy und sah sich neugierig um. Leicht verächtlich rümpfte Indigo die Nase. „War ja klar. Aber hey, mach dir keine zu großen Hoffnungen!“ „Hm?“ machte Billy statt dessen. „Die lieben alle nur den Schöpfer“, seufzte Indigo. „Er hat sie erfunden.“ Tatsächlich mußte Billy feststellen, dass die hübschen Gesichter alle den gleichen grenzdebilen Ausdruck von Seligkeit aufwiesen. Etwas enttäuscht folgte er Indigo, der sich seinen Weg durch die verklärt lächelnden Frauen bahnte. „Aber ich dachte, alle hier wären vom Schöpfer erfunden worden. Müßten ihn dann nicht alle lieben?“

Indigo blieb stehen, um auf Billy zu warten. Als dieser ihn eingeholt hatte, seufzte er: „Nein. Schließlich wurden wir nicht alle erfunden, um ihn zu lieben. Aber diese Frauen schon. Sie sind die leicht vergänglichen und austauschbaren feuchten Träume, die Männer eben haben. Daher wissen wir übrigens, dass der Schöpfer ein Mann ist.“ „Hm.“ Billy dachte angestrengt nach. „Aber der Hohe Rat sagte doch, dass hier alle frei sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Warum lieben sie den Schöpfer denn dann immer noch? Ich meine, gerade Frauen, die man nach einer Nacht fallen läßt, neigen doch dazu, den Kerl dafür zu hassen.“ „Sie können ihrem Sinn so wenig entkommen, wie ich meinem Vampirdasein entkommen kann. Klar, einige wenige schaffen es, sich über ihre ursprüngliche Existenz zu erheben. Manche lieben ihn auch nicht mehr“, erklärte Indigo. „Aber die leben auch nicht mehr in der Boogie Street.“ Er setzte den Weg wieder fort und Billy folgte ihm eilig. „Und wo sind die hin?“ erkundigte er sich. „Das erkläre ich dir gleich“, erwiderte der Vampir über die Schulter.

Als er wieder Halt machte, gingen Billy die Augen über. Sie standen nämlich vor einem hohen gußeisernen Torbogen, um den sich weiße Rosen rankten und in der Höhle dahinter sah es aus, wie in einer viktorianischen Stadt. Reich verzierte Häuser mit ausladenden Gärten voll exotischer Pflanzen säumten die hell gepflasterten Gehwege. Abgesehen von den schwarzen Wänden der Höhle wies nichts auf die unterirdische Lage des freundlichen und gepflegten Ortes hin. „Das ist Narayan“, erklärte Indigo. „Hier leben die Helden, die der Schöpfer erfunden hat.“ „Aha“, brachte Billy staunend hervor. „Und um deine Frage zu beantworten“, fuhr Indigo ungeachtet der vorübergehend eingeschränkten Aufnahmefähigkeit seines Begleiters fort. „Sie sind in Sumer, zumindest die meisten.“ „Aha“, machte Billy wieder und starrte fasziniert das vor ihm liegende Viertel an. „Hörst du mir überhaupt zu?“ fragte Indigo zweifelnd. Billy nickte abwesend. „Sumer ist die erste und älteste Kolonie. Da leben die, die sich über ihren Seinszweck hinaus entwickelt haben. Sie haben die Macht, selbst zu schöpfen. Sie haben die Kolonien gebaut.“ „Aha“, wiederholte Billy seine einsilbige Aussage. „Du hörst mir gar nicht zu!“ schmollte der Vampir. „Wenn dich das hier schon umhaut, solltest du Utopia mal sehen.“ Jetzt widmete Billy ihm doch wieder seine Aufmerksamkeit. „Utopia?“ fragte er. Indigo nickte. „Das ist der Ort, an dem die Aliens, Kyberneten, lebende Computer und so Freaks rumhängen. Binary wohnt dort.“ „Klingt spannend.“

Auf dem Weg nach Utopia durchquerten Indigo und Billy auch andere faszinierende Teile Anasazis. In Nephilim, der Nebelwelt, begegneten sie Fabelwesen wie Irrlichtern, Elfen und Kobolden. In Gaia gab es Pflanzen der verschiedensten Sorten, angefangen von winzigen pink schillernden Farnen bis hin zu einem Mammutbaum, dessen Krone fast das gesamte Dach der Nebenhöhle ausfüllte. Bekannte und völlig fremdartige Tierarten waren in der Vielfalt beheimatet. Und in Kasmodiah offenbarte sich ein wildes Sammelsurium von illustren Gestalten; Minotauren und Satyre, Echsenmenschen und Lemuren, sogar zwei Lindwürmer, ein kleinerer Leviathan und ein Pegasus mit durchsichtigen Schwingen tummelten sich hier. „Was tun die da?“ fragte Billy, als sie an einem Haus in der Form eines riesigen Pilzes vorbeikamen, vor dem einige Männer mit schuppiger grüner Haut auf dem Boden hockten und hektisch in kleinen gelben Büchlein blätterten. Zudem sangen sie einen mißstimmigen Kanon, offensichtlich in verschiedenen Sprachen, und verneigten sich immer wieder vor dem Pilz. „Sie beten den Schöpfer an“, sagte Indigo mitleidig. „Sie glauben, wenn sie ihm huldigen, dann erinnert er sich an sie und sie können in ihr Multiversum zurückkehren. Gibt ganz viele verschiedene Gruppen, die das auf ganz viele verschiedene Arten versuchen.“ „Klappt das denn?“ fragte Billy. Indigo zog die Sonnenbrille etwas herunter, so dass Billy seine eisblauen blutunterlaufenen Augen sehen konnte. „Rate mal“, sagte er lakonisch. „Vermutlich nicht?“ riet Billy folgsam. Indigo nickte. „Natürlich nicht. Es kommt alle paar Jahre mal vor, dass der Schöpfer sich an irgendwas erinnert, was er bereits vergessen oder sogar ohne Umwege ins Unterbewußtsein verdrängt hat. Und selbst dabei trifft es meist die falschen, sprich die, die gar nicht in ihr Multiversum zurückwollen.“ Schweigend setzen sie ihren Weg fort und als sie die Grenzen von Utopia erreichten, übertraf der Anblick der futuristischen Gebilde alles andere.

Das Zentrum des Stadtteils stellte eine gläserne Pyramide dar, die von innen heraus kobaltblau leuchtete und die Höhle in ein unwirkliches sanftes Licht tauchte. Die von aufblitzenden Neonlichtern gesäumten tiefschwarzen Straßen und Wege wirkten spiegelglatt, doch Billy rutschte kein einziges Mal aus, als sie darauf entlang gingen. Jedes Gebäude war völlig einzigartig in seiner Form. Während manche an riesige Lavalampen erinnerten und von pulsierenden Lichtern erfüllt wurden, waren andere aus silbrigem Material und mit seltsamen Ornamenten oder Zahlencodes bedeckt. Auch gab es aquarienähnliche riesige Kästen, in denen sich neben tentakeltragenden Aliens auch kybernetisch aufgerüstete Menschen, halbfertige Androiden und Roboter jeder Art, Funktion und Größe aufhielten. An anderen Stellen bestanden die Gebäude aus silbernen Schalen, die mit dünnen stelzenartigen Beinen und Streben am Boden oder aneinander befestigt waren. Direkt dahinter gab es einen Block, der aus schwarzen Metallwürfeln bestand, deren Seiten sich hoben und senkten und so gelegentlich Einblick in das von Drähten, Kabeln und Dioden gefüllte Innenleben gewährten.

Billy bekam den Mund nicht mehr zu, als er Indigo durch Utopia folgte. An jeder Ecke boten sich noch überwältigendere Eindrücke und die Höhle schien deutlich größer zu sein, als die anderen Bezirke. „Wohin gehen wir jetzt?“ stammelte Billy fasziniert. „Zu Binary“, erwiderte Indigo unbeeindruckt. „Sie sollte inzwischen zuhause sein.“

Sie erreichten eine Kugel von etwa acht Metern Durchmesser, die entgegen ihrem schwer erscheinenden metallischen Äußeren wie von selbst einen halben Meter über dem Boden schwebte. Lediglich eine schmale Treppe verband die Kugel mit diesem. „Kommst du?“ fragte Indigo von der Treppe aus. „Äh, wohin?“ fragte Billy zurück. „Da ist keine Tür!“ „Und?“ Der Vampir zog unbekümmert die Schultern hoch, dann ging er einfach in die glatte schwarze Wand, die sich vor ihm wölbe, als ginge er durch Wasser. Vorsichtig stieg Billy die Treppe hinauf und beäugte die wieder völlig glatte Kugel mißtrauisch. Testweise berührte er sie mit der Hand und tatsächlich glitt diese widerstandslos in die Fläche. Billy atmete tief durch, dann machte er einen beherzten Schritt nach vorn und fand sich etwas perplex in einem keineswegs kugelförmigen Raum wieder. Dieser war auch eigentlich zu groß, um in die Kugel zu passen. Die hellen Fliesen erstreckten sich über eine Fläche von gut 120 m², an den – ebenfalls nicht gewölbten, sondern schnurgeraden – Wänden trugen weiße griechisch anmutende Säulen einen gläsernen Balkon, der sich rund um den Raum zog. Auf jeder Seite führte eine weiß lackierte gußeiserne Wendeltreppe nach oben. Im ganzen Atelier standen Palmen und andere exotische Pflanzen in Terrakottatöpfen, in der gegenüberliegenden Wand gab es ein hellblau leuchtendes Aquarium mit seltsamen bunten Fischen, die ihre Farbe in einem gleichmäßig pulsierenden Rhythmus von fliederfarben über sonnengelb ins grelle Pink änderten. Der eigentliche Blickfang war allerdings das flache Wasserbecken in der Mitte des Raumes, das mit weißen Marmorblöcken abgegrenzt war. Acht kleine Fontänen mit ebenfalls wechselnden Farben sprudelten darin, während in der Mitte des Beckens ein durchsichtig schillerndes Computerhologramm schwebte. Auch dieses wechselte Farbe und Form, stellte mal einen Fisch dar, mal einen Cyborg, mal ein undefinierbares Gebilde. Indigo saß auf dem flachen Rand des Beckens und beobachtete dieses Spiel. „Und hier wohnt Binary?“ fragte Billy verwundert. Sie hatte nicht wie jemand ausgesehen, der so stilvoll wohnte. Statt Indigo antwortete Binary selbst. „Das hast du mir nicht zugetraut, was?“ Billy verrenkte den Nacken und sah, dass Binary über ihm auf dem gläsernen Balkon stand. „Ehrlich gesagt nicht!“ gestand er.

Binary grinste und machte sich daran, die Wendeltreppe herabzusteigen. Als sie neben Billy stand, stellte dieser zu seiner erneuten Überraschung fest, dass die vorher noch wasserstoffblonden Haare jetzt in verschiedenen Lilatönen schimmerten. „Ist allerdings nur ein Hologramm“, erklärte Binary beiläufig, während sie auf das Wasserbecken zuging. „Regt sich was bei den Anderen?“ erkundigte sie sich. Indigo schüttelte gelangweilt den Kopf. „Alles ruhig“, gab er zurück. „Ich frage ja nur ungern so dumm weiter, aber wer sind denn die Anderen schon wieder?“ warf Billy ein. Indigo sah zu ihm auf. „Die Typen vor dem Pilz, zum Beispiel. Die, die den Schöpfer verehren.“ „Sie wollen unser Vorhaben verhindern“, ergänzte Binary. „Und sie haben es auch schon einige Male geschafft.“ Indigo stand vom Beckenrand auf. „Aber diesmal nicht. Alles ist gut durchgeplant.“ Binary nickte zustimmend. „Wir sollten dann mit der Tagung anfangen“, sagte sie und aus dem Nichts tauchten elegante schwarze Ledersessel auf, zehn an der Zahl, die um das Becken herum standen. Als wäre dies nichts besonderes, schlenderte Binary zu einem der beiden vor Kopf stehenden Sessel, Indigo nahm zu ihrer Linken Platz. Er nickte zur Seite und deutete auf den Sessel neben sich. „Setz dich.“ Unschlüssig folgte Billy der Aufforderung. „Ihr haltet hier also eine konspirative Tagung ab und ich darf einfach dabei sein?“ wunderte er sich. „Ihr kennt mich doch kaum.“ „Und?“ Binary zog unbekümmert die Schultern hoch. „Wenn es schief geht, haben wir doch alle Zeit, es noch mal zu versuchen.“ Irgendwie sah Billy ein, dass sie mit diesem recht logischen Argument Recht hatte. Wenn alles, was er gehört und gesehen hatte auch stimmte, natürlich.

Aus der Wand, vermutlich an der Stelle, an der sich an der Außenseite der Kugel die Treppe befand, trat ein bleicher Mann. Er war edel, aber irgendwie altertümlich gekleidet; ein erster Eindruck, der sich großteils auf dem Zylinder gründete, den er trug. Sein Gehrock schien aus Samt zu sein, die üppigen Rüschen des Hemdes hingen über den Kragen. Er war von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gekleidet und stützte seine mit silbernen Ringen geschmückte linke Hand auf einen protzigen Gehstock, den er seinem Gang nach zu urteilen allerdings nicht brauchte. „Ich bin Bianco der Weiße“, stellte er sich unpassender Weise vor. „Freut mich“, erwiderte Binary ungeachtet dessen. „Binary, Indigo Aurora, Billy McEhren“, sagte sie und deutete der Reihe nach auf die Anwesenden. Bianco zückte den Hut, verbeugte sich leicht und setzte sich ohne ein weiteres Wort in den Sessel gegenüber von Indigo. „Was war dein Sinn?“ fragte Binary, ohne dabei neugierig oder wirklich interessiert zu klingen. „Ich war der weise Anführer eines Rollenspiels“, erwiderte Bianco, so als würde er ein großes Geheimnis verraten. „Ich entstamme dem Volk der Mondelfen.“ Erst jetzt fielen Billy die spitzen Ohren auf, die aus dem schwarzen langen Haar hervorguckten. Bianco schien noch etwas anfügen zu wollen, doch er wurde im Ansatz von einem Platschen unterbrochen. Das Wasser spritzte aus dem Becken, als wäre jemand aus großer Höhe hineingefallen, doch es war niemand zu sehen. Dann jedoch flimmerte die Luft über dieser Stelle und ein junger Mann in einem schillernden Spandexkostüm wurde sichtbar. „Tut mir leid, das passiert mir dauernd!“ entschuldigte er sich und stieg aus dem Becken. Er setzte sich in den Sessel neben Billy und erklärte dann ohne Umschweife: „Ich bin Tornade, der unsichtbare Rächer. Ich war ursprünglich die Idee zu einer Parodie auf Superheldencomics.“ „Das tut mir leid“, grinste Indigo und schielte zu ihm herüber. „Sehr lustig!“ grummelte Tornade und wrang sein durchnäßtes Cape aus.

Wenig später waren auch die fünf anderen Sessel mit illustren Gestalten gefüllt und Billy wußte nicht mehr, worüber er mehr staunen sollte. Da war Madame Trois, eine ältere Wahrsagerin, die ein drittes Auge auf der Stirn hatte und früher einmal die Idee einer bösen Hexe in einem Kinderbuch gewesen war. Zwischen Bianco und ihr saß ein froschähnliches Wesen von der Größe eines Schulkindes, das einen schwarzen Frack und eine auffällig große rote Fliege trug. Es hatte sich als Rupert, Ritter von und zu Finsterwalde vorgestellt und entstammte dem Konzept einer Märchensendung. Auf der anderen Seite von Madame Trois hatte es sich ein blauhäutiges Mädchen mit Glatze und zahllosen Piercings bequem gemacht. Ihr Name, wenn man von einem solchen reden konnte, lautete Alienfrau aus Szene 9, denn sie war lediglich eine unausgereifte und sofort wieder verworfene Idee, die bei der Entwicklung eines Science Fiction-Films entstanden war. Neben Tornade, dem unsichtbaren Rächer, saß Hallicon, ein geschlechtsloses Mischwesen aus Mensch und Einhorn. Es war für einen Fantasyroman kurzzeitig in Erwägung gezogen, dann aber durch eine andere Figur ersetzt worden. Den Sessel neben ihm füllte eine massige Erscheinung, die erst auf den zweiten Blick als menschliches Wesen zu erkennen war. Auf den ersten Blick schien es sich nämlich um einen Baum zu handeln, dieser verfügte jedoch über ein Gesicht am Stamm und wenn er sprach, hatte er einen bayrischen Dialekt. Er hieß schlicht Sprechender Baum und war die Idee einer eben solchen Figur in einem Märchenpark gewesen. Die trotz dieses Sammelsuriums merkwürdigste Gestalt jedoch war der Mann, der Binary gegenüber saß. Er nannte sich schlicht Struktur, denn mehr war er nicht. Unter der weißen Theatermaske, die er kurz nach seinem Auftauchen für einen Moment abgelegt hatte, verbarg sich ein Kopf ohne Gesicht. Er verfügte nicht einmal über einen Mund und es war Billy ein Rätsel, wie Struktur sich verständigte. Dennoch konnte er sich verbal äußern und hatte erklärt, dass er die Hauptfigur eines Kriminalromans war, der jedoch nie vollendet wurde. Der Autor, der offensichtlich der Schöpfer sein mußte, hatte sich diese Hauptfigur jedoch nie bildlich vorstellen können und es auch offen gelassen, wie sie heißen sollte. Billy verstand nicht genau warum, aber die anderen, einschließlich Binary und Indigo, schienen großen Respekt vor Struktur zu haben; um so mehr, seit er erwähnt hatte, dass er aus Sumer kam.

Anfangs fühlte Billy sich schlichtweg dumm und völlig fehl am Platz. Er versuchte zwar, der Diskussion zu folgen, doch besonders viel Sinn machte es für ihn nicht. Nach einer Weile hatte er jedoch wenigstens verstanden, dass Madame Trois die Fähigkeit besaß, den ursprünglichen Zweck einer Person zu erkennen. Billy überlegte, ob er sie fragen sollte, was sein eigentlicher Zweck war. Einerseits interessierte es ihn brennend, andererseits gab es auch die Option, dass er sich hinterher wünschen würde, es nie erfahren zu haben. Während er versuchte, für sich abzuwägen, was ihm nun lieber war, verfolgte er mit halbem Ohr das Gespräch der seltsamen Runde. Immer wieder fiel ihm dabei auf, dass die anderen und auch Struktur selbst ihn als „Jumper“ bezeichneten und in Billy keimte die neue Frage auf, warum. Denn unter einem Jumper verstand er einen kleinen Plastikblock, der irgendwo hinten an der Festplatte saß und danach sah Struktur dann nun wirklich nicht aus. Aus purer Neugier konzentrierte Billy sich wieder auf die Diskussion. Er wollte herausfinden, warum Struktur ein „Jumper“ war und zwar, indem er diese verrückte neue Welt zu verstehen lernte. Irgendwann mußte er sich schließlich damit abfinden. Warum also nicht jetzt? Nachdenklich betrachtete Billy Struktur, aber der sah nach wie vor wie ein gesichtsloser Charlie Chaplin aus. Nichts an ihm ähnelte einem kleinen Plastikdings. Binarys Stimme riß ihn schließlich aus der angestrengten Grübelei. „Wir machen bis gleich Pause“, sagte sie und stand auf. Auch die anderen, abgesehen von Indigo, erhoben sich und wanderten scheinbar völlig plan- und ziellos im Atelier umher.

Sprechender Baum blieb dann und wann vor dem Aquarium stehen, beobachtete für einen Moment die Fische, lachte glucksend und ging dann weiter. Rupert, Ritter von und zu Finsterwalde, folgte ihm dabei mit einigen Schritten Abstand. Wenn Sprechender Baum stehen blieb, stoppte auch Rupert und sah sich pfeifend um, als wäre er ein ziemlich schlechter FBI-Agent, der einen Verdächtigen observieren sollte. Tornade, der unsichtbare Rächer, versuchte, Alienfrau aus Szene 9 anzubaggern und das ziemlich stümperhaft, wie Billy fand. Madame Trois umrundete mit nachdenklichem Gesicht eine Säule und murmelte unverständlichen Kram in ihr Doppelkinn. Hallicon trabte langsam an einer Wand entlang, sobald er eine Ecke erreichte, drehte er um und trabte ebenso langsam zurück. Struktur stand einfach nur stocksteif mitten im Raum, ging dann ein paar Schritte in eine Richtung, blieb wieder stehen und ging woanders hin. Binary und Bianco schritten beinahe erhaben mit auf dem Rücken verschränkten Armen schweigend nebeneinander her.

„Soweit mitgekommen?“ fragte Indigo, nachdem er Billys verwirrtes Gesicht eine Weile schweigend und amüsiert beobachtet hatte. „Nicht ganz“, gestand Billy kleinlaut. „Es würde helfen, wenn ich wüßte, was ein Jumper ist.“ Indigo nickte verstehend. „Struktur ist etwas sehr besonderes und seltenes“, erklärte er dann flüsternd. „Er hat die Fähigkeit, die Multiversen zu durchschreiten.“ Noch leiser fügte er an: „Er ist ein Weltenwanderer!“ Seine Stimme klang ehrfürchtig. „Aha“, machte Billy, noch immer etwas ratlos. „Und wie wird man das?“ Indigo schüttelte den Kopf. „Das wird man nicht, das ist man.“ Er sah sich prüfend um, als habe er Angst, belauscht zu werden. Als er sich versichert hatte, dass niemand ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, lehnte er sich wieder zu Billy und erklärte: „Du kannst dir vorstellen, dass es sehr sehr selten vorkommt, dass zwei Leute exakt die gleiche Idee haben, oder?“ Billy nickte stumm. „Und dass es noch seltener ist, wenn sie diese auch beide verwerfen?“ Wieder nickte Billy. „Und genau so ist Struktur entstanden! Bevor er verworfen wurde, existierte er in zwei, wenn nicht sogar mehr, Multiversen zugleich. In gewisser Weise tut er das jetzt auch noch.“ Indigo räusperte sich wichtig. „Er ist gleichzeitig in verschiedenen Woanders. Er kann darum spielend die Grenzen zwischen den Multiversen überschreiten. Andere müssen das mühsam lernen, wenn sie über ihren Zweck hinauswachsen. Nur die ältesten, die, die in Sumer leben, sind so mächtig wie Struktur!“ „Aha“, machte Billy zum wiederholten Mal. Die Flut an Informationen begann, ihn zu überfordern. „Und… Ach, scheiß drauf, um was zur Hölle geht es hier eigentlich?“ sprang er endlich über seinen Schatten, der bisher zu stolz gewesen war, sich die komplette Blöße zu geben. „Wir planen den Sturz des Schöpfers“, erklärte Indigo geduldig, doch bevor er näher darauf eingehen konnte, kehrten die anderen zu ihren Plätzen zurück, so als würden sie einem lautlosen Signal Folge leisten.

„Wir sind also einig darüber, dass der Schöpfer aufhören muß, zu existieren“, faßte Binary die bisherige Diskussion zusammen. „Fragen?“ Hallicon nickte knapp. „Es ist also sicher, dass dieses Exil dann ebenfalls aufhören wird zu existieren und wir in unsere eigenen Multiversen übertreten werden, ja?“ Struktur nickte. „Davon ist auszugehen, ja.“ „Moment!“ warf Billy fassungslos ein. „Ihr wollt diesen Ort aufgeben?“ Wieder nickte Struktur. „Ja, natürlich!“ erwiderte Binary verwirrt. „Dieser Ort ist wertlos!“ „Ganz genau!“ nickte Bianco. „Er ist ein Dokument der Tatsache, dass wir nicht mehr gewollt wurden.“ „Aber… Dieser Ort ist fantastisch!“ stammelte Billy. Bianco schüttelte den Kopf. „Eben. Sieh dir an, was die geschaffen haben, die sich über ihren Zweck hinweg gesetzt haben! Und dann denk mal daran, was sie erschaffen können, wenn sie erst einmal selbst ganz zu Schöpfern geworden sind!“ „Dieser Ort ist nur ein Exil. Sie könnten so viel großartigere Welten für uns schaffen!“ ergänzte Alienfrau aus Szene 9 begeistert. „Aber wenn sie bereits die Macht haben zu erschaffen, warum erschaffen sie dann nicht hier?“ bohrte Billy nach. „Unsere Multiversen sind im Vergessen des Schöpfers gefangen“, erklärte Struktur ruhig. „Sie sind tote Arme des ewigen Flusses. Um unsere Multiversen zu befreien, müssen wir selbst zu Schöpfern werden. Hier sind wir nur Sklaven.“ Billy dachte kurz nach, dann sagte er: „Aber wenn ihr zu Schöpfern werdet, dann versklavt ihr eure Ideen doch auch, oder nicht?“ Für einen Moment herrschte Stille, dann wandte sich Sprechender Baum an Billy. „Dann frage ich dich jetzt was. Warst du glücklich in deinem Multiversum? Oder wolltest du gern vergessen werden?“ „Hm“, begann Billy nachdenklich. „Ich war ein reicher, berühmter und begehrter Rockstar. Das war schon okay.“ „Siehst du?“ nickte Sprechender Baum zufrieden. „Vielen von uns ging es als Sklaven des Schöpfers besser. Weil wir in unseren Multiversen glücklich waren. Es war nicht unsere Entscheidung oder unser Wunsch daraus verbannt zu werden!“ Binary schenkte Billy einen vielsagenden Blick. „Erst hier, im Exil, werden wir uns der Existenz der Multiversen bewußt und erkennen uns selbst. Wir erkennen, dass wir nicht vollkommen sind, weil der Schöpfer uns nicht vollendet hat.“ Struktur nickte. „Sie hat Recht. Wir sind tatsächlich vollkommen, bis wir verworfen werden. Denn erst dann fehlt uns etwas. Die Antwort auf die Frage, warum wir verworfen wurden, fehlt uns und dieses Fehlen macht uns unvollkommen. Und weil wir unvollkommen sind, suchen wir beständig nach einem Grund dafür. Wir streben nach Perfektion, doch in unserem Streben liegt der Fehler. Unsere Unvollkommenheit ist nicht real, sie besteht nur darin, dass wir glauben, einen Sinn in uns suchen zu müssen. Wir könnten einfach dadurch wieder vollständig werden, indem wir in die Multiversen zurückkehren. Und so schließt sich der Kreis.“ Wieder herrschte kurze Stille, dann sagte Bianco der Weiße ruhig: „In unseren Multiversen finden wir Frieden. Dort haben wir die Hoffnung, vollendet zu werden.“ „Die Schöpfer könnten uns das zurückgeben!“ ergänzte Madame Trois. „Sie könnten dafür sorgen, dass wir nicht vergessen werden!“ „Und genau das wollen wir ja erreichen!“ fügte Rupert an. „Nur die Schöpfer selbst dürfen keine Sklaven sein, denn sie sind mehr geworden. Und sie wieder in ihre Multiversen zu sperren, würde vielen die Chance nehmen, ihrer Bestimmung nachzukommen, weil es die neuen Multiversen im Keim ersticken würde. Die neuen Multiversen, in denen wir wieder existieren.“ „Dann könnten die, die zu Schöpfern werden, wenn ihr den jetzigen Schöpfer tötet, euch also allen ein Multiversum geben, in dem ihr mit eurem Zweck zufrieden wärt?“ folgerte Billy unentschlossen. „So ist es“, bestätigte Binary. Einen Moment lang herrschte wieder Stille und als Billy keine weitere Frage stellte, richteten alle ihre Augen gespannt auf Struktur. Der räusperte sich unter seiner Maske und sagte nach einer angespannten Weile: „Also gut, wir sind uns einig. Wir wissen, in welchem Multiversum der Schöpfer sich aufhält. Wir wissen, dass er dort verwundbar ist, weil er nichts von den Multiversen an sich ahnt. Er weiß nicht, dass er genauso wenig real ist, wie wir selbst. Er hält sich für real. Doch der Weg zu ihm ist gefährlich. Wir müssen also entscheiden, wer mit mir gehen wird.“ Die leeren Augenlöcher der Maske wanderten prüfend von einem zum anderen. „Freiwillige?“ fragte Struktur nach einer kurzen Pause. „Ich werde mitgehen“, sagte Binary in die Stille. „Ich kann das Vergessen vorübergehend zurückdrängen und ich habe genug Erfahrung im Woanders.“ Struktur nickte stumm. „Ich bin nicht sterblich im Multiversum des Schöpfers. Ich gehe auch mit“, erklärte Indigo. Billy wußte für den Moment nicht wirklich warum, aber er sagte: „Ich auch. Das sind die einzigen Leute, die ich hier kenne.“ Überraschte Blicke wanderten zu ihm, nur Struktur nickte langsam. „Dann soll es so sein“, sagte er. „Wir brechen später auf.“

Später war, wie Billy feststellte, eine recht genaue Zeitangabe für die anderen. Angesichts der Unwirklichkeit der Zeit machte es auf seine Weise Sinn, sich nicht in Stunden, Minuten oder anderen in irgendwelchen fremden Multiversen geprägten Einheiten auszudrücken. Und kurz vor später herrschte geschäftiges Treiben in Binarys Wohnhologramm. Die sechs, die nicht mit Struktur gehen würden, wuselten wieder scheinbar ziel- und planlos umher. „Sie bereiten unseren Schutz vor“, erklärte Indigo. „Sie sichern diesen Ort, damit wir nicht gestört werden, wenn wir woanders hin gehen.“ Billy zog unbekümmert die Schultern hoch. „Ich verstehe nichts davon und vielleicht werde ich es nie kapieren“, seufzte er. „Aber die werden schon das Richtige tun.“ „Wir sind soweit!“ hörte er Binary sagen. Sie hatte das Wasser aus dem Becken abgelassen und sowohl die Fontänen als auch das Hologramm zwischen ihnen abgeschaltet. Neben ihr, mitten im leeren Becken, stand Struktur und beäugte durch seine leeren Löcher eine Bodenklappe. „Dann laß uns gehen!“ erwiderte Indigo und stieg ebenfalls in das Becken. Billy folgte ihm schulterzuckend. Gespannte Blicke richteten sich auf Indigo, als dieser den Griff der Bodenklappe packe und diese damit aufzog. Auch Billy starrte in das quadratische Loch im Boden, konnte aber nichts als Dunkelheit erkennen, die zudem von einem perlmuttfarbenen Schimmer verschleiert wurde. Struktur jedoch schien zufrieden mit dem, was er sah. Er kniete sich neben die Öffnung und tauchte eine Hand hinein, die sofort im Dunkel verschwand, als ob er sie in eine undurchsichtige schwarze Flüssigkeit tauche. Der Perlmuttschimmer wich einem kaum sichtbaren Glitzern in allen Regenbogenfarben. „Der Weg ist frei!“ verkündete Struktur andächtig. Binary nickte und sprang dann ohne weiteres Überlegen in das Loch. Indigo folgte ihr und alle Augen ruhten auf Billy. Er atmete tief durch, dann tat er es Binary und Indigo gleich.

Die graue Straße, auf der sie unvermittelt standen, ohne vorher gefallen oder gesprungen zu sein, hatte sich in Billys Abwesenheit deutlich verändert. Die Häuser wirkten baufällig und alt, Schutt und Steine lagen überall auf dem rissigen Asphalt der Straße und die schwarzen Fensterscheiben waren beschlagen und stellenweise mit Eisblumen übersät. Verwundert sah Billy sich um und Binary beantwortete die Frage, die er noch gar nicht ausgesprochen hatte. „Das Vergessen schreitet voran. Ich schätze, für dich sieht es hier einfach nur verfallen aus. Das liegt daran, dass du noch nicht so lange hier bist.“ „Wie sieht es denn für euch aus?“ fragte Billy. „Für mich ist das hier ein alter Friedhof“, erwiderte Indigo gelangweilt. „Und jedes Mal, wenn ich herkomme, kenne ich weniger Namen auf den Steinen.“ „Es ist ein Autofriedhof“, sagte Binary. „An den Seiten des Weges liegen Autowracks, die sich bis in den Himmel türmen und es werden ständig mehr.“

Struktur hatte sich eine Weile umgesehen, nun ging er langsam die Straße hinunter und die anderen folgten ihm. „Und wie sieht es hier für Struktur aus?“ wandte Billy sich leise an Indigo. Irgendwie erschien es ihm unangebracht, den seltsamen Charlie-Chaplin-Verschnitt selbst anzusprechen. „Hier ist das Nichts“, antwortete dieser jedoch. „Um mich ist nur Leere und wir gehen von einer unsichtbaren Plattform zur nächsten.“ Er drehte sich nicht um, aber stillte Billys Wissensdurst trotzdem. „Früher war dies London, aber die Geisterstadt, die es war, verfiel mehr und mehr und irgendwann blieb nur das Nichts.“ Plötzlich blieb Indigo stehen und sah sich suchend um. Erwartungsvoll musterte Binary ihn, sagte aber nichts. Auch Struktur machte Halt und wartete geduldig auf eine Erklärung. „Sie kommen“, sagte Indigo. „Aus allen Richtungen!“ Binary nickte stumm und schloß die Augen. „Ich versuche, sie aufzuhalten. Geht zur Schwelle, schnell!“ „Was ist denn jetzt los?“ fragte Billy und eilte Indigo hinterher. „Das Vergessen nähert sich schneller als gedacht. Wir müssen allein weitergehen und hoffen, dass wir die Schwelle zum Multiversum des Schöpfers erreichen, solange Binary die Maschinen noch zurückhalten kann!“ zischte Indigo panisch und zerrte Billy in eine Seitengasse, wo Struktur bereits auf sie wartete. „Aber wir können sie doch nicht einfach zurücklassen!“ protestierte Billy. „Doch, können wir“, sagte Struktur ruhig. „Sie wußte, worauf sie sich einläßt.“ Er streckte die Hand aus, um ein Gebäude zu berühren und an der Stelle, an der seine Finger die Wand erreichten, schwappten die Steine auseinander wie Wasser. Struktur zog die Hand zurück und als die Wand wieder zusammen driftete, war dort eine schlichte Tür. Sofort riß Indigo diese auf und schob Billy hinein. Struktur, der ihnen langsam folgte, schloß die Tür und sagte knapp: „Nach oben.“

Billy war Indigo eine Treppe ins obere Stockwerk hinauf gefolgt. Jetzt lehnte er neben einem eingeschlagenen Fenster an der Wand und lugte, genau wie Indigo auf der anderen Seite, nach draußen. Struktur stand mitten im leeren Raum und tat das, was er zuvor in Binarys Wohnkugel getan hatte. Er blieb kurz an einer Stelle stehen, kratzte sich nachdenklich am Kinn, ging dann ein paar Schritte und wiederholte das Spiel. Indigo warf ihm immer wieder panische Blicke zu und Billy kam zu dem Schluß, dass dieses seltsame Verhalten einen tieferen Sinn haben mußte. Welchen, das blieb ihm trotzdem unklar. Und momentan war ihm auch nicht danach, darüber nachzudenken. Denn er konnte viele Stockwerke unter sich sehen, dass Binary noch immer mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen auf der Straße stand. Von außen hatte das Gebäude scheinbar nur zwei Etagen gehabt, aber seit er den Innenraum von Binarys Kugel gesehen hatte, wunderte es Billy nicht mehr, wenn etwas von innen größer war als von außen.

Aufgrund seines hohen Standortes hörte Billy nur sehr leise die Geräusche der sich nähernden Maschinen. Erst, als sie in die Straße einbogen, konnte er sagen, aus welcher Richtung das Summen, Surren und Klappern gekommen war. Indigo starrte aus blutunterlaufenen Augen nach unten. Die drei Maschinen, zwei kleine und ein großer undefinierbarer Haufen, hatten Binary nun fast erreicht. Doch sie machte keine Anstalten zu fliehen, sondern blieb unverändert vor ihnen stehen. Aber jetzt konnte Billy durch den Lärm ihre Stimme hören. Angesichts der drohenden Gefahr klang sie unwirklich gelassen. „Ich bin Binary“, hörte Billy sie mit fester Stimme sagen. „Ich bin eine Technomutantin. Ich kämpfe für das Gute und habe Mitstreiter aus allen Teilen des Universums. Meine Eltern waren das Computerscript 0100010 und der Programmierer Falcon Revell. Ich habe eine virtuelle Schwester…“ „Was macht sie da?“ fragte Billy leise und schielte vorsichtig zu Indigo herüber. Auch er beobachtete das Geschehen, wirkte aber deutlich angespannter als Billy. „Sie bekämpft das Vergessen“, erklärte der Vampir flüsternd. „Sie rezitiert ihre Idee.“ „Hm“, machte Billy und nickte verstehend, auch wenn er es nicht wirklich verstand. Bei den Maschinen zeigte es aber offensichtlich Erfolg. Obwohl nichts ihren Weg versperrte, hatten sie Probleme, sich Binary weiter zu nähern und dagegen kämpften sie laut surrend an. „Ich habe einen Freund namens Icon und ein Raumschiff, das sich telepathisch mit meinem Bewußtsein verbindet!“ rief Binary, nun lauter. Es schien sie große Anstrengung zu kosten. „Scheiße!“ stieß Indigo plötzlich hervor und wandte sich zu Struktur um. Der ging noch immer seiner seltsamen Beschäftigung nach und schenkte weder Billy noch dem Vampir Aufmerksamkeit. Draußen trafen jedoch fünf weitere Maschinen aus einer anderen Richtung ein. „Ich bin Binary!“ begann Binary erneut. „Ich bin eine Technomutantin! Ich kämpfe in allen Teilen des Universums! Meine Eltern waren ein Computer und ein Mensch und ich habe Geschwister!“ „Verdammte Scheiße!“ wiederholte Indigo. „Sie vergißt schon zu viel!“ Wieder sah er sich zu Struktur um. „Komm schon, uns läuft die Zeit davon!“ Struktur gab sich unbeeindruckt. Draußen waren weitere Maschinen auf Binary zugekommen und Billy fiel auf, dass die Technomutantin immer durchscheinender wirkte. „Warum sieht sie wie ein Geist aus?“ fragte er, obwohl er die Antwort bereits ahnte. „Weil sie vergißt“, bestätigte Indigo aufgebracht den Verdacht. „Binary. Mutantin. Universum. Computer.“ Binary schien inzwischen nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an ihre Identität zu haben. „Sie schafft es nicht allein!“ stieß Indigo hervor und noch während er sprach, verpuffte er in eine schwarze Rauchwolke.

Billy hatte keine Zeit, irgend etwas zu sagen. Die Rauchwolke hing noch neben ihn im Raum, als Indigo in seiner Fledermausgestalt auf die Straße zusegelte. „Ich bin Indigo Aurora, ältester Sohn des höchsten Vampirs von Shadowstone!“ schrie er. „Ich ernähre mich vom Blut der Lebenden und bin für immer jung!“ Er landete neben der nun bereits völlig verblaßten Binary, die sinnlose Programmscrips vor sich hin brabbelte. „Mein Clan kämpft seit ewigen Zeiten gegen die Werwölfe von Darkcastle und wir werden sie besiegen!“ Nun wurde auch Billy angst und bange, denn Indigo verblaßte deutlich schneller als Binary und die Maschinen hatten die Blockade überwunden. Nichts hielt sie mehr zurück, als Binary einfach nicht mehr da war. Bevor Billy auch Zeuge des Vergessens von Indigo wurde, packte Struktur ihn am Arm und zerrte ihn in einen Tornado aus regenbogenfarbenen Wolken.

Als Billy wieder zu sich kam, lag er auf der Straße. Nicht auf der seltsamen sterilen Straße im Woanders, sondern auf einer ganz gewöhnlichen gepflasterten Straße. Erst glaubte er, endlich aus diesem bizarren Traum erwacht zu sein. Dann jedoch tippte ihm jemand auf die Schulter und als Billy aufsah, stellte dieser sich als Struktur heraus. „Bin ich wieder zuhause?“ fragte Billy trotzdem und rappelte sich mühsam auf. Struktur schüttelte milde den Kopf. „Nein, noch nicht. Wir sind im Multiversum des Schöpfers.“ „Noch nicht?“ Mißtrauisch beäugte Billy den gesichtslosen Mann. „Wenn der Schöpfer erst tot ist, steht es dir frei, in deine Welt heimzukehren.“ Struktur klopfte Billy den Dreck von der Jacke, dann deutete er auf eine Seitengasse. „Gehen wir. Es ist nicht weit.“ Er wandte sich um und überquerte die Hauptstraße, Billy folgte ihm. „Das heißt also, mein Multiversum kann auch ohne den Schöpfer existieren?“ Im Gehen nickte Struktur. „Ja, natürlich. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz der meisten Multiversen, dass die Ideen ihre Schöpfer überleben.“ „Aber was geschieht denn dann?“ Desto weiter sie auf die Gasse zugingen, desto bekannter kam Billy die Gegend vor. „Es gibt sehr viele sehr ähnliche Multiversen“, erklärte Struktur. „Manche unterscheiden sich lediglich durch winzige Details, wie die Farbe der Wolken.“ Er öffnete das Tor zu einer Hofeinfahrt, hielt dieses für Billy auf und schloß es dann sorgfältig wieder. „Wenn ein Schöpfer ausgelöscht wird, dann verschmilzt ein Multiversum mit einem ihm sehr ähnlichen. Man könnte fast sagen, der Schöpfer dieses anderen Multiversums überdenkt seine Idee.“ Struktur und Billy setzten ihren Weg über den Hof fort, der von mehrstöckigen weißen Reihenhäusern umschlossen wurde. „Die Auswirkungen für die Multiversen sind dabei kaum wahrnehmbar“, fuhr Struktur fort. „Es entsteht zum Beispiel ein Krieg oder eine neue Art, manchmal aber auch nur ein neuer Trend oder eine Sprache. Im Grunde geschieht es sehr häufig, dass Multiversen verschmelzen. Schließlich sind Anasazi und Sumer auch nur zwei von vielen Exilstädten, die hinter dem Vergessen existieren. Und wir sind beileibe nicht die einzigen, die gegen unser Vergessen rebellieren.“ „Aha“, sagte Billy, einfach um überhaupt was zu sagen. Sie passierten eine weitere Einfahrt und gelangten auf eine größere belebte Straße. „Das sieht hier alles genauso aus wie in meiner Welt“, stellte Billy fest. Struktur nickte. „Gut möglich, dass dein Multiversum mit diesem kollidieren und verschmelzen wird.“ Eine Weile trottete Billy schweigend hinter ihm her, dann fragte er: „Sag mal, warum ignorieren uns hier alle? Ich meine, du siehst, mit Verlaub, schon recht komisch aus.“ Struktur blieb stehen. „Ich zeige es dir“, sagte er. Dann setzte er die Melone ab und riß sich die emotionslos lächelnde Theatermaske vom Gesicht. Er trat vor eine Menschentraube, die an einer Bushaltestelle wartete, und vollführte einen kurzen Stepptanz. Niemand kümmerte sich darum, dass ein Mann ohne Gesicht dort herumsprang. Struktur beendete die Vorstellung, indem er die Hacken ein letztes Mal geräuschvoll zusammenschlug, dann setzte er Maske und Melone wieder auf und kehrte zu Billy zurück, der das Schauspiel mit offenem Mund verfolgt hatte. „Wir existieren für sie nicht“, erklärte Struktur. „Wir sind keine Ideen ihres Schöpfers, und selbst wenn, wären wir nur eine verdrängte Erinnerung.“

Struktur führte Billy quer über die Straße, auf einen Park zu. Offensichtlich wußte er genau, wohin sie gingen, so planlos er auch mal hier und mal da abbog. Nach einer Weile sagte Billy: „Mal was ganz anderes… Binary hat gesagt, sie stammte aus einem Drehbuch. Was genau war Indigo eigentlich?“ „Er kam aus einem Rollenspiel“, bestätigte Struktur Billys Verdacht. „Er gehörte auch zu denen, die mehr Glück hatten.“ „Mehr Glück? Inwiefern?“ Struktur blieb stehen, sah sich um und setzte sich dann auf eine Parkbank. Billy nahm neben ihm Platz und sah ihn erwartungsvoll an. Endlich bequemte Struktur sich zu einer näheren Erläuterung. „In deiner Welt gibt es sicherlich auch Dinge wie Fernsehserien, Romane, Rollen- und Computerspiele und all das, nicht wahr?“ Billy nickte. „Dann geh jetzt davon aus, dass alles, was du darin siehst und liest, real ist. Dass du, wenn du einen Film anschaust, tatsächlich in eine andere Welt blickst. Denn das ist der Fall.“ Zögernd nickte Billy, dann sagte er zweifelnd: „Alles ist real? Ich meine, auch irgendwelche Kinderserien mit sprechenden Pflanzen oder so?“ Struktur nickte bestätigend. „Das ist der eine Punkt. Es gibt viele weniger intellektuell gesegnete Wesen als uns. Nimm als Beispiel Tornade, den unsichtbaren Rächer. Er ist das Produkt eines intelligenten Schöpfers, aber er wurde als dummes Wesen erdacht. Er verfügt über den Intellekt, sich über diese Dummheit hinaussetzen zu wollen. Aber nicht über die Möglichkeit, so wie ich und die anderen Sumerer. Wir konnten uns selbst im Vergessen über unseren Zweck erheben. Wenn Tornade nach dem Fall des Schöpfers selbst zum Schöpfer wird, wird er seinem Intellekt entsprechende Multiversen voller Dummheit erschaffen.“ „Er kann trotzdem zum Schöpfer werden?“ wunderte Billy sich. Struktur nickte. „Weil er seinen Zweck kennt“, sagte er. „Madame Trois’ Fähigkeit ist weit mehr, als das schlichte Erkennen einer Bestimmung. Wenn sie diese verrät, ist der Grundstein gelegt und die entsprechende Person kann ein Schöpfer werden.“ Er kratzte sich am Kinn und fügte dann nachdenklich an: „Jedenfalls ist es ratsam, denn mit dem Wissen um den eigenen Zweck ist eine Rückkehr ins ursprüngliche Multiversum recht schwierig.“ „So?“ Billy kratzte sich ebenfalls nachdenklich am Kopf. Scheinbar konnte er froh sein, nicht so bedenkenlos seiner Neugier nachgegeben und Madame Trois nach seinem Zweck gefragt zu haben. „Normalerweise würdest du in dein Multiversum zurückgehen und genau da weitermachen, wo du aufgehört hast, zu existieren. Ohne Erinnerung an Anasazi oder woanders. Aber wenn du deinen Zweck kennst, nimmst du dein Wissen um die Multiversen mit“, erklärte Struktur. „Und dann gibt es zwei Optionen. Entweder verheimlichst du es und wirst dadurch verrückt. Oder du erzählst davon und alle halten dich für verrückt.“ Billy zog abschätzend die Augenbrauen hoch. „Und wenn die anderen einem glauben?“ Jetzt schien nicht nur Strukturs Maske zu lächeln, obwohl dahinter noch immer kein Gesicht war, das hätte lächeln können. „Ich bin schon in unzähligen Multiversen gewesen“, sagte er. „Und glaube mir, das ist noch nie vorgekommen.“

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die auf der Wiese um einen Teich watschelnden Enten. Dann grübelte Billy laut: „Angenommen, ich würde nicht in mein Multiversum zurückwollen, sondern lieber ein Schöpfer werden und mir ein eigenes erschaffen. Ginge das überhaupt noch? Ich meine, könnte ich jetzt noch zu Madame Trois zurückgehen?“ Struktur schüttelte den Kopf. „Nein, aber das ist auch nicht nötig. Sie hat mir deinen Zweck verraten. Aber willst du es denn wirklich wissen?“ Unschlüssig starrte Billy eine Ente an. „Vorerst nicht“, sagte er dann. „Ich fand mein Multiversum schon ganz gut. Ehrlich gesagt, ich denke lieber noch mal darüber nach, was ich will.“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Was ist eigentlich der andere Punkt?“ Für einen Moment schien Struktur überrascht zu sein, dass Billy dem Gespräch tatsächlich folgen konnte, dann fing er sich und griff den Faden wieder auf. „Ah, ja. Der andere Punkt! Es gibt natürlich auch Wesen, die an sich intellektueller sind als ihre Welt. Geistesblitze, Zufallsprodukte, oder einfach traurige Schicksale. Zum Beispiel Sprechender Baum. Er ist mit großer Weisheit gesegnet, aber er stammt aus einem sehr einfachen Multiversum. Ideen aus Filmen, Büchern oder Rollenspielen sind meist besser dran, da sie in ein ähnlich intellektuelles Umfeld gehören. Aber da gibt es natürlich auch Ideen aus Computerspielen, die eine tiefe Vorgeschichte haben und über große Intelligenz verfügen. Ihr Multiversum aber bindet sie an seine Gesetze, zum Beispiel müssen sie immer wieder grausam sterben. Ihnen gönne ich es, selbst zu Schöpfern zu werden, denn ihre Multiversen gehören zu den friedvollsten.“ Irgendwie hatte Billy plötzlich ein schlechtes Gewissen. Er war ein erklärter Fan besagter Prügelspiele und dass er nun wußte, was er den Figuren antat, ließ ihn an seiner Begeisterung zweifeln. „Weißt du eigentlich, was der Schöpfer ist?“ fragte er, um sich davon abzulenken. Struktur stand auf und wirbelte seinen Gehstock kunstvoll herum. „Aber selbstverständlich!“ sagte er fröhlich.

Das Haus, in das Struktur Billy geführt hatte, gehörte offensichtlich zu einem Krankenhaus. Aus den Schildern auf dem Gang, den sie nun entlang gingen, wurde ersichtlich, dass es die ambulante psychiatrische Tagesklinik war. Etwas skeptisch, aber hauptsächlich enttäuscht, sah Billy sich um. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ wandte er sich an Struktur und sah sich über die Schulter zu diesem um. Struktur nickte stumm und bedeutete Billy, weiter zu gehen. „Wir sind nur Ideen eines Irren?“ protestierte der zaghaft. „Das ist Ansichtssache“, erwiderte Struktur. Vor einer Tür blieben die beiden nach ein paar Schritten stehen. Ein Ehepaar redete dort mit einer Pflegerin. Neugierig musterte Billy sie, auch Struktur lauschte dem Gespräch interessiert. „Irgendwelche Fortschritte?“ fragte die Frau und die Pflegerin schüttelte leicht den Kopf. „Ihr Sohn ist ein bemerkenswerter Junge“, erwiderte sie. „Aber wir kommen nicht an ihn heran. Er lebt in seinen Fantasiewelten, als wären sie real.“ „Sie müssen doch etwas tun können!“ warf der Mann, demnach der Vater, ein. „Er muß doch begreifen, dass es nur seine Einbildung ist!“ Wieder schüttelte die Pflegerin den Kopf. „So einfach ist das nicht…“ begann sie. Wie der Satz weiterging, erfuhr Billy nicht, denn Struktur hatte die Tür zu diesem Zimmer geöffnet und ihn hineingezogen.

Billy blieb mit offenem Mund im Raum stehen. Es sah keineswegs wie in einem üblichen Krankenhauszimmer aus. Überall türmten sich Stapel von Papier, teils lose Blätter, teils in Ordnern und Mappen. Die Wände waren von Zeichnungen und Computerausdrucken überzogen, zudem waren die Regale und Fensterbänke mit allen Arten von Skulpturen aus verschiedensten Materialien zugestellt. Mitten in diesem Chaos thronte ein Junge vor seinem Computer und hackte angestrengt auf die Tastatur ein. Er war 14, höchstens 15 und wurde der Vorstellung von jemandem, der in seiner eigenen Welt lebte, in jeder Hinsicht gerecht. Sein Haar war ungekämmt wie ungewaschen, das Gesicht verpickelt, die dicke Hornbrille war an einem Bügel mit Klebeband geflickt worden. Der Junge trug eine verbeulte Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt und er schenkte Struktur und Billy nicht die geringste Aufmerksamkeit.

„Das ist der Schöpfer?“ brachte Billy erstaunt und entsetzt hervor. Struktur nickte. „Das ist der Schöpfer.“ „Ich… Ich bin eine Idee von dem da?“ Fassungslos deutete Billy auf den Jungen. Wieder nickte Struktur. „Ach du Kacke!“ Billy wußte nicht, was er davon halten sollte. Er und alles, was er kannte, seine gesamte Welt, war nur eine Schöpfung eines durchgeknallten Teenagers, der in der Klapse saß?! „Und was machen wir jetzt?“ seufzte er. Struktur antwortete nicht. Er ging mit prüfendem Blick hinter dem Schöpfer auf und ab, dann zog er einen seiner weißen Handschuhe aus und wedelte damit vor dem Gesicht des Jungen herum. Der reagierte nicht und bearbeitete weiter wild die Tasten. Struktur kehrte zu Billy zurück. „Er ist keiner der Wissenden“, sagte er feststellend. „Hä?“ erwiderte Billy etwas genervt. Ihn nervte jedoch nicht Struktur, sondern die erschütternde Tatsache, dass er nur das Produkt eines geisteskranken Teenagers war. „Erst war ich nicht mehr sicher, ob er nicht doch von den Multiversen weiß“, erklärte Struktur. „Aber er sieht uns nicht. Wir müssen uns ihm bewußt machen.“ „Und wie?“ seufzte Billy. Struktur sah ihn mit den leeren Augenlöchern seiner Maske an. „Das ist deine Aufgabe. Sag ihm, wer du bist. Mach, dass er sich an die Idee erinnert.“ Mißtrauisch zog Billy die Augenbrauen hoch. „Aber er hört mich doch eh nicht“, sagte er. „Mit der Zeit wird er sich dir wieder bewußt werden“, erklärte Struktur. „Du wirst sehen.“ Schulterzuckend trat Billy vor und schenkte dem Schöpfer einen abfälligen Blick. „Hör zu, du Freak“, begann er. „Ich bin Billy McEhren. Ich wurde 1973 in Minneapolis geboren. Meine Mutter heißt Agatha und ist eine versoffene Schlampe. Mein Vater hieß William und hat sie schlauerweise verlassen, als ich drei war.“ Billy brach ab und sah sich unsicher zu Struktur um. Der nickte aufmunternd und Billy fuhr fort: „Ich habe eine Menge Scheiße gebaut, aber vor einigen Jahren wurde ich bei einem Newcomerfestival von einem Plattenboß entdeckt und groß rausgebracht…“ Tatsächlich schien der Monolog Erfolg zu zeigen, denn der Schöpfer ließ von der Tastatur ab und sah sich um. „Wer zur Hölle bist du und wie kommst du hier rein?“ fragte er wütend. „Hab ich doch gesagt!“ blaffte Billy. Nachdenklich musterte der Schöpfer ihn durch seine dicken Brillengläser, dann sagte er: „Moment… Ich weiß, wer du bist… Du bist dieser Rockstar, Billy McEhren…“ Billy nickte. „Ganz genau!“ bestätigte er. „Aber dich gibt es nicht wirklich!“ rief der Schöpfer. „Ich habe dich nur ausgedacht!“ „Und jetzt bin ich hier, reicht das nicht als Beweis, dass es mich doch gibt?“ Herausfordernd funkelte er den Schöpfer an. Der sprang unerwartet auf, warf dabei fast seinen Stuhl um. „Geh weg!“ schrie er, außer sich vor Wut und Verwirrung. „Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist! Es gibt dich nicht!“ Fragend sah Billy zu Struktur, den der Schöpfer offensichtlich noch nicht bemerkt hatte. „Es hat begonnen“, sagte der gesichtslose Mann. „Verpiß dich!“ lenkte der Schöpfer Billys Aufmerksamkeit wieder auf sich und stieß ihn überraschend nach hinten. Billy taumelte und stolperte fast über einen Stapel Notizbücher. „Einen Teufel werde ich tun! Du hast mich vergessen, du kleiner Spinner!“ schrie er. „Na und? Ist doch mein gutes Recht!“ keifte der Schöpfer zurück und trat nach Billy. Während der die Tritte abwehrte, bemerkte er plötzlich das vertraute Geräusch der Maschinen und ein Blick zur Tür verriet ihm auch, woher dieses kam.

Draußen war nicht mehr der Gang der Klinik. Dort war die graue Straße und die Schatten der Maschinen zuckten bereits unheilverkündend vor der Türöffnung. Billy warf sich mit einem Hechtsprung zwischen sie und Struktur und stieß diesen weiter ins Zimmer, so dass er in einem Haufen Zettel, Schnellhefter und Notizbücher landete. „Was passiert hier?“ rief Billy durch den Lärm von draußen. „Er bekämpft eine ungewollte Idee!“ erwiderte Struktur. „Aber es ist fast vollbracht!“ Zwischen Strukturs Händen bildeten sich schillernde Kugeln, erst als durchscheinende diffuse Gebilde, dann immer intensiver von innen heraus leuchtend. „Konfrontiere ihn!“ rief Struktur, gerade rechtzeitig, um Billy zu warnen. Der Schöpfer stürzte sich wutentbrannt auf seine ungewollte Idee und verkeilte sich mit ihm in einer wilden Schlägerei. „Ich kann dich vernichten! Ich habe dich geschaffen, also kann ich dich auch zerstören! Es ist meine Idee!“ brüllte er und prügelte blindlings auf Billy ein. „Pass auf!“ schrie Struktur ihm zu. Die wie Seifenblasen zwischen seinen Händen schwebenden Gebilde dehnten sich aus, kleine Explosionen schienen in ihren unbeständigen Hüllen zu entstehen, Bilder und Bildfetzen flackerten auf und verschwanden. Der Lärm der Maschinen wurde immer lauter, sie befanden sich inzwischen in Sichtweite vor der Tür. „Ich habe ein Recht zu existieren!“ brüllte Billy dem Schöpfer ins Ohr, doch der schlug nur weiter wild um sich, so dass der deutlich größere und stärkere Billy Probleme bekam, die Attacken abzuwehren. „Einen Scheiß hast du!“ schrie der Schöpfer atemlos. „Soll ich dir mal sagen, was du bist, du dämlicher Rockstar?“ Strukturs Worte hallten durch Billys Kopf. Wenn der Schöpfer ihm seinen Zweck offenbaren würde, könnte er nicht in seine Welt zurück, durchfuhr es ihn, zumindest nicht in sein gewohntes Leben. Und so wie der Schöpfer enden, das war das Letzte, was Billy wollte.

Plötzlich schien ihr Kampf sich in Zeitlupe abzuspielen, selbst die Schläge und Tritte des Schöpfers fühlten sich dumpf an, als sein sie nur das Echo einer Berührung. „Viel Erfolg!“ rief Billy Struktur mit verzerrter Stimme zu, als er sich, an den Schöpfer gekrallt, mitten in das Maschinengetümmel vor der Tür warf. Strukturs Antwort, falls es denn eine gab, hörte er nicht mehr. Alles; das Zimmer, Struktur und dessen Gebilde, der Schöpfer und Billy selbst, verschmolz mit dem Schwarz und dem beständigen, ewig gleichen Surren der Maschinen.

Billy erwachte durch dumpfe Geräusche. Mühsam öffnete er die Augen und hielt sich den schmerzenden Kopf. Als er sich verwirrt umsah, stellte er fest, dass er mit dem Rücken an die Kloschüssel des Hotels gelehnt eingeschlafen sein mußte. Und die Geräusche erklärten sich schnell von selbst, denn sie wurden von Dorothys schriller Stimme von der anderen Seite der Tür ergänzt. „Billy? Verdammt, mach die Tür auf!“ schrie sie und folgsam rappelte Billy sich auf. „Ich komm ja schon!“ gab er mürrisch zurück, drehte das Wasser auf und warf sich eine Handvoll ins Gesicht. Er stellte das Wasser wieder ab und öffnete die Tür. Vor ihm stand seine aufgeregte Managerin. „Ich dachte schon, du machst nie auf!“ keuchte sie. „Die restlichen Konzerte der Tour wurden abgesagt. Ich habe dir einen Flug nach San Diego gebucht.“ Überrascht hob Billy die Augenbrauen. „Hey, das sind mal gute Nachrichten!“ erwiderte er. Denn das waren sie in der Tat. In San Diego wartete sein Studio auf all die Ideen, die er aus zeitlichen Gründen schon länger hatte zurückstellen müssen. Er packte seine Klamotten zusammen und verließ das Hotel, um mit dem Taxi zum Flughafen zu fahren.

In San Diego angekommen stieg Billy in ein anderes Taxi, das ihn ohne Umwege in sein Studio brachte, wo er den letzten Abend endlich in Ruhe Revue passieren lassen konnte. Die Vorband war tatsächlich das Allerletzte gewesen, dachte er amüsiert. Gut, dass die jetzt um ihre Support-Tour gebracht worden waren. Die Publicity, die sie durch den großen Billy McEhren bekommen hatten, hatten sie nicht ansatzweise verdient. Und dass die Tour auch für ihn abgeblasen war, kam Billy verdammt gelegen. Das Best of würde sich auch ohne weiteren Rummel verkaufen und er hatte genug Zeit, all die neuen Ideen umzusetzen. Genau damit beschäftige Billy sich in den folgenden Wochen und Monaten. Sein Alltag verlief so beschaulich und normal, wie er im Leben eines weltbekannten Rockstars eben verlaufen konnte und es gab nichts, was Billy in irgendeiner Weise komisch vorkam. Aber manchmal träumte er von einem seltsamen Ort namens Anasazi, an dem sich die verrücktesten Wesen tummelten. Es gab dort Technomutanten, Vampire, Werwölfe, Elfen und sprechende Bäume. An Details konnte Billy sich nie erinnern, aber er fand diese Träume recht unterhaltsam und zog daraus sogar die eine oder andere Idee für einen Song, unwissend, dass er so ein weiteres Multiversum erschuf.

In einem anderen Multiversum, gar nicht weit entfernt von dem, in dem Billy existierte, trat ein Mann Mitte vierzig vor einen großen Garderobenspiegel. Er grüßte sein Spiegelbild, indem er seine Melone zog und verbeugte sich gekünstelt vor sich selbst. Dann setzte er sich in einen speckigen alten Lehnsessel, der in einem rustikal aber stilvoll eingerichteten Wohnzimmer vor einem alten massiven Schreibtisch stand. Bevor er die Schreibfeder in das Tintenfaß tunkte, nahm er seine weiße, ewig gleich emotionslos lächelnde Theatermaske ab und legte sie zur Seite. Er schrieb einige Zeilen in ein in Leder gebundenes riesiges Buch, dann legte er die Feder zur Seite und stopfte eine gebogene Wurzelholzpfeife. Er entzündete ein Streichholz aus seinem Heftchen, rückte den kleinen Spiegel auf dem Schreibtisch zurecht und betrachtete zufrieden sein Spiegelbild, als er die Pfeife in den Mund steckte und anzündete. Wieder nahm er die Feder zur Hand und während er schrieb, lächelte er seinem Spiegelbild immer mal wieder zu oder strich mit einer Hand über die Theatermaske, die er nun nicht mehr brauchte.
 

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Korrekturvorschläge:

Genesis 2.0 oder Die ganze Wahrheit über das Verschwinden von Billy McEhren
Veröffentlicht von Binary am 13. 01. 2007 20:16
„Ich kann so tun, als ob Dinge Bestand haben.

Ich kann so tun, als würden Leben länger andauern als Momente.

Götter kommen und Götter gehen. Sterbliche flackern auf, erstrahlen und vergehen.

Welten bleiben nicht bestehen; Sterne und Galaxien ziehen vorüber; flüchtige Dinge, die aufblitzen wie Glühwürmchen und dann zu kaltem Staub vergehen.

Aber ich kann so tun, als ob.“


(Destruction)




Gelangweilt schlurfte Billy den Gang entlang und rempelte dabei auch seine Managerin Dorothy an. „Kriegt man hier irgendwo was zu trinken?“(Komma) erkundigte er sich. „Die vom Catering sind schon abgehauen, aber frag mal die von der Vorband, die [red] müßten [/red] (müssten) noch was haben“, erwiderte sie und eilte in die andere Richtung. Schulterzuckend setzte Billy seinen Weg fort und fand hinter einer Tür die ziemlich angetrunkenen Musiker, die in seinem Vorprogramm gespielt hatten. „Jetzt guckt euch das an!“(Komma) lallte der Frontmann und warf lachend seine halbvolle Bierdose in die Ecke des siffigen Backstageraumes. „Mister Superstar gibt sich mit uns ab!“ (Absatz)Ungeachtet dessen sah Billy sich um und entdeckte tatsächlich eine halbe Palette Coladosen auf der Fensterbank. „Kann ich was davon haben?“(Komma) fragte er mürrisch in die Runde. „Oh, kann ich was davon haben? Mister Superstar fragt uns um Erlaubnis!“(Komma) säuselte der Drummer und äffte Billy wenig gekonnt nach. (Absatz)„Ja oder nein?“(Komma) erkundigte sich dieser nun nachdrücklicher. „Pah, dann nimm doch gleich alles!“(Komma) gab der Drummer eingeschnappt zurück und wandte beleidigt den Blick ab. „Ja, genau!“(Komma) stimmte der Sänger mit dem Ernst eines Volltrunkenen zu. „Nimm alles und [red] verpiß [/red] (verpiss) dich! Interessierst dich ja auch sonst nicht für uns!“ (Absatz oder Trennstrich)„Hat auch seinen Grund“, murmelte Billy genervt, schnappte sich zwei Dosen und verschwand aus dem Raum. Er suchte sich einen halbwegs ruhigen Platz zwischen einigen Boxen und [blue] öffnete zischend [/blue] (in dem Fall zischt Billy, formuliere um) die erste Dose. Doch die Ruhe währte nicht lange. Dorothy kehrte hektisch in ihr Handy redend zurück. „Der Fahrer wartet!“(Komma) erklärte sie knapp, dann wandte sie sich wieder ab und redete weiter mit dem Anrufer. Seufzend stand Billy auf und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

Heute war einfach alles Scheiße gewesen. Die Vorband war Müll, dachte Billy, ich sollte dem Management sagen, dass sie nicht mehr die erstbesten Lokalhelden nehmen sollen. Geht doch immer in die Hose. Sein eigener Gig war ziemlich durchschnittlich verlaufen, fand er, aber das sahen die Fans anders. Sie vergötterten ihr Idol und fanden jedes Konzert am allerallerbesten. Was sie nicht von Ohnmachtsanfällen oder Schlägereien mit den Ordnern abhielt und davon hatte es heute wieder reichlich gegeben. Die Backstageorganisation war das reinste Chaos gewesen und Dorothy, die an sich schon eine verdammt nervtötende Person war, hatte sich heute mal wieder selbst übertroffen. Billy war froh, endlich allein im Hotel zu sein und vor dem ganzen Müll seine Ruhe zu haben. Die ganze Tour war eine total bescheuerte Idee gewesen. Für ein „Best of“-Album hätten es auch ein paar Festivals oder Benefizauftritte für irgendwas getan. Aber nein, es [red] mußte [/red] (musste) eine Tour sein! Dabei hatte er nur auf das Best of bestanden, um eben nicht auf Tour zu müssen und sich statt dessen ins Studio zu verziehen. In seinem Kopf brüteten zig Ideen, aber er kam einfach nicht dazu, sie vernünftig zu Papier zu bringen. (Absatz)Seufzend ließ Billy sich aufs Bett fallen. Was dachten die sich dabei? Hatte er nicht einen Vertrag mit ihnen unterschrieben, damit sie mit seinen Songs Geld machen konnten? Da wäre es doch wesentlich sinnvoller, ihn welche schreiben zu lassen!

Eine Weile lag Billy einfach nur auf dem Bett und starrte die Decke an. Wollte die Welt da draußen wirklich hören, was er zu sagen hatte? Er war kein Prophet, aber die Fans betrachteten seine Worte als Evangelium. Er hatte sich nie bemüht, sexy zu sein, trotzdem galt er als einer der begehrtesten Junggesellen der Welt. (Absatz)Bei diesem Gedanken grinste Billy gegen seinen Willen. Das war aber auch zu komisch. Da tauchte er vor ein paar Jahren aus dem Nichts auf, ein rebellischer Junge aus der Vorstadt, der nur wenig vorzuweisen hatte. Eigentlich gar nichts, außer einem beachtlichen Jugendstrafregister, ein paar geschmissenen Aushilfsjobs, jeder Menge Wut und Frust und einer durch Diebstähle finanzierten 2000-$-Gitarre. Und da dachte sich ein cleverer[red] Plattenboß[/red] (Plattenboss): „Das ist das Gesicht des nächsten Jahrhunderts!“, gab ihm einen Vertrag und einen Haufen Kohle, und – zack! – da war er ein Superstar.

Kopfschüttelnd stand Billy auf und ging ins Bad. Etwas unschlüssig betrachtete er die luxuriöse Dusche. Eigentlich [red] müßte [/red] (müsste) ich als Rockstar in die Dusche oder wenigstens ins Waschbecken pissen, dachte er schmunzelnd, entschied sich dann aber doch für die Toilette. (Absatz)Nach getaner Arbeit überlegte er, ob er noch duschen oder direkt vor dem Fernseher einschlafen wollte. Er [red] schloß [/red] (schloss) einen [red] Kompromiß [/red] (Kompromiss) mit sich selbst, warf sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, trocknete es ab und versuchte, ins Hotelzimmer zurück zu gehen. Es blieb allerdings bei dem Versuch. Denn dummerweise fand er das Zimmer nicht hinter der Tür vor. Da war eine irgendwie steril wirkende dunkle Straße, spärlich aber gleichmäßig von Laternen beleuchtet. Verwundert rieb Billy sich die Augen, doch die Straße war noch immer da. Billy rieb noch mal, aber das Ergebnis blieb das gleiche. Ich habe doch zu viel gesoffen, dachte er, ging ins Bad zurück und zog die Tür hinter sich zu. Er atmete tief durch, dann öffnete er die Tür erneut und fand, nun weniger überraschend, noch immer die fremde Straße dort vor. „Okay, okay, nicht mit mir…“(Komma) murmelte Billy vor sich hin. Er trat beherzt mitten auf die Straße, warf die Badezimmertür hinter sich zu und breitete die Arme weit aus, als er rief: „Ja, ist okay, hab kapiert!“ Suchend sah er sich um, aber als nichts geschah, versuchte er es noch einmal: „Ich bin Billy McEhren und ich wurde gepunk’d!“ Doch der erwartete MTV-Schelm Ashton Kutcher zeigte sich noch immer nicht. Jetzt wurde es doch etwas unheimlich.

Billy drehte sich um und wollte ins Badezimmer zurückgehen, um herauszufinden, wie zum Teufel die es geschafft hatten, diese riesige Kulisse zu ihm oder wahlweise ihn zu dieser riesigen Kulisse zu transportieren. Von außen sah die Tür aus, als führe sie zu einem Heizungskeller und sie war, wie Billy nur eine Sekunde später bemerkte, verschlossen. Zudem war sie keineswegs Teil einer riesigen Kulisse, sondern gehörte zu einem durch und durch echten grauen Haus, das sich – abgesehen von dieser roten Stahltür – keineswegs von den anderen echten grauen Häusern unterschied, die die Straße säumten. (Absatz)Ratlos trat Billy einen Schritt zurück und sah sich erneut um. Ihm bot sich nur leider nichts[red] neues[/red] (Neues). Da waren die Häuser, grau und stumm, da war die Straße, die in beide Richtungen gleich aussah und da waren die Laternen mit ihrem fahlen sterilen Licht. Billy ging ein paar Schritte die Straße hinunter, um zu sehen, ob Ashton Kutcher vielleicht doch irgendwo auf der Lauer lag und sich darüber totlachte, dass sein blöder Gag so überzeugend wirkte. Aber keine Spur von ihm. (Absatz)Dafür fiel Billy etwas auf, was er vorher nicht bemerkt hatte. Der dumpfe Hall seiner Schritte, die völlige Windstille… Die minimale Geräuschkulisse war nicht die einer Straße. Es war die einer menschenleeren Halle; die eines geschlossenen Raumes. Also doch eine Kulisse! Vielleicht war dies der Streich eines anderen Witzboldes, der Prominente vor seine versteckte Kamera lockte und er zeigte sich nicht, weil er aufgrund Billys Annahme, Opfer von „Punk’d“ geworden zu sein, beleidigt war. Das [red] mußte [/red] (musste) es sein! (Absatz)Billy ging weiter, schaute sich neugierig um, doch nichts regte sich hinter den schwarzen Fenstern und er konnte auch nirgendwo eine Kamera ausmachen. Sein Blick wanderte schließlich nach oben und was er sah, bestätigte den Verdacht, sich in einem Fernsehstudio zu befinden. Es gab keinen Nachthimmel, keine Sterne, keinen Mond. Da war in ganz weiter Ferne ein endloses Feld aus grauen Styroporfliesen, wie sie in manchen alten Tonstudios zur Schalldämmung benutzt wurden. (Absatz)Billy lachte sich ins Fäustchen. Er hatte den blöden Witz von Anfang an durchschaut. „Ihr könnt rauskommen!“(Komma) rief er und diesmal erhielt er eine Art Antwort. Ein leises mechanisches Surren, dessen Ursprung irgendwo hinter den grauen Häusern zu liegen schien. Zufrieden schlenderte Billy weiter und blieb auf einer T-Kreuzung stehen. Das Geräusch kam eindeutig aus der Straße, die dort abging, doch das, was dieses Geräusch verursachte – ein Kamerawagen, wie Billy annahm -, [red] mußte [/red] noch außer Sichtweite sein. Er[red] beschloß[/red] (beschloss), dort zu warten, bis der bemitleidenswerte Scherzkeks sich zeigen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

Eine Weile stand Billy einfach nur da und starrte wartend die Straße hinunter. Das Geräusch wurde mit der Zeit lauter, doch zu sehen war noch immer nichts. Langsam überkamen Billy auch Zweifel am Verursacher des Geräusches. Für einen Kamerawagen klapperte und summte es schon ziemlich laut, soweit er es aus der Entfernung beurteilen konnte. Er[red] beschloß[/red] , der Sache auf den Grund zu gehen. Wer auch immer ihn hier verulken wollte, er würde es ihm nicht leicht machen. Entschlossen ging er auf die einmündende Straße zu und erkannte, dass diese offensichtlich einen Hügel hinunter führte. An ihrem sichtbaren Ende verschwanden sie und die grauen ewig gleichen Häuser am Horizont. Und dort bewegte sich auch etwas, wie die dem Objekt entgegen jeder Regel der Physik vorauseilenden Schatten vermuten ließen. Billy ging schneller, bis er endlich sehen konnte, dass es kein Kamerawagen war.

Die merkwürdigen roboterähnlichen Gerätschaften bewegten sich konstant summend mit mittlerer Geschwindigkeit auf ihn zu. Sie füllten fast die ganze Breite der Straße aus und zum ersten Mal wurde Billy[red] bewußt[/red] (bewusst), dass diese keinen Gehweg hatte. Sie hörte einfach direkt an den Häusern auf. Und auch Türen schienen diese nicht zu haben, abgesehen von der roten Stahltür, durch die Billy aus dem Hotelbadezimmer auf diese seltsame Straße gekommen war. (Absatz)An vorderster Front der Maschinen gingen zwei kniehohe Roboter, die aussahen, als habe man an einen sehr futuristischen Motorradhelm zwei hydraulische Beine geschraubt. Die „Köpfe“ bewegten sich monoton drehend von links nach rechts, offensichtlich, um den Blickwinkel ihrer Kameras zu ändern und die Breite der Straße überschauen zu können. Hinter diesen Maschinen bewegte sich etwas langsamer ein riesiger undefinierbarer Haufen aus Metall. Er schien weder ein Vorne noch ein Hinten noch Seiten zu haben; er rotierte und überall ragten seltsame Apparaturen heraus, teilweise an hydraulischen Armen, teilweise einfach aus irgendwelchen Öffnungen.

Nachdem Billy die erste Verwirrung überwunden hatte, rannte er instinktiv in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Was auch immer diese Dinger waren, freundlich gesonnen waren sie ganz sicher nicht. Während Billy rannte, verwarf er auch endlich die Annahme, irgendeine Show versuche, ihn quotenträchtig hereinzulegen. In seiner Panik fiel ihm zu spät auf, dass er von einer T-Kreuzung aus losgegangen war und er diese längst erreicht haben[red] müsste[/red]. Dem war aber eben nicht so – die Straße ging geradeaus einfach weiter. (Absatz)Hinter sich hörte er die trotz ihres geringen Tempos immer näher(getrennt)kommenden Maschinen. Blindlings rannte er weiter, stolperte, fing sich und rannte. Vielleicht träume ich, durchfuhr es ihn. Vielleicht habe ich wirklich zu viel gesoffen und bin im Klo einfach umgekippt. Das passiert ständig, redete er sich ein, viele Rockstars sind in Hotelzimmern gestorben. Vielleicht will das Schicksal, dass ich ein Klischee erfülle. Schnell gelebt, jung und einsam gestorben… (Absatz)Während Billy halbherzig darüber nachdachte, ob er bereits tot oder doch nur im Koma sei, realisierte er, dass er auf eine graue Häuserfront zulief. Nach Luft ringend blieb er stehen; nur drei oder vier Meter trennten ihn von der grauen Mauer. Er sah sich suchend nach einem Ausweg um und [red] mußte [/red] zu seinem Entsetzen feststellen, dass er in einer Sackgasse gelandet war. In der Entfernung konnte er bereits die Maschinen sehen, die beständig, mit aller Zeit der Welt, auf ihn zukamen. Es blieben nur die Fenster… (Absatz)Billy stürmte zu einem der Häuser, links von ihm, und schlug mit voller Wucht vor eine der schwarzen Scheiben im Erdgeschoß, doch diese brach nicht. Mit einem lauten Fluch schüttelte Billy die schmerzende Faust. Unmöglich! Das war doch nur Glas! dachte er, doch ein zweiter Schlag mit der anderen Hand belehrte ihn eines Besseren. Es war doch möglich: Die Scheibe brach nicht. (Absatz)Fieberhaft überlegte er, was er jetzt tun konnte. Warten, bis die Maschinen ihn erreicht hätten, schien die einzige Option zu sein. Und er würde kämpfen, wenn es sein[red] musste[/red]. Innerlich machte er sich bereit, so wie damals, auf den Straßen seiner Heimat. Mit dem feinen Unterschied, dass er damals gegen andere Jugendliche gekämpft hatte, nicht gegen riesige Roboter und seltsame kleine Maschinen…

„Hey, hierher!“(Komma) [red] riß [/red][red] riß [/red] (riss) ihn plötzlich eine Stimme aus der Konzentration. Erschrocken fuhr Billy herum und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass eines der Häuser hinter ihm doch eine Tür hatte. Sie hob sich deutlich von der Umgebung ab, denn sie war nicht grau. Es war eine hölzerne Haustür mit dezenten Schnitzereien, zu der drei flache Stufen führten. Eine gewöhnliche Haustür, wie es sie überall auf der Welt gab. Und sie war einen Spalt breit geöffnet. Billy entschied spontan, dass es besser war, sich auf das Unbekannte hinter der Tür zu stürzen, statt auf die Ankunft der Maschinen zu warten. Er rannte auf das Haus zu, sprang die Stufen hinauf und stürmte durch die Tür ins Innere, dann warf er sie sicherheitshalber zu.

Irgendwie war Billy nicht sonderlich überrascht, als er feststellte, dass das Haus, in dem er sich nun befand, völlig leer war. So leer wie ein gerade fertig(getrennt)gestellter Neubau. Keine Tapeten, keine Teppiche, keine Lampenfassungen, nicht einmal Zimmertüren. Die Fensterscheiben wirkten von innen genauso schwarz wie von außen und auch als Billy näher heranging, konnte er nicht auf die Straße sehen. (Absatz)Aber von irgendwoher kam Licht. Er ging durch eine leere Türöffnung in den Korridor, wo eine Treppe nach oben und eine andere nach unten, vermutlich in den Keller, führte. Und so unlogisch es Billy auch erschien, das Licht kam von unten. „Ist hier jemand?“(Komma) rief er. Seine Stimme hatte keinen Hall, obwohl um ihn herum nur große leere Räume waren. Da jedoch keine Antwort kam, atmete er tief durch und ging die Kellertreppe hinab. Was er dort vorfand, war ein schmaler Raum; gerade einmal so breit wie die Treppe selbst, an dessen Ende eine weitere Tür war. Auch diese war aus Holz, allerdings wesentlich schlichter als die Haustür. Eine solche Tür fand man üblicherweise an Schuppen, Garagen, Gartenhäusern oder eben in Kellern. Noch etwas hatte die Kellertür mit der Haustür gemeinsam: Sie stand etwas offen. Und die Lichtquelle befand sich eindeutig hinter ihr. (Absatz)Vorsichtig näherte Billy sich der Tür und zog sie auf. Hinter der Tür befand sich ein typischer Kellergang, eng, weiß gekalkt und von einfachen Wandlampen beleuchtet. Unter einer davon lehnte eine junge Frau in Lederklamotten und musterte Billy mürrisch. Ihr wasserstoffblondes Haar war vermutlich schulterlang, allerdings hatte sie es wie in einem Achtziger-Jahre-Remake zu einem wilden Mob auftoupiert. Eine Fliegerbrille hielt die vorderen Strähnen nur notdürftig im Zaum. „Dachte schon, ich wäre zu spät gekommen“, sagte sie. Billy starrte sie erstmal einfach nur an. Sie nickte in den Gang und wandte sich zum Gehen. „Ist schon okay, du bist vermutlich so verwirrt, wie jeder andere Neuankömmling. Gehen wir und hoffen, du findest die Sprache bald wieder.“ (Absatz)Billy blieb wie angewurzelt stehen. „Wo bin ich?“(Komma) brachte er hervor. Überrascht zog die Frau eine Augenbraue hoch. „Woanders“, sagte sie dann schulterzuckend. „Äh…“ machte Billy. (Absatz)Unbeeindruckt zog sie die Kellertür zu und ging tiefer in den Gang. Zögernd folgte Billy ihr. „Und wie bin ich hierher gekommen?“(Komma) fragte er. „Ich meine, ich sollte eigentlich in meinem Hotelzimmer sein! Statt dessen bin auf irgendeiner Straße gelandet, die ich noch nie gesehen habe!“ (Absatz)Wieder zog sie nur die Schultern hoch. „Bist du aber nicht. So ein Pech, wie?“ (Absatz oder Trennstrich)„Moment!“ Billy hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. „Was soll das heißen?“ Jetzt blieb die Frau stehen und lehnte sich wieder an die Wand. Sie griff in die Innentasche ihrer Lederjacke, zog eine Packung Kaugummi heraus und schob sich einen Streifen in den Mund. Dann hielt sie Billy die Packung hin und nickte ihm aufmunternd zu. Dankend schüttelte er den Kopf. „War ein schlechter Einstieg“, erklärte sie. „Ich bin Binary. Und du heißt…?“ (Absatz)Wieder verschlug es Billy die Sprache. „Ich will ja nicht prahlen, aber eigentlich solltest du wissen, wer ich bin!“(Komma) erwiderte er etwas beleidigt. (Absatz)„So?“ Binary hob skeptisch eine Augenbraue. „Und woher? Kann mich nicht dran erinnern, dass wir uns schon mal gesehen haben.“ (Absatz oder Trennstrich)„Ich bin Billy McEhren. War letzten Monat auf dem Cover von der Rock Hard.“ (Absatz oder Trennstrich)„Hm.“ Binary nickte nachdenklich und steckte die Kaugummis wieder in die Tasche. „Rock Hard, ja? Kenn ich nicht“, sagte sie dann. (Absatz)Genervt verdrehte Billy die Augen. „Lebst du hinter dem Mond oder so? Ich hab mehr Specials auf MTV und VH1 gehabt als Michael Jackson! Jeder Trottel kennt mich!“ (Absatz oder Trennstrich)„Bin aber kein Trottel“, konterte Binary gelassen. „Und ich lebe nicht hinter dem Mond, sondern woanders.“ (Absatz)„Wo wir schon bei örtlichen Begebenheiten sind“, seufzte Billy. „Wie wäre es, wenn du mir endlich verrätst, wo ich gelandet bin?“ Binary grinste nur. „Woanders“, erwiderte sie schließlich und ging tiefer in den Kellergang. Leise vor sich hin fluchend folgte Billy ihr. Das alles war ein verdammt schlechter Witz, wie er fand.

Eine Weile trottete er schweigend hinter Binary her, dann fragte er: „Wohin gehen wir überhaupt? Sag jetzt nicht ‚woanders hin’, dann kriege ich die Krise!“ (Absatz oder Trennstrich)„Wir gehen nach Anasazi“, gab Binary gleichgültig zurück. „Was?“(Komma) erwiderte Billy wütend. „Nie davon gehört!“ (Absatz)Wieder blieb Binary stehen, denn sie hatte eine geschlossene Kellertür erreicht. „Anasazi liegt hinter dieser Tür. Es ist unsere größte Kolonie, abgesehen von Sumer.“ (Absatz oder Trennstrich) „Was?“(Komma) wiederholte Billy, nun endgültig verwirrt. „Erklär mir doch endlich, was hier los ist!“ (Absatz oder Trennstrich)„Ist nicht mein Job“, sagte Binary seelenruhig. „Wird dir alles der Hohe Rat erklären.“ (Absatz)Sie öffnete die Tür und Billy gingen die Augen über. Statt [red] dem erwarteten Kellerraum [/red] (des erwarteten Kellerraums) erstreckte sich eine Höhle von unüberschaubarer Größe vor ihm, in der Wagenburgen, Zelte und aus irgendwelchem Gerümpel gebaute Behausungen lagen. Es wimmelte nur so vor Menschen verschiedenster Herkunft, an manchen Stellen brannten Feuer und Wäscheleinen zogen sich quer durch die verwinkelten Schluchten. „Was zur Hölle…?“(Komma) begann Billy stammelnd. „Das ist Anasazi“, antwortete Binary trocken und schob ihn durch die Tür, um diese hinter sich zu schließen.

„Wir gehen zuerst zur Registrierungsstelle, dann zum Hohen Rat“, erklärte Binary, als sie die in den schwarzen Fels geschlagenen Treppenstufen, die zum Grund der Höhle führten, hinter sich gelassen hatten. „Registrierungsstelle?“(Komma) wiederholte Billy verständnislos, folgte Binary aber dennoch durch die Schluchten zwischen den zusammen gewürfelten Behausungen. „Registrierungsstelle“, bestätigte sie. „Du wirst dort einen Code bekommen, der um ein Zeichen von meinem abweicht(Anführungszeichen). (Absatz)Sie zog im Gehen die Lederjacke aus und hielt Billy ihren Unterarm hin. Darauf war ein langer Code tätowiert, der aus verschiedenen Buchstaben, Zahlen und Symbolen bestand und sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen erstreckte. „Das erste Zeichen, ganz unten, wird weggelassen, statt dessen wird der Code um ein von dir gewähltes Symbol ergänzt. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, damit wir genau zurückverfolgen können, wer wen hierher geführt hat.“ (Absatz oder Trennstrich)„Und wovor [red] müßt [/red] ihr euch schützen?“(Komma) fragte Billy, noch immer ziemlich verständnislos. „Vor Infiltration. Wenn wir auffliegen, war alles umsonst und die Kolonien sind dem Untergang geweiht.“ (Absatz oder Trennstrich)„Aha“, sagte Billy, aber wirklich kapiert hatte er noch nicht, was all das sollte.

Binary machte an einem Häuschen Halt, das aus verschiedenen Brettern und Pappen gezimmert worden war. Es erinnerte ein wenig an eine Zollstation, ein wenig aber auch an die kleinen Hütten, in denen Figuren von Märchenparks auf Knopfdruck ihr kurzes Theater vorführten. Auf Binarys Klopfen an der halbherzig in den Angeln hängenden Tür öffnete ein Mann Mitte fünfzig, der jedem Klischee eines Altrockers gerecht wurde. Wortlos musterte er Billy durch seine Sonnenbrille, dann griff er in ein Bonbonglas, das mit allerlei Schnickschnack gefüllt war und zog eine Handvoll heraus, die er Binary gab. Es waren zwei Murmeln, ein Karamelbonbon und eine winzige Spielzeuglokomotive. Binary nickte, offensichtlich zufrieden, und ließ diese Schätze in ihrer Innentasche verschwinden. Das Geschäft war damit scheinbar abgeschlossen und der Rocker wandte sich Billy mit einem freundlichen Grinsen zu. „Immer rein in die gute Stube, setz dich ruhig!“ (Absatz)Er deutete einladend auf den speckigen Sessel im Inneren des Häuschens. Billy ließ sich widerstandslos von Binary hinein(getrennt)schieben und nahm Platz, Binary selbst blieb wartend in der Tür stehen. (Absatz)Der Rocker zog einen kleinen Hocker heran und hielt Billy die ausgestreckte Hand hin. „Herzlich willkommen in Anasazi erstmal!“(Komma) begrüßte er ihn. Zögernd schüttelte Billy die Hand. „Ich bin der verheimlichte Sohn von Pablo Picasso“, erklärte der Rocker, während er sein Tätowierbesteck auf einem Tischchen neben dem Sessel zurechtlegte. „Nenn mich einfach Ernest.“ (Absatz oder Trennstrich)„Okay…“(Komma) sagte Billy irritiert. Was [red] besseres [/red] (Besseres) fiel ihm darauf nicht ein. (Absatz)Ernest warf seine Tätowiermaschine an und [red] wank [/red] (winkte) Binary herüber. „[red] Laß [/red] (Lass) mal sehen, was wir da heute haben“, sagte er fröhlich. (Absatz)„Du kannst dir meinen Code noch immer nicht merken?“(Komma) gab Binary amüsiert zurück. Ernest sah grinsend zu ihr auf. „Bin ein alter Mann, meine Liebe!“ Dann begann er, die Symbole und Schriftzeichen von ihrem Arm auf Billys zu übertragen.

Während er tätowierte, wirkte Ernest sehr konzentriert hinter seiner Sonnenbrille und Billy überlegte für einen Moment, ihn darauf hinzuweisen, dass er ohne sie vermutlich besser sehen könne. Doch Ernest begann von sich aus eine andere Unterhaltung. „Und, mein Junge? Was bist du?“ (Absatz oder Trennstrich)„Wie, was bin ich?“(Komma) erwiderte Billy etwas ratlos. Ernest tunkte die Nadel wieder in die Farbe. „Na, was machst du so?“ (Absatz oder Trennstrich)„Hm“, antwortete Billy zögernd. „Ich mache Musik.“ (Absatz)Erfreut sah Ernest auf. „Und, bist du gut darin? Ich meine, hast du Erfolg? Bist du berühmt?“ (Absatz oder Trennstrich)„Dann kennen [red] sie [/red] (Sie) mich also auch nicht, ja?“(Komma) gab Billy zurück. (Absatz)Überrascht unterbrach Ernest seine Arbeit. „Nein, sollte ich denn?“ (Absatz oder Trennstrich)„Ich bin Billy McEhren. Ich hab neun goldene Schallplatten, fünf Platinplatten und meine Biographie lief letztes Jahr im Kino.“ (Absatz oder Trennstrich)„Oh!“ Bewundernd musterte Ernest ihn, dann sah er zu Binary[blue] herüber[/blue] (hinüber), die sich auf einem alten Klappstuhl neben der Tür niedergelassen hatte. „Ein rebellischer Superstar! Das hatten wir lange nicht mehr!“ (Absatz oder Trennstrich)„Was? Was soll das heißen? Machen [red] sie [/red] (Sie) sich über mich lustig oder so?“(Komma) fuhr Billy ihn etwas ruppiger als gewollt an. Ernest schüttelte energisch den Kopf. „Himmel, Junge, ich bin der verschwiegene Sohn von Picasso! Ich bin sicher nicht in der Position, mich über andere lustig zu machen!“ (Absatz oder Trennstrich)„Hm, okay“, nickte Billy entschuldigend und entschied für sich, es schlicht und ergreifend mit einem bisher harmlosen Irren zu tun zu haben. (Absatz)„So, dann wollen wir mal sehen…“(Komma) murmelte dieser in seinen Bart und ließ den Blick prüfend über Billys tätowierte Arme wandern. „Ah, ja, das hier!“ Er deutete auf das Logo von Billys erstem Album, das auf seinem rechten Unterarm prangte. „Das ist ein gutes Symbol!“ Ohne weiter nachzufragen(Komma) fügte er dem fast fertigen Code auf dem anderen Unterarm eine Miniaturausgabe des Logos hinzu. „Fertig!“(Komma) rief er dann stolz und legte die Tätowiermaschine zur Seite. [red] Mißtrauisch [/red] (Misstrauisch) beäugte Billy das Kunstwerk. „Und jetzt?“(Komma) wandte er sich dann fragend an Binary. „Jetzt gehen wir zum Hohen Rat“, sagte diese.

Der Hohe Rat entpuppte sich als ein älterer Herr, der so aussah, wie man sich als Kind den lieben Gott vorstellt. Er trug eine lange weiße Robe, hatte einen langen weißen Rauschebart und langes weißes Haar. Er sah Billy freundlich aus seinen weisen alten Augen an, die im faltigen Gesicht nur unter den buschigen weißen Augenbrauen zu erahnen waren. Er schritt dabei langsam vor einer Art Thron auf[blue] – [/blue] (überflüssig) und ab und stützte sich auf einen lächerlichen Stab, offensichtlich ein Besenstiel, der mit silberner Folie umklebt worden war. „Herzlich willkommen in Anasazi!“(Komma) sagte er schließlich und setzte sich auf seinen Thron. Billy blieb mit [red] mißtrauischem [/red] (misstrauischem) Blick vor ihm stehen. (Absatz)„Er ist registriert“, sagte Binary, die neben der Tür des Wohnwagens an der Wand lehnte. Der Hohe Rat nickte abwesend, dann lächelte er Billy zahnlos an. „Ich bin der Zwillingsbruder von Moses“, erklärte er. Sein fast zu freundlicher Tonfall verlieh ihm etwas von einem Heimerzieher, der es tagtäglich mit geistig minderbemittelten Kindern zu tun hatte. „Aber hier nennt man mich Kenny“, fügte er an. „Kenny?“(Komma) wiederholte Billy skeptisch wie amüsiert. (Absatz)Der Hohe Rat ging weder auf die eine noch auf die andere Regung ein, und erwiderte freundlich: „Ganz genau. Kenny.“ (Absatz oder Trennstrich)„Und [red] sie [/red] (Sie) verraten mir endlich, was hier los ist?“(Komma) fragte Billy weiter. Der Hohe Rat nickte. „Natürlich, das ist meine Aufgabe.“ (Absatz oder Trennstrich)„Okay, sehr gut!“(Komma) stellte Billy zufrieden fest. „Dann [red] wüßte [/red] ich gerne, wo ich bin. Ich meine, Anasazi, schön und gut, aber wie bin ich hier gelandet und warum? Eigentlich sollte die Tür, durch die ich gegangen bin, nämlich in ein Hotelzimmer führen, nicht auf diese komische Straße da oben…“ (Absatz)Der Hohe Rat hörte weise lächelnd zu und wartete, bis Billy eine Pause machte. „Der Ort da oben nennt sich ‚woanders’. Es ist ein Nicht-Ort, weil er zwischen allen tatsächlichen Orten ist. Aber fangen wir lieber am Anfang an…“ (Absatz)Billy wollte gerade Einspruch erheben, nickte aber nun dankbar. „Würde mir deutlich weiterhelfen“, sagte er.

Kenny räusperte sich lautstark, dann begann er: „Die Welt, die du kennst, in der sich das Hotelzimmer und so befindet, hat der Schöpfer erdacht. Es ist allerdings nur eine von vielen Welten, die er erfunden hat. Er hat sich auch dich ausgedacht und dein Leben…“ (Absatz oder Trennstrich)„Moment!“(Komma) unterbrach Billy. „Wer ist dieser ‚Schöpfer’? Ist das euer Gott oder so? Betet ihr ihn an?“ (Absatz oder Trennstrich)„Oh nein!“(Komma) versicherte Kenny kopfschüttelnd. „Wir hassen ihn! Die meisten jedenfalls… Denn wir sind, wie du auch, seine verworfenen oder nicht zu Ende gedachten Ideen! Deshalb bist du hier gelandet! Der Schöpfer hat uns alle auf Eis gelegt, weil er nicht[red] wusste[/red], was er mit uns anfangen soll!“ (Absatz)Er kicherte boshaft in seinen Bart, bevor er fort fuhr: „Aber er weiß nicht, dass wir hier, in seinem[red] Unterbewusstsein[/red] (Unterbewusstsein) , weiter existieren und unser eigenes Schicksal erdenken!“ (Absatz)Verwirrt schüttelte Billy den Kopf. „Angenommen, das, was [red] sie [/red] (Sie) sagen, ist nicht kompletter Bullshit…“(Komma) begann er, doch Kenny unterbrach ihn beschwichtigend. „Ich weiß, es ist schwer zu verstehen… Aber du [red] mußt [/red] das komplexe System der Existenz an sich verstehen, dann verstehst du auch dein eigenes Dasein.“ (Absatz oder Trennstrich)„Dann erklären [red] sie [/red] es mir!“ Kenny nickte und lächelte weise vor sich hin. Dann fragte er: „Wenn du zu den Sternen geschaut hast, hast du dich dann manchmal gefragt, ob das Universum wirklich unendlich ist?“ Zögernd nickte Billy. „Klar, das hat vermutlich jeder Mensch. Aber was hat das hiermit zu tun?“ (Absatz oder Trennstrich)„Die Antwort ist: Es ist unendlich. Und es gibt unendlich viele Welten darin, Multiversen. Jede Welt, die irgendwer sich irgendwo ausgedacht hat, existiert darin. Und in diesen erdachten Welten gibt es wieder Personen, die sich Welten ausdenken und so weiter und so weiter. Jeder, egal wo und egal in welchem Multiversum, ist nichts weiter als die Erfindung einer anderen erfundenen Person. Und diese kreative Matrix setzt sich unendlich fort. Aus jedem Multiversum erblühen unendlich viele neue Multiversen und aus denen wieder neue… Es ist ein ewig fortlaufendes, sich selbst erhaltendes und dabei in alle Richtungen ausdehnendes System.“ (Absatz)Billy wollte unterbrechen, doch der Hohe Rat sprach einfach weiter: „Es gibt unzählige wie mich, unzählige wie dich und unzählige Welten wie die deine. Und das Geheimnis, die Antwort auf die große ewige Frage nach dem Sinn des Lebens, ist derart simpel, dass es schon fast weh tut. Es gibt keinen Sinn des Lebens, weil es kein wirkliches Leben gibt. Weil wir alle, und alles(Komma) was existiert, nicht real ist. Das ist die schmerzliche Wahrheit.“ (Absatz)Billy starrte ihn eine Weile einfach nur an. „Soweit, so gut“, sagte er schließlich. „Und seit wann geht das schon so?“ (Absatz)Kenny schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Diese Frage [red] läßt [/red] (lässt) sich nicht beantworten. Es war schon immer so. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, denn auch die Zeit ist nichts weiter als eine Erfindung des Schöpfers.“ (Absatz oder Trennstrich)„Und wer ist dieser Schöpfer?“(Komma) fragte Billy[red] misstrauisch[/red] .(Absatz) Der Hohe Rat zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Niemand hat ihn je gesehen. Manche hier suchen nach Wegen, sich ihm wieder [red] bewußt [/red] zu machen, um in ihr altes Multiversum zurückkehren zu können. Andere wollen den Schöpfer töten, denn wenn er aufhört zu existieren, würden wir aus diesem Zwischendasein seines [red] Unterbewußtseins [/red] befreit werden. Wir wären frei, uns unsere eigenen Multiversen zu schaffen und selbst zu Schöpfern zu werden.“ (Absatz oder Trennstrich)„Aha“, sagte Billy unschlüssig. „Und was davon ist besser?“ (Absatz oder Trennstrich) „Das [red] muß [/red] jeder für sich entscheiden!“(Komma) verkündete der Hohe Rat mit wichtiger Miene. „Schließlich sind wir an diesem Ort nicht mehr seiner Vorbestimmung unterworfen und können selbst wählen!“ (Absatz)Er stand von seinem Thron auf und wandte sich zum Gehen. „Das ist alles, was ich dir sagen kann, Rockstar Billy McEhren.“ Er humpelte zu einem Vorhang neben dem Thron und verschwand. Billy sah ihm verwirrt nach, dann wandte er sich zu Binary um, die gelangweilt neben der Tür wartete. „Und jetzt?“(Komma) fragte er. „Jetzt zeig ich dir die Stadt“, sagte sie.

Anasazi war noch größer, als Billy auf den ersten Blick vermutet hatte. Von der laut Binary von über 5000 Menschen bewohnten Haupthöhle gingen acht kleinere Höhlen ab, in denen die dicht bevölkerten Außenbezirke lagen. „Was warst du eigentlich?“(Komma) erkundigte Billy sich, während Binary ihn durch die Gassen führte. So langsam hatte er sich mit der bizarren Erklärung des Hohen Rates abgefunden, obwohl er noch nicht ganz sicher war, dass dies nicht nur ein verdammt komischer und verdammt realistischer Traum war. „Ich war Superheldin in einem nie zu Ende geschriebenen Drehbuch für einen Fantasyfilm“, gab Binary gleichgültig zurück. „Wow!“(Komma) lachte Billy. „So richtig mit Superkräften und so?“ Sie nickte. „Jup. Die habe ich immer noch. Ich bin eine waschechte Technomutantin.“ Billy blieb stehen und musterte sie prüfend. „Komm, jetzt verarscht du mich aber!“ Binary schüttelte den Kopf. „Tu ich nicht. Ich kann Computer geistig beeinflussen. Darum bin ich nicht so sehr wie andere Kollektoren gefährdet, wenn ich woanders hin gehe.“ (Absatz oder Trennstrich)„Hä?“(Komma) erwiderte Billy. „Kollektoren sind die, die Neuankömmlinge woanders auflesen und in die Kolonien bringen. Wir haben alle die Fähigkeit, den Schleier des Vergessens für einen Moment zu durchdringen oder arbeiten mit jemandem, der es kann. Gefährlich ist der Job trotzdem, aber gut bezahlt.“ (Absatzz oder Trennstrich)„Schleier des Vergessens?“(Komma) wiederholte Billy fragend. „Die Häuser, die Straße, die Maschinen. Das ist alles eine Fassade. Eine Metapher für den [red] Prozeß [/red] (Prozess) des Vergessens“, erklärte sie. „Der Schöpfer stellt sich das Vergessen so vor. Zum Glück für mich, denn vermutlich gibt es Multiversen von Schöpfern, bei denen ich mit meiner Technomutation nichts gegen das Vergessen ausrichten könnte.“ (A o Tr)„Okay…“(Komma) murmelte Billy nachdenklich. „Und gibt es noch andere mit Superkräften hier?“ Binary grinste breit. „Du ahnst ja nicht, was es hier alles gibt! Komm, ich führ dich ein wenig in den Außenbezirken herum!“ (A o TR)„Klingt gut“, gab Billy zurück, doch Binary [red] wank [/red] (winkte) lachend ab. „Warte, bis du es gesehen hast…“

Sie ging weiter und Billy folgte ihr eilig, um im regen Treiben den [red] Anschluß [/red] (Anschluss) nicht zu verlieren. Urplötzlich blieb Binary stehen und Billy erkannte fast zu spät, warum sie nicht weiterging. Vor ihnen ging es steil abwärts, denn der Teil der Stadt lag gut zweihundert Meter unterhalb des Zentrums. Aus der kesselförmigen Schlucht ragte ein spitzer schwarz(getrennt)glänzender Felsen auf, dessen Oberfläche wie ein Bienenstock von Höhlenöffnungen überzogen war. „Wow, was ist das denn?“(Komma) brachte Billy beeindruckt hervor. Sein Blick wanderte die Wände des Kessels entlang, die ebenfalls zahllose Eingänge aufwiesen. „Dieser Stadtteil heißt Obsidian“, erklärte Binary. „Hier leben die Vampire.“ (A o TR)„Vampire?!“ Ungläubig starrte Billy sie an. Binary nickte stumm. „Und die… beißen Leute?“(Komma) fragte er. Binary nickte erneut. „Ja, aber das macht nichts“, sagte sie dann schulterzuckend. „Wir sind vergessen worden, also existieren wir außerhalb der Zeit und haben mit dem Kreislauf von Leben und Sterben nichts mehr am Hut. Wir altern nicht, wir sterben nicht, wir kriegen keine Kinder.“

Billy schrak zurück(Komma) als eine Fledermaus mit beachtlichem Tempo aus einer der Höhlen auf ihn[red] zuschoß[/red] (zu schoss) . Doch bevor das Tier mit ihm kollidierte, verpuffte es in einer dichten schwarzen Rauchwolke, aus der eine Sekunde später ein schlampig gekleideter Mann trat. Er trug eine Sonnenbrille, die aus den Siebzigern stammen[red] mußte[/red] , ein früher vermutlich einmal weißes Feinrippunterhemd und zerschlissene Jeans. Um die Hüfte hatte er ein kariertes Hemd geknotet, das die gewisse Ähnlichkeit des Mannes mit Kurt Cobain unterstrich. „Hey, lange nicht gesehen“, begrüßte Binary ihn unbeeindruckt und wandte sich dann an den perplex neben ihr stehenden Billy. „Das ist ein Vampir.“ (Absatz)Fassungslos starrte Billy den Mann an, der grinsend seine spitzen Eckzähne entblößte. „Indigo Aurora, wenn es beliebt“, stellte er sich mit einer gekünstelten Verneigung vor. Billy nickte nur und fuhr fort, ihn anzustarren. (Absatz)Indigo wandte sich an die etwas gesprächiger erscheinende Binary. „Was treibst du so?“ (A o TR)„Zeige dem Grünschnabel die Stadt“, seufzte sie. „Hm“, machte Indigo und verzog nachdenklich das Gesicht. „Würdest lieber arbeiten, hab ich Recht?“ Binary nickte. „Job ist Job, gehört halt dazu“, erwiderte sie. „Weißt du was? Geh wieder raus, ich übernehme für dich. Hab eh gerade nix zu tun.“ (Absatz)Binary hob erfreut die Augenbrauen und wandte sich an Billy. „Was dagegen? Er beißt dich wahrscheinlich auch nicht.“ (A o Tr)„Ich hab schon gegessen“, erklärte Indigo grinsend. „Außerdem, selbst wenn, was macht das schon?“ Er schlug Billy lachend auf die Schulter. „Ist doch egal!“ (A o Tr)„Was dagegen?“(Komma) wiederholte Binary ihre Frage. Jetzt schüttelte Billy langsam den Kopf. Auch wenn der Typ ein Vampir sein sollte, erschien er ihm bei näherer Betrachtung ganz sympathisch. Schulterzuckend wandte Binary sich um und verschwand kurz darauf im Getümmel auf dem Platz.

„Weißt du, irgendwie ist es unbefriedigend, Leute zu beißen, die dann nicht sterben“, erklärte Indigo. „Hast du denn irgendeine Wahl?“(Komma) fragte Billy zögernd. Der Vampir zog unschlüssig die Schultern hoch. „Keine Ahnung“, gestand er dann fast kleinlaut. Er sah sich in alle Richtungen um, dann flüsterte er verschwörerisch grinsend: „Wenn der Schöpfer erst tot ist, werden auch die tot bleiben, die ich beiße!“ (A o Tr)„Dann willst du selbst ein Schöpfer werden?“(Komma) folgerte Billy unsicher. Indigo nickte begeistert. „Ja, ganz genau!“ (Absatz)Er musterte Billy prüfend, dann fragte er: „Und du? Willst du in dein Multiversum zurück oder willst du auch den Tod des Schöpfers?“ (A o Tr)„Ich weiß nicht“, gab Billy zurück. „Ich hatte noch nicht wirklich die Zeit, darüber nachzudenken.“ (A o Tr)„Verstehe, verstehe…“(Komma) nickte Indigo. „Dann setzen wir doch einfach die Stadtführung fort und du überlegst, okay?“ (A o Tr)„Klar, warum nicht?“(Komma) erwiderte Billy schulterzuckend. „Aber [red] muß [/red] ich mich denn direkt für was entscheiden?“ (A o Tr)„Nein, natürlich nicht!“(Komma) antwortete Indigo eilig. „Aber weißt du, wir planen da was und vielleicht willst du ja mitmachen!“ (A o Tr)„Ah“, sagte Billy etwas lahm. „Na ja, überlegen kann ich es mir ja.“ (Absatz)Indigo nickte begeistert. Er packte Billy am Arm und zerrte ihn in eine breite Gasse. Etwas überrascht von dieser plötzlichen Eile bemühte Billy sich, ihm zu folgen. „Sag mal, wie kommt es, dass das Vampirviertel so groß ist? Gibt es so viele von euch?“(Komma) rief er Indigo zu. „Momentan 1276!“(Komma) erwiderte der über die Schulter. „Aber das ist gar kein Vergleich zu den Werwölfen! Der Schöpfer [red] muß [/red] ein echter Horrorfreak sein!“

Knapp zwanzig Minuten später blieb Billy atemlos neben Indigo stehen, der sich körperlich offensichtlich überhaupt nicht hatte verausgaben müssen, während er Billy quer durch die Gassen Anasazis geführt hatte. Vor ihnen befand sich nun der Durchgang zu einer weiteren Nebenhöhle, der jedoch von oben bis unten mit Zäunen und Gittern blockiert war. „Was ist das?“(Komma) erkundigte Billy sich. „Golgatha!“(Komma) verkündete Indigo beinahe stolz. „Das Reich der Lykanthropie!“ (A o Tr)„Lykan-was?!“ Fragend sah Billy seinen Stadtführer an, dann wanderte sein Blick wieder zu dem Chaos hinter der Absperrung. (Absatz)„Die Stadt der Werwölfe!“(Komma) erklärte Indigo. „Zu ihrer und unserer Sicherheit leben sie unter sich. Jeder von ihnen hat einen eigenen Vollmond, man weiß nie, wann sie sich verwandeln.“ Verwundert musterte Billy die scheinbar ziellos umherirrenden Menschen und auch die vereinzelten Wölfe zwischen den baufälligen Ruinen und verwahrlosten Wohnwagen. „Aber wenn der Schöpfer sie doch erfunden hat, warum unterscheiden sie sich dann?“(Komma) fragte er schließlich. „Oh, das hat nichts zu sagen. Der Schöpfer denkt in zigtausend verschiedene Richtungen. Bei uns Vampiren gibt es ja auch alle möglichen Arten. Klassische Vampire, Seelenvampire, moderne Vampire… Manche sind gegen Knoblauch allergisch, manche nicht. So ist das eben.” (Absatz)Indigo [red] wank [/red] (winkte) ein uraltes Mütterchen heran, das mit einem Bauchladen durch die Gasse stakste. Er deutete einladend auf das Angebot und stieß Billy kameradschaftlich in die Rippen. „Ich lade dich ein!“ Skeptisch begutachtete Billy die bunt gemischte Produktpalette. Da lag ein in Papier gewickelter Cheeseburger, daneben befand sich eine komisch gefärbte Frucht, die abgesehen von ihrem hellen Blauton eine Birne zu sein schien, darunter lagen drei verschiedene Schokoriegel. Außerdem gab es eine Scheibe Schinken, eine Dose Thunfisch und einen ganzen Haufen wild gemischter Süßigkeiten. Nach einigem Zögern entschied Billy sich für einen der Schokoriegel. Indigo kramte daraufhin in seiner Hosentasche und zog schließlich ein Donald Duck-Bügelbild heraus, das er dem alten Mütterchen scheinbar zur Bezahlung anbot. Sie nahm das Bügelbild, drehte es in ihren uralten Händen, dann nickte sie und ließ es in einer Manteltasche verschwinden.

Während Billy den Schokoriegel aß, führte Indigo ihn weiter durch die belebten Straßen. „Sag mal, gibt es hier eigentlich eine richtige Währung? Oder irgendein System?“(Komma) fragte er ihn nach einer Weile. Indigo schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Wir tauschen, was wir haben. Aber Lebensmittel sind mit das [red] wertvollste [/red] (Wertvollste) hier.“ (A o Tr)„Äh, woher kommen die überhaupt? Denkt die auch dieser Schöpfer aus?“ Jetzt nickte der Vampir zufrieden. „Hast es endlich kapiert, ja? Dir ist das sicher auch mal passiert, dass du zum Beispiel Bock auf ein gegrilltes Würstchen hattest, aber kein Würstchen, oder?“ Billy nickte und Indigo erklärte weiter: „Irgendwann hast du das Würstchen dann vergessen, richtig?“ Wieder nickte Billy. „Und so landen hier Lebensmittel! Man ernährt sich von dem, was der Schöpfer vergessen hat zu essen.“ Grinsend fügte er an: „Mann, bin ich froh, dass ich davon nicht abhängig bin!“ (Absatz)Er sah sich kurz um, dann deutete er auf eine breite Straße, die in eine eigene längliche Seitenhöhle führte. „Ah, da wären wir auch schon! Das ist der beste Teil von Anasazi!“ (A o Tr)„Wieso, was ist das?“(Komma) fragte Billy. Die Straße unterschied sich auf den ersten Blick kein Stück von der, auf der sie sich befanden. „Das ist die Boogie Street!“(Komma) verkündete Indigo, packte Billy am Arm und zerrte ihn zu besagter Straße. „Hier leben die Ladies!“ (Absatz)Jetzt, wo der Vampir es sagte, fiel Billy auf, dass hier deutlich mehr Frauen als Männer unterwegs waren und diese Frauen waren ausnahmslos attraktiv und zumeist leicht bis gar nicht bekleidet. „Warum habt ihr die Straße nicht ‚Stairway to Heaven’ genannt?“(Komma) brachte Billy fasziniert hervor. „Weil sie nicht zum Himmel führt“, hatte Indigo eine überraschend plausible Begründung parat. (Absatz)„Wohin denn dann?“(Komma) fragte Billy, etwas abgelenkt durch die ihn umgebenden Schönheiten. „Nach Narayan“, sagte Indigo. „Willst du es sehen?“ (A o Tr)„Eigentlich finde ich es hier ganz nett!“(Komma) grinste Billy und sah sich neugierig um. Leicht verächtlich rümpfte Indigo die Nase. „War ja klar. Aber hey, mach dir keine zu großen Hoffnungen!“ (A o Tr)„Hm?“(Komma) machte Billy statt dessen. (Absatz)„Die lieben alle nur den Schöpfer“, seufzte Indigo. „Er hat sie erfunden.“ (Absatz)Tatsächlich [red] mußte [/red] Billy feststellen, dass die hübschen Gesichter alle den gleichen grenzdebilen Ausdruck von Seligkeit aufwiesen. Etwas enttäuscht folgte er Indigo, der sich seinen Weg durch die verklärt lächelnden Frauen bahnte. „Aber ich dachte, alle hier wären vom Schöpfer erfunden worden. [red] Müßten [/red] ihn dann nicht alle lieben?“

Indigo blieb stehen, um auf Billy zu warten. Als dieser ihn eingeholt hatte, seufzte er: „Nein. Schließlich wurden wir nicht alle erfunden, um ihn zu lieben. Aber diese Frauen schon. Sie sind die leicht vergänglichen und austauschbaren feuchten Träume, die Männer eben haben. Daher wissen wir übrigens, dass der Schöpfer ein Mann ist.“ (A o Tr)„Hm.“ Billy dachte angestrengt nach. „Aber der Hohe Rat sagte doch, dass hier alle frei sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Warum lieben sie den Schöpfer denn dann immer noch? Ich meine, gerade Frauen, die man nach einer Nacht fallen[red] läßt[/red] , neigen doch dazu, den Kerl dafür zu hassen.“ (A o Tr)„Sie können ihrem Sinn so wenig entkommen, wie ich meinem Vampirdasein entkommen kann. Klar, einige wenige schaffen es, sich über ihre ursprüngliche Existenz zu erheben. Manche lieben ihn auch nicht mehr“, erklärte Indigo. „Aber die leben auch nicht mehr in der Boogie Street.“ Er setzte den Weg wieder fort und Billy folgte ihm eilig. „Und wo sind die hin?“(Komma) erkundigte er sich. „Das erkläre ich dir gleich“, erwiderte der Vampir über die Schulter.

Als er wieder Halt machte, gingen Billy die Augen über. Sie standen nämlich vor einem hohen [red] gußeisernen [/red] (gusseisernen) Torbogen, um den sich weiße Rosen rankten und in der Höhle dahinter sah es aus, wie in einer viktorianischen Stadt. Reich verzierte Häuser mit ausladenden Gärten voll exotischer Pflanzen säumten die hell gepflasterten Gehwege. Abgesehen von den schwarzen Wänden der Höhle wies nichts auf die unterirdische Lage des freundlichen und gepflegten Ortes hin. (Absatz)„Das ist Narayan“, erklärte Indigo. „Hier leben die Helden, die der Schöpfer erfunden hat.“ (A o Tr)„Aha“, brachte Billy staunend hervor. „Und um deine Frage zu beantworten“, fuhr Indigo ungeachtet der vorübergehend eingeschränkten Aufnahmefähigkeit seines Begleiters fort. „Sie sind in Sumer, zumindest die meisten.“ (A o Tr)„Aha“, machte Billy wieder und starrte fasziniert das vor ihm liegende Viertel an. „Hörst du mir überhaupt zu?“(Komma) fragte Indigo zweifelnd. Billy nickte abwesend. „Sumer ist die erste und älteste Kolonie. Da leben die, die sich über ihren Seinszweck hinaus entwickelt haben. Sie haben die Macht, selbst zu schöpfen. Sie haben die Kolonien gebaut.“ (A o Tr)„Aha“, wiederholte Billy seine einsilbige Aussage. „Du hörst mir gar nicht zu!“(Komma) schmollte der Vampir. „Wenn dich das hier schon umhaut, solltest du Utopia mal sehen.“ (Absatz)Jetzt widmete Billy ihm doch wieder seine Aufmerksamkeit. „Utopia?“(Komma) fragte er. Indigo nickte. „Das ist der Ort, an dem die Aliens, Kyberneten, lebende Computer und so Freaks rumhängen. Binary wohnt dort.“ (A o Tr)„Klingt spannend.“

Auf dem Weg nach Utopia durchquerten Indigo und Billy auch andere faszinierende Teile Anasazis. In Nephilim, der Nebelwelt, begegneten sie Fabelwesen wie Irrlichtern, Elfen und Kobolden. In Gaia gab es Pflanzen der verschiedensten Sorten, angefangen von winzigen pink schillernden Farnen bis hin zu einem Mammutbaum, dessen Krone fast das gesamte Dach der Nebenhöhle ausfüllte. Bekannte und völlig fremdartige Tierarten waren in der Vielfalt beheimatet. (Absatz)Und in Kasmodiah offenbarte sich ein wildes Sammelsurium von illustren Gestalten; Minotauren und Satyre, Echsenmenschen und Lemuren, sogar zwei Lindwürmer, ein kleinerer Leviathan und ein Pegasus mit durchsichtigen Schwingen tummelten sich hier. (Absatz)„Was tun die da?“(Komma) fragte Billy, als sie an einem Haus in der Form eines riesigen Pilzes vorbeikamen, vor dem einige Männer mit schuppiger grüner Haut auf dem Boden hockten und hektisch in kleinen gelben Büchlein blätterten. Zudem sangen sie einen [red] mißstimmigen [/red] (missstimmigen) Kanon, offensichtlich in verschiedenen Sprachen, und verneigten sich immer wieder vor dem Pilz. (Absatz)„Sie beten den Schöpfer an“, sagte Indigo mitleidig. „Sie glauben, wenn sie ihm huldigen, dann erinnert er sich an sie und sie können in ihr Multiversum zurückkehren. Gibt ganz viele verschiedene Gruppen, die das auf ganz viele verschiedene Arten versuchen.“ (A o Tr)„Klappt das denn?“(Komma) fragte Billy. Indigo zog die Sonnenbrille etwas herunter, so dass Billy seine eisblauen blutunterlaufenen Augen sehen konnte. „Rate mal“, sagte er lakonisch. „Vermutlich nicht?“(Komma) riet Billy folgsam. Indigo nickte. „Natürlich nicht. Es kommt alle paar Jahre mal vor, dass der Schöpfer sich an irgendwas erinnert, was er bereits vergessen oder sogar ohne Umwege ins [red] Unterbewußtsein [/red] verdrängt hat. Und selbst dabei trifft es meist die falschen, sprich die, die gar nicht in ihr Multiversum zurückwollen.“ (Absatz)Schweigend [red] setzen [/red] (setzten) sie ihren Weg fort und als sie die Grenzen von Utopia erreichten, übertraf der Anblick der futuristischen Gebilde alles andere.

Das Zentrum des Stadtteils stellte eine gläserne Pyramide dar, die von innen heraus kobaltblau leuchtete und die Höhle in ein unwirkliches sanftes Licht tauchte. Die von aufblitzenden Neonlichtern gesäumten tiefschwarzen Straßen und Wege wirkten spiegelglatt, doch Billy rutschte kein einziges Mal aus, als sie darauf entlang gingen. (Absatz)Jedes Gebäude war völlig einzigartig in seiner Form. Während manche an riesige Lavalampen erinnerten und von pulsierenden Lichtern erfüllt wurden, waren andere aus silbrigem Material und mit seltsamen Ornamenten oder Zahlencodes bedeckt. Auch gab es aquarienähnliche riesige Kästen, in denen sich neben tentakeltragenden Aliens auch kybernetisch aufgerüstete Menschen, halbfertige Androiden und Roboter jeder Art, Funktion und Größe(Komma) aufhielten. (Absatz)An anderen Stellen bestanden die Gebäude aus silbernen Schalen, die mit dünnen stelzenartigen Beinen und Streben am Boden oder aneinander befestigt waren. Direkt dahinter gab es einen Block, der aus schwarzen Metallwürfeln bestand, deren Seiten sich hoben und senkten und so gelegentlich Einblick in das von Drähten, Kabeln und Dioden gefüllte Innenleben gewährten.

Billy bekam den Mund nicht mehr zu, als er Indigo durch Utopia folgte. An jeder Ecke boten sich noch überwältigendere Eindrücke und die Höhle schien deutlich größer zu sein, als die anderen Bezirke. „Wohin gehen wir jetzt?“(Komma) stammelte Billy fasziniert. „Zu Binary“, erwiderte Indigo unbeeindruckt. „Sie sollte inzwischen zuhause sein.“

Sie erreichten eine Kugel von etwa acht Metern Durchmesser, die entgegen ihrem schwer erscheinenden metallischen Äußeren wie von selbst einen halben Meter über dem Boden schwebte. Lediglich eine schmale Treppe verband die Kugel mit diesem. „Kommst du?“(Komma) fragte Indigo von der Treppe aus. „Äh, wohin?“(Komma) fragte Billy zurück. „Da ist keine Tür!“ (A o Tr)„Und?“ (Absatz)Der Vampir zog unbekümmert die Schultern hoch, dann ging er einfach in die glatte schwarze Wand, die sich vor ihm wölbe, als ginge er durch Wasser. Vorsichtig stieg Billy die Treppe hinauf und beäugte die wieder völlig glatte Kugel[red] mißtrauisch[/red] . Testweise berührte er sie mit der Hand und tatsächlich glitt diese widerstandslos in die Fläche. (Absatz)Billy atmete tief durch, dann machte er einen beherzten Schritt nach vorn und fand sich etwas perplex in einem keineswegs kugelförmigen Raum wieder. Dieser war auch eigentlich zu groß, um in die Kugel zu passen. Die hellen Fliesen erstreckten sich über eine Fläche von gut 120 m², an den – ebenfalls nicht gewölbten, sondern schnurgeraden – Wänden trugen weiße griechisch anmutende Säulen einen gläsernen Balkon, der sich rund um den Raum zog. Auf jeder Seite führte eine weiß lackierte [red] gußeiserne [/red] Wendeltreppe nach oben. Im ganzen Atelier standen Palmen und andere exotische Pflanzen in Terrakottatöpfen, in der gegenüberliegenden Wand gab es ein hellblau leuchtendes Aquarium mit seltsamen bunten Fischen, die ihre Farbe in einem gleichmäßig pulsierenden Rhythmus von fliederfarben über sonnengelb ins grelle Pink änderten. (Absatz)Der eigentliche Blickfang war allerdings das flache Wasserbecken in der Mitte des Raumes, das mit weißen Marmorblöcken abgegrenzt war. Acht kleine Fontänen mit ebenfalls wechselnden Farben sprudelten darin, während in der Mitte des Beckens ein durchsichtig schillerndes Computerhologramm schwebte. Auch dieses wechselte Farbe und Form, stellte mal einen Fisch dar, mal einen Cyborg, mal ein undefinierbares Gebilde. Indigo saß auf dem flachen Rand des Beckens und beobachtete dieses Spiel. (Absatz)„Und hier wohnt Binary?“(Komma) fragte Billy verwundert. Sie hatte nicht wie jemand ausgesehen, der so stilvoll wohnte. Statt Indigo antwortete Binary selbst. „Das hast du mir nicht zugetraut, was?“ Billy verrenkte den Nacken und sah, dass Binary über ihm auf dem gläsernen Balkon stand. „Ehrlich gesagt nicht!“(Komma) gestand er.

Binary grinste und machte sich daran, die Wendeltreppe herabzusteigen. Als sie neben Billy stand, stellte dieser zu seiner erneuten Überraschung fest, dass die vorher noch wasserstoffblonden Haare jetzt in verschiedenen Lilatönen schimmerten. „Ist allerdings nur ein Hologramm“, erklärte Binary beiläufig, während sie auf das Wasserbecken zuging. „Regt sich was bei den[red] Anderen[/red] (anderen)?“(Komma) erkundigte sie sich. Indigo schüttelte gelangweilt den Kopf. „Alles ruhig“, gab er zurück. (Absatz)„Ich frage ja nur ungern so dumm weiter, aber wer sind denn die Anderen schon wieder?“(Komma) warf Billy ein. (Absatz)Indigo sah zu ihm auf. „Die Typen vor dem Pilz, zum Beispiel. Die, die den Schöpfer verehren.“ (A o Tr)„Sie wollen unser Vorhaben verhindern“, ergänzte Binary. „Und sie haben es auch schon einige Male geschafft.“ (Absatz)Indigo stand vom Beckenrand auf. „Aber diesmal nicht. Alles ist gut durchgeplant.“ (Absatz)Binary nickte zustimmend. „Wir sollten dann mit der Tagung anfangen“, sagte sie und aus dem Nichts tauchten elegante schwarze Ledersessel auf, zehn an der Zahl, die um das Becken herum standen. Als wäre dies nichts besonderes, schlenderte Binary zu einem der beiden vor Kopf stehenden Sessel, Indigo nahm zu ihrer Linken Platz. Er nickte zur Seite und deutete auf den Sessel neben sich. „Setz dich.“ (Absatz)Unschlüssig folgte Billy der Aufforderung. „Ihr haltet hier also eine konspirative Tagung ab und ich darf einfach dabei sein?“(Komma) wunderte er sich. „Ihr kennt mich doch kaum.“ (A o Tr)„Und?“ Binary zog unbekümmert die Schultern hoch. „Wenn es schief geht, haben wir doch alle Zeit, es noch mal zu versuchen.“ Irgendwie sah Billy ein, dass sie mit diesem recht logischen Argument Recht hatte. Wenn alles, was er gehört und gesehen hatte auch stimmte, natürlich.

Aus der Wand, vermutlich an der Stelle, an der sich an der Außenseite der Kugel die Treppe befand, trat ein bleicher Mann. Er war edel, aber irgendwie altertümlich gekleidet; ein erster Eindruck, der sich großteils auf [red] dem [/red] (den) Zylinder gründete, den er trug. Sein Gehrock schien aus Samt zu sein, die üppigen Rüschen des Hemdes hingen über den Kragen. Er war von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gekleidet und stützte seine mit silbernen Ringen geschmückte linke Hand auf einen protzigen Gehstock, den er seinem Gang nach zu urteilen allerdings nicht brauchte. „Ich bin Bianco der Weiße“, stellte er sich unpassender Weise vor. „Freut mich“, erwiderte Binary ungeachtet dessen. „Binary, Indigo Aurora, Billy McEhren“, sagte sie und deutete der Reihe nach auf die Anwesenden. (Absatz)Bianco zückte den Hut, verbeugte sich leicht und setzte sich ohne ein weiteres Wort in den Sessel gegenüber von Indigo. „Was war dein Sinn?“(Komma) fragte Binary, ohne dabei neugierig oder wirklich interessiert zu klingen. „Ich war der weise Anführer eines Rollenspiels“, erwiderte Bianco, so als würde er ein großes Geheimnis verraten. „Ich entstamme dem Volk der Mondelfen.“(Absatz) Erst jetzt fielen Billy die spitzen Ohren auf, die aus dem schwarzen langen Haar hervorguckten. Bianco schien noch etwas anfügen zu wollen, doch er wurde im Ansatz von einem Platschen unterbrochen. Das Wasser spritzte aus dem Becken, als wäre jemand aus großer Höhe hineingefallen, doch es war niemand zu sehen. Dann jedoch flimmerte die Luft über dieser Stelle und ein junger Mann in einem schillernden Spandexkostüm wurde sichtbar. „Tut mir leid, das passiert mir dauernd!“(Komma) entschuldigte er sich und stieg aus dem Becken. Er setzte sich in den Sessel neben Billy und erklärte dann ohne Umschweife: „Ich bin Tornade, der unsichtbare Rächer. Ich war ursprünglich die Idee zu einer Parodie auf Superheldencomics.“ (A o Tr)„Das tut mir leid“, grinste Indigo und schielte zu ihm herüber. „Sehr lustig!“(Komma) grummelte Tornade und wrang sein [red] durchnäßtes [/red] (durchnässtes) Cape aus.

Wenig später waren auch die fünf anderen Sessel mit illustren Gestalten gefüllt und Billy [red] wußte [/red] nicht mehr, worüber er mehr staunen sollte. Da war Madame Trois, eine ältere Wahrsagerin, die ein drittes Auge auf der Stirn hatte und früher einmal die Idee einer bösen Hexe in einem Kinderbuch gewesen war. Zwischen Bianco und ihr saß ein froschähnliches Wesen von der Größe eines Schulkindes, das einen schwarzen Frack und eine auffällig große rote Fliege trug. Es hatte sich als Rupert, Ritter von und zu Finsterwalde vorgestellt und entstammte dem Konzept einer Märchensendung. (Absatz)Auf der anderen Seite von Madame Trois hatte es sich ein blauhäutiges Mädchen mit Glatze und zahllosen Piercings bequem gemacht. Ihr Name, wenn man von einem solchen reden konnte, lautete Alienfrau aus Szene 9, denn sie war lediglich eine unausgereifte und sofort wieder verworfene Idee, die bei der Entwicklung eines Science Fiction-Films entstanden war. (Absatz)Neben Tornade, dem unsichtbaren Rächer, saß Hallicon, ein geschlechtsloses Mischwesen aus Mensch und Einhorn. Es war für einen Fantasyroman kurzzeitig in Erwägung gezogen, dann aber durch eine andere Figur ersetzt worden. (Absatz)Den Sessel neben ihm füllte eine massige Erscheinung, die erst auf den zweiten Blick als menschliches Wesen zu erkennen war. Auf den ersten Blick schien es sich nämlich um einen Baum zu handeln, dieser verfügte jedoch über ein Gesicht am Stamm und wenn er sprach, hatte er einen bayrischen Dialekt. Er hieß schlicht Sprechender Baum und war die Idee einer eben solchen Figur in einem Märchenpark gewesen. (Absatz)Die trotz dieses Sammelsuriums merkwürdigste Gestalt jedoch war der Mann, der Binary gegenüber saß. Er nannte sich schlicht Struktur, denn mehr war er nicht. Unter der weißen Theatermaske, die er kurz nach seinem Auftauchen für einen Moment abgelegt hatte, verbarg sich ein Kopf ohne Gesicht. Er verfügte nicht einmal über einen Mund und es war Billy ein Rätsel, wie Struktur sich verständigte. Dennoch konnte er sich verbal äußern und hatte erklärt, dass er die Hauptfigur eines Kriminalromans war, der jedoch nie vollendet wurde. Der Autor, der offensichtlich der Schöpfer sein[red] mußte[/red] , hatte sich diese Hauptfigur jedoch nie bildlich vorstellen können und es auch offen gelassen, wie sie heißen sollte. Billy verstand nicht genau warum, aber die anderen, einschließlich Binary und Indigo, schienen großen Respekt vor Struktur zu haben; um so mehr, seit er erwähnt hatte, dass er aus Sumer kam.

Anfangs fühlte Billy sich schlichtweg dumm und völlig fehl am Platz. Er versuchte zwar, der Diskussion zu folgen, doch besonders viel Sinn machte es für ihn nicht. Nach einer Weile hatte er jedoch wenigstens verstanden, dass Madame Trois die Fähigkeit besaß, den ursprünglichen Zweck einer Person zu erkennen. (Absatz)Billy überlegte, ob er sie fragen sollte, was sein eigentlicher Zweck war. Einerseits interessierte es ihn brennend, andererseits gab es auch die Option, dass er sich hinterher wünschen würde, es nie erfahren zu haben. Während er versuchte, für sich abzuwägen, was ihm nun lieber war, verfolgte er mit halbem Ohr das Gespräch der seltsamen Runde. Immer wieder fiel ihm dabei auf, dass die anderen und auch Struktur selbst ihn als „Jumper“ bezeichneten und in Billy keimte die neue Frage auf, warum. Denn unter einem Jumper verstand er einen kleinen Plastikblock, der irgendwo hinten an der Festplatte saß und danach sah Struktur dann nun wirklich nicht aus. (Absatz)Aus purer Neugier konzentrierte Billy sich wieder auf die Diskussion. Er wollte herausfinden, warum Struktur ein „Jumper“ war und zwar, indem er diese verrückte neue Welt zu verstehen lernte. Irgendwann [red] mußte [/red] er sich schließlich damit abfinden. Warum also nicht jetzt? (Absatz)Nachdenklich betrachtete Billy Struktur, aber der sah nach wie vor wie ein gesichtsloser Charlie Chaplin aus. Nichts an ihm ähnelte einem kleinen Plastikdings. Binarys Stimme [red] riß [/red] ihn schließlich aus der angestrengten Grübelei. „Wir machen bis gleich Pause“, sagte sie und stand auf. Auch die anderen, abgesehen von Indigo, erhoben sich und wanderten scheinbar völlig plan- und ziellos im Atelier umher.

Sprechender Baum blieb dann und wann vor dem Aquarium stehen, beobachtete für einen Moment die Fische, lachte glucksend und ging dann weiter. Rupert, Ritter von und zu Finsterwalde, folgte ihm dabei mit einigen Schritten Abstand. Wenn Sprechender Baum stehen blieb, stoppte auch Rupert und sah sich pfeifend um, als wäre er ein ziemlich schlechter FBI-Agent, der einen Verdächtigen observieren sollte. (Absatz)Tornade, der unsichtbare Rächer, versuchte, Alienfrau aus Szene 9 anzubaggern und das ziemlich stümperhaft, wie Billy fand. (Absatz)Madame Trois umrundete mit nachdenklichem Gesicht eine Säule und murmelte unverständlichen Kram in ihr Doppelkinn. (Absatz)Hallicon trabte langsam an einer Wand entlang, sobald er eine Ecke erreichte, drehte er um und trabte ebenso langsam zurück. (Absatz)Struktur stand einfach nur stocksteif mitten im Raum, ging dann ein paar Schritte in eine Richtung, blieb wieder stehen und ging woanders hin. (Absatz)Binary und Bianco schritten beinahe erhaben mit auf dem Rücken verschränkten Armen schweigend nebeneinander her.

„Soweit mitgekommen?“(Komma) fragte Indigo, nachdem er Billys verwirrtes Gesicht eine Weile schweigend und amüsiert beobachtet hatte. „Nicht ganz“, gestand Billy kleinlaut. „Es würde helfen, wenn ich[red] wüsste[/red] , was ein Jumper ist.“ Indigo nickte verstehend. „Struktur ist etwas sehr[red] besonderes und seltenes[/red] (Besonderes und Seltenes)“, erklärte er dann flüsternd. „Er hat die Fähigkeit, die Multiversen zu durchschreiten.“ Noch leiser fügte er an: „Er ist ein Weltenwanderer!“ Seine Stimme klang ehrfürchtig. „Aha“, machte Billy, noch immer etwas ratlos. (Absatz)„Und wie wird man das?“ Indigo schüttelte den Kopf. „Das wird man nicht, das ist man.“ Er sah sich prüfend um, als habe er Angst, belauscht zu werden. Als er sich versichert hatte, dass niemand ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, lehnte er sich wieder zu Billy und erklärte: „Du kannst dir vorstellen, dass es sehr(Komma) sehr selten vorkommt, dass zwei Leute exakt die gleiche Idee haben, oder?“ Billy nickte stumm. „Und dass es noch seltener ist, wenn sie diese auch beide verwerfen?“ Wieder nickte Billy. „Und genau so ist Struktur entstanden! Bevor er verworfen wurde, existierte er in zwei, wenn nicht sogar mehr, Multiversen zugleich. In gewisser Weise tut er das jetzt auch noch.“ (Absatz)Indigo räusperte sich wichtig. „Er ist gleichzeitig in verschiedenen Woanders. Er kann darum spielend die Grenzen zwischen den Multiversen überschreiten. Andere müssen das mühsam lernen, wenn sie über ihren Zweck hinauswachsen. Nur die ältesten, die, die in Sumer leben, sind so mächtig wie Struktur!“ (A o Tr)„Aha“, machte Billy zum wiederholten Mal. Die Flut an Informationen begann, ihn zu überfordern. „Und… Ach, scheiß drauf, um was zur Hölle geht es hier eigentlich?“(Komma) sprang er endlich über seinen Schatten, der bisher zu stolz gewesen war, sich die komplette Blöße zu geben. „Wir planen den Sturz des Schöpfers“, erklärte Indigo geduldig, doch bevor er näher darauf eingehen konnte, kehrten die anderen zu ihren Plätzen zurück, so als würden sie einem lautlosen Signal Folge leisten.

„Wir sind also einig darüber, dass der Schöpfer aufhören[red] muß[/red] , zu existieren“, [red] faßte [/red] (fasste) Binary die bisherige Diskussion zusammen. (Absatz)„Fragen?“ Hallicon nickte knapp. „Es ist also sicher, dass dieses Exil dann ebenfalls aufhören wird zu existieren und wir in unsere eigenen Multiversen übertreten werden, ja?“ (Absatz)Struktur nickte. „Davon ist auszugehen, ja.“ (A o Tr)„Moment!“(Komma) warf Billy fassungslos ein. „Ihr wollt diesen Ort aufgeben?“ (Absatz)Wieder nickte Struktur. „Ja, natürlich!“(Komma) erwiderte Binary verwirrt. „Dieser Ort ist wertlos!“ (Absatz)„Ganz genau!“(Komma) nickte Bianco. „Er ist ein Dokument der Tatsache, dass wir nicht mehr gewollt wurden.“ (Absatz)„Aber… Dieser Ort ist fantastisch!“(Komma) stammelte Billy. Bianco schüttelte den Kopf. „Eben. Sieh dir an, was die geschaffen haben, die sich über ihren Zweck hinweg gesetzt haben! Und dann denk mal daran, was sie erschaffen können, wenn sie erst einmal selbst ganz zu Schöpfern geworden sind!“ (Absatz)„Dieser Ort ist nur ein Exil. Sie könnten so viel großartigere Welten für uns schaffen!“(Komma) ergänzte Alienfrau aus Szene 9 begeistert. „Aber wenn sie bereits die Macht haben(Komma) zu erschaffen, warum erschaffen sie dann nicht hier?“(Komma) bohrte Billy nach. (Absatz)„Unsere Multiversen sind im Vergessen des Schöpfers gefangen“, erklärte Struktur ruhig. „Sie sind tote Arme des ewigen Flusses. Um unsere Multiversen zu befreien, müssen wir selbst zu Schöpfern werden. Hier sind wir nur Sklaven.“ (Absatz)Billy dachte kurz nach, dann sagte er: „Aber wenn ihr zu Schöpfern werdet, dann versklavt ihr eure Ideen doch auch, oder nicht?“ (Absatz)Für einen Moment herrschte Stille, dann wandte sich Sprechender Baum an Billy. „Dann frage ich dich jetzt was. Warst du glücklich in deinem Multiversum? Oder wolltest du gern vergessen werden?“ (A o Tr)„Hm“, begann Billy nachdenklich. „Ich war ein reicher, berühmter und begehrter Rockstar. Das war schon okay.“ (A o Tr)„Siehst du?“(Komma) nickte Sprechender Baum zufrieden. „Vielen von uns ging es als Sklaven des Schöpfers besser. Weil wir in unseren Multiversen glücklich waren. Es war nicht unsere Entscheidung oder unser Wunsch(Komma) daraus verbannt zu werden!“ (Absatz)Binary schenkte Billy einen viel(getrennt)sagenden Blick. „Erst hier, im Exil, werden wir uns der Existenz der Multiversen [red] bewußt [/red] und erkennen uns selbst. Wir erkennen, dass wir nicht vollkommen sind, weil der Schöpfer uns nicht vollendet hat.“ (Absatz)Struktur nickte. „Sie hat Recht. Wir sind tatsächlich vollkommen, bis wir verworfen werden. Denn erst dann fehlt uns etwas. Die Antwort auf die Frage, warum wir verworfen wurden, fehlt uns und dieses Fehlen macht uns unvollkommen. Und weil wir unvollkommen sind, suchen wir beständig nach einem Grund dafür. Wir streben nach Perfektion, doch in unserem Streben liegt der Fehler. Unsere Unvollkommenheit ist nicht real, sie besteht nur darin, dass wir glauben, einen Sinn in uns suchen zu müssen. Wir könnten einfach dadurch wieder vollständig werden, indem wir in die Multiversen zurückkehren. Und so schließt sich der Kreis.“ (Absatz)Wieder herrschte kurze Stille, dann sagte Bianco der Weiße ruhig: „In unseren Multiversen finden wir Frieden. Dort haben wir die Hoffnung, vollendet zu werden.“ (A o Tr)„Die Schöpfer könnten uns das zurückgeben!“(Komma) ergänzte Madame Trois. „Sie könnten dafür sorgen, dass wir nicht vergessen werden!“ (A o Tr)„Und genau das wollen wir ja erreichen!“(Komma) fügte Rupert an. „Nur die Schöpfer selbst dürfen keine Sklaven sein, denn sie sind mehr geworden. Und sie wieder in ihre Multiversen zu sperren, würde vielen die Chance nehmen, ihrer Bestimmung nachzukommen, weil es die neuen Multiversen im Keim ersticken würde. Die neuen Multiversen, in denen wir wieder existieren.“ (A o Tr)„Dann könnten die, die zu Schöpfern werden, wenn ihr den jetzigen Schöpfer tötet, euch also allen ein Multiversum geben, in dem ihr mit eurem Zweck zufrieden wärt?“(Komma) folgerte Billy unentschlossen. „So ist es“, bestätigte Binary. (Absatz)Einen Moment lang herrschte wieder Stille und als Billy keine weitere Frage stellte, richteten alle ihre Augen gespannt auf Struktur. Der räusperte sich unter seiner Maske und sagte nach einer angespannten Weile: „Also gut, wir sind uns einig. Wir wissen, in welchem Multiversum der Schöpfer sich aufhält. Wir wissen, dass er dort verwundbar ist, weil er nichts von den Multiversen an sich ahnt. Er weiß nicht, dass er genauso wenig real ist, wie wir selbst. Er hält sich für real. Doch der Weg zu ihm ist gefährlich. Wir müssen also entscheiden, wer mit mir gehen wird.“ (Absatz)Die leeren Augenlöcher der Maske wanderten prüfend von einem zum anderen. „Freiwillige?“(Komma) fragte Struktur nach einer kurzen Pause. „Ich werde mitgehen“, sagte Binary in die Stille. „Ich kann das Vergessen vorübergehend zurückdrängen und ich habe genug Erfahrung im Woanders.“ Struktur nickte stumm. (Absatz)„Ich bin nicht sterblich im Multiversum des Schöpfers. Ich gehe auch mit“, erklärte Indigo. (Absatz)Billy [red] wußte [/red] für den Moment nicht wirklich warum, aber er sagte: „Ich auch. Das sind die einzigen Leute, die ich hier kenne.“ (Absatz)Überraschte Blicke wanderten zu ihm, nur Struktur nickte langsam. „Dann soll es so sein“, sagte er. „Wir brechen später auf.“

Später war, wie Billy feststellte, eine recht genaue Zeitangabe für die anderen. Angesichts der Unwirklichkeit der Zeit machte es auf seine Weise Sinn, sich nicht in Stunden, Minuten oder anderen in irgendwelchen fremden Multiversen geprägten Einheiten auszudrücken. (Absatz)Und kurz vor später herrschte geschäftiges Treiben in Binarys Wohnhologramm. Die sechs, die nicht mit Struktur gehen würden, wuselten wieder scheinbar ziel- und planlos umher. „Sie bereiten unseren Schutz vor“, erklärte Indigo. „Sie sichern diesen Ort, damit wir nicht gestört werden, wenn wir woanders hin gehen.“ (Absatz)Billy zog unbekümmert die Schultern hoch. „Ich verstehe nichts davon und vielleicht werde ich es nie kapieren“, seufzte er. „Aber die werden schon das Richtige tun.“ (Absatz)„Wir sind soweit!“(Komma) hörte er Binary sagen. Sie hatte das Wasser aus dem Becken abgelassen und sowohl die Fontänen als auch das Hologramm zwischen ihnen abgeschaltet. Neben ihr, mitten im leeren Becken, stand Struktur und beäugte durch seine leeren Löcher eine Bodenklappe. „Dann [red] laß [/red] uns gehen!“(Komma) erwiderte Indigo und stieg ebenfalls in das Becken. Billy folgte ihm schulterzuckend. (Absatz)Gespannte Blicke richteten sich auf Indigo, als dieser den Griff der Bodenklappe packe und [blue] diese [/blue] (sie) damit aufzog. Auch Billy starrte in das quadratische Loch im Boden, konnte aber nichts als Dunkelheit erkennen, die zudem von einem perlmuttfarbenen Schimmer verschleiert wurde. (Absatz)Struktur jedoch schien zufrieden mit dem, was er sah. Er kniete sich neben die Öffnung und tauchte eine Hand hinein, die sofort im Dunkel verschwand, als ob er sie in eine undurchsichtige schwarze Flüssigkeit tauche. Der Perlmuttschimmer wich einem kaum sichtbaren Glitzern in allen Regenbogenfarben. „Der Weg ist frei!“(Komma) verkündete Struktur andächtig. Binary nickte und sprang dann ohne weiteres Überlegen in das Loch. Indigo folgte ihr und alle Augen ruhten auf Billy. Er atmete tief durch, dann tat er es Binary und Indigo gleich.

Die graue Straße, auf der sie unvermittelt standen, ohne vorher gefallen oder gesprungen zu sein, hatte sich in Billys Abwesenheit deutlich verändert. Die Häuser wirkten baufällig und alt, Schutt und Steine lagen überall auf dem rissigen Asphalt der Straße und die schwarzen Fensterscheiben waren beschlagen und stellenweise mit Eisblumen übersät. (Absatz)Verwundert sah Billy sich um und Binary beantwortete die Frage, die er noch gar nicht ausgesprochen hatte. „Das Vergessen schreitet voran. Ich schätze, für dich sieht es hier einfach nur verfallen aus. Das liegt daran, dass du noch nicht so lange hier bist.“ (A o Tr)„Wie sieht es denn für euch aus?“(Komma) fragte Billy. „Für mich ist das hier ein alter Friedhof“, erwiderte Indigo gelangweilt. „Und jedes Mal, wenn ich herkomme, kenne ich weniger Namen auf den Steinen.“ (A o Tr)„Es ist ein Autofriedhof“, sagte Binary. „An den Seiten des Weges liegen Autowracks, die sich bis in den Himmel türmen und es werden ständig mehr.“

Struktur hatte sich eine Weile umgesehen, nun ging er langsam die Straße hinunter und die anderen folgten ihm. „Und wie sieht es hier für Struktur aus?“(Komma) wandte Billy sich leise an Indigo. Irgendwie erschien es ihm unangebracht, den seltsamen Charlie-Chaplin-Verschnitt selbst anzusprechen. „Hier ist das Nichts“, antwortete dieser jedoch. „Um mich ist nur Leere und wir gehen von einer unsichtbaren Plattform zur nächsten.“ (Absatz)Er drehte sich nicht um, aber stillte Billys Wissensdurst trotzdem. „Früher war dies London, aber die Geisterstadt, die es war, verfiel mehr und mehr und irgendwann blieb nur das Nichts.“ (Absatz)Plötzlich blieb Indigo stehen und sah sich suchend um. Erwartungsvoll musterte Binary ihn, sagte aber nichts. Auch Struktur machte Halt und wartete geduldig auf eine Erklärung. (Absatz)„Sie kommen“, sagte Indigo. „Aus allen Richtungen!“ (Absatz)Binary nickte stumm und [red] schloß [/red] (schloss) die Augen. „Ich versuche, sie aufzuhalten. Geht zur Schwelle, schnell!“ (A o Tr)„Was ist denn jetzt los?“(Komma) fragte Billy und eilte Indigo hinterher. „Das Vergessen nähert sich schneller als gedacht. Wir müssen allein weitergehen und hoffen, dass wir die Schwelle zum Multiversum des Schöpfers erreichen, solange Binary die Maschinen noch zurückhalten kann!“(Komma) zischte Indigo panisch und zerrte Billy in eine Seitengasse, wo Struktur bereits auf sie wartete. (Absatz)„Aber wir können sie doch nicht einfach zurücklassen!“(Komma) protestierte Billy. „Doch, können wir“, sagte Struktur ruhig. „Sie[red] wußte[/red] , worauf sie sich[red] einlässt[/red] [red] einläßt[/red] (einlässt).“ (Absatz)Er streckte die Hand aus, um ein Gebäude zu berühren und an der Stelle, an der seine Finger die Wand erreichten, schwappten die Steine auseinander wie Wasser. Struktur zog die Hand zurück und als die Wand wieder zusammen driftete, war dort eine schlichte Tür. Sofort [red] riß [/red][red] riß [/red] Indigo diese auf und schob Billy hinein. Struktur, der ihnen langsam folgte, [red] schloß [/red] die Tür und sagte knapp: „Nach oben.“

Billy war Indigo eine Treppe ins obere Stockwerk hinauf gefolgt. Jetzt lehnte er neben einem eingeschlagenen Fenster an der Wand und lugte, genau wie Indigo auf der anderen Seite, nach draußen. Struktur stand mitten im leeren Raum und tat das, was er zuvor in Binarys Wohnkugel getan hatte. Er blieb kurz an einer Stelle stehen, kratzte sich nachdenklich am Kinn, ging dann ein paar Schritte und wiederholte das Spiel. Indigo warf ihm immer wieder panische Blicke zu und Billy kam zu dem[red] Schluß[/red] (Schluss), dass dieses seltsame Verhalten einen tieferen Sinn haben[red] mußte[/red] . Welchen, das blieb ihm trotzdem unklar. (Absatz)Und momentan war ihm auch nicht danach, darüber nachzudenken. Denn er konnte viele Stockwerke unter sich sehen, dass Binary noch immer mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen auf der Straße stand. Von außen hatte das Gebäude scheinbar nur zwei Etagen gehabt, aber seit er den Innenraum von Binarys Kugel gesehen hatte, wunderte es Billy nicht mehr, wenn etwas von innen größer war als von außen.

Aufgrund seines hohen Standortes hörte Billy nur sehr leise die Geräusche der sich nähernden Maschinen. Erst, als sie in die Straße einbogen, konnte er sagen, aus welcher Richtung das Summen, Surren und Klappern gekommen war. (Absatz)Indigo starrte aus blutunterlaufenen Augen nach unten. Die drei Maschinen, zwei kleine und ein großer undefinierbarer Haufen, hatten Binary nun fast erreicht. Doch sie machte keine Anstalten zu fliehen, sondern blieb unverändert vor ihnen stehen. (Absatz)Aber jetzt konnte Billy durch den Lärm ihre Stimme hören. Angesichts der drohenden Gefahr klang sie unwirklich gelassen. „Ich bin Binary“, hörte Billy sie mit fester Stimme sagen. „Ich bin eine Technomutantin. Ich kämpfe für das Gute und habe Mitstreiter aus allen Teilen des Universums. Meine Eltern waren das Computerscript 0100010 und der Programmierer Falcon Revell. Ich habe eine virtuelle Schwester…“ (Absatz)„Was macht sie da?“(Komma) fragte Billy leise und schielte vorsichtig zu Indigo herüber. Auch er beobachtete das Geschehen, wirkte aber deutlich angespannter als Billy. „Sie bekämpft das Vergessen“, erklärte der Vampir flüsternd. „Sie rezitiert ihre Idee.“ (A o Tr)„Hm“, machte Billy und nickte verstehend, auch wenn er es nicht wirklich verstand. (Absatz)Bei den Maschinen zeigte es aber offensichtlich Erfolg. Obwohl nichts ihren Weg versperrte, hatten sie Probleme, sich Binary weiter zu nähern und dagegen kämpften sie laut surrend an. (Absatz)„Ich habe einen Freund namens Icon und ein Raumschiff, das sich telepathisch mit meinem [red] Bewußtsein [/red] verbindet!“(Komma) rief Binary, nun lauter. Es schien sie große Anstrengung zu kosten. (Absatz)„Scheiße!“(Komma) stieß Indigo plötzlich hervor und wandte sich zu Struktur um. Der ging noch immer seiner seltsamen Beschäftigung nach und schenkte weder Billy noch dem Vampir Aufmerksamkeit. (Absatz)Draußen trafen jedoch fünf weitere Maschinen aus einer anderen Richtung ein. „Ich bin Binary!“(Komma) begann Binary erneut. „Ich bin eine Technomutantin! Ich kämpfe in allen Teilen des Universums! Meine Eltern waren ein Computer und ein Mensch und ich habe Geschwister!“ (Absatz)„Verdammte Scheiße!“(Komma) wiederholte Indigo. „Sie [red] vergißt [/red] (vergisst) schon zu viel!“ (Absatz)Wieder sah er sich zu Struktur um. „Komm schon, uns läuft die Zeit davon!“ Struktur gab sich unbeeindruckt. (Absatz)Draußen waren weitere Maschinen auf Binary zugekommen und Billy fiel auf, dass die Technomutantin immer durchscheinender wirkte. „Warum sieht sie wie ein Geist aus?“(Komma) fragte er, obwohl er die Antwort bereits ahnte. „Weil sie[red] vergisst[/red] “, bestätigte Indigo aufgebracht den Verdacht. (Absatz)„Binary. Mutantin. Universum. Computer.“ Binary schien inzwischen nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an ihre Identität zu haben. (Absatz)„Sie schafft es nicht allein!“(Komma) stieß Indigo hervor und noch während er sprach, verpuffte er in eine schwarze Rauchwolke.

Billy hatte keine Zeit, irgend etwas zu sagen. Die Rauchwolke hing noch neben ihn im Raum, als Indigo in seiner Fledermausgestalt auf die Straße zu(getrennt)segelte. „Ich bin Indigo Aurora, ältester Sohn des höchsten Vampirs von Shadowstone!“(Komma) schrie er. „Ich ernähre mich vom Blut der Lebenden und bin für immer jung!“ (Absatz)Er landete neben der nun bereits völlig [red] verblaßten [/red][red] verblaßten [/red] (verblassten) Binary, die sinnlose Programmscrips vor sich hin brabbelte. (Absatz)„Mein Clan kämpft seit ewigen Zeiten gegen die Werwölfe von Darkcastle und wir werden sie besiegen!“ (Absatz)Nun wurde auch Billy angst und bange, denn Indigo [red] verblaßte [/red] deutlich schneller als Binary und die Maschinen hatten die Blockade überwunden. Nichts hielt sie mehr zurück, als Binary einfach nicht mehr da war. Bevor Billy auch Zeuge des Vergessens von Indigo wurde, packte Struktur ihn am Arm und zerrte ihn in einen Tornado aus regenbogenfarbenen Wolken.

Als Billy wieder zu sich kam, lag er auf der Straße. Nicht auf der seltsamen sterilen Straße im Woanders, sondern auf einer ganz gewöhnlichen gepflasterten Straße. Erst glaubte er, endlich aus diesem bizarren Traum erwacht zu sein. Dann jedoch tippte ihm jemand auf die Schulter und als Billy aufsah, stellte dieser sich als Struktur heraus. „Bin ich wieder zuhause?“(Komma) fragte Billy trotzdem und rappelte sich mühsam auf. Struktur schüttelte milde den Kopf. „Nein, noch nicht. Wir sind im Multiversum des Schöpfers.“ (A o Tr)„Noch nicht?“ (Absatz)[red] Mißtrauisch[/red] beäugte Billy den gesichtslosen Mann. „Wenn der Schöpfer erst tot ist, steht es dir frei, in deine Welt heimzukehren.“ (Absatz)Struktur klopfte Billy den Dreck von der Jacke, dann deutete er auf eine Seitengasse. „Gehen wir. Es ist nicht weit.“ Er wandte sich um und überquerte die Hauptstraße, Billy folgte ihm. „Das heißt also, mein Multiversum kann auch ohne den Schöpfer existieren?“ Im Gehen nickte Struktur. „Ja, natürlich. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz der meisten Multiversen, dass die Ideen ihre Schöpfer überleben.“ (A o Tr)„Aber was geschieht denn dann?“ (Absatz)Desto weiter sie auf die Gasse zugingen, [blue] desto [/blue] (um so) bekannter kam Billy die Gegend vor. „Es gibt sehr viele sehr ähnliche Multiversen“, erklärte Struktur. „Manche unterscheiden sich lediglich durch winzige Details, wie die Farbe der Wolken.“ (Absatz)Er öffnete das Tor zu einer Hofeinfahrt, hielt dieses für Billy auf und [red] schloß [/red] es dann sorgfältig wieder. „Wenn ein Schöpfer ausgelöscht wird, dann verschmilzt ein Multiversum mit einem ihm sehr ähnlichen. Man könnte fast sagen, der Schöpfer dieses anderen Multiversums überdenkt seine Idee.“ (Absatz)Struktur und Billy setzten ihren Weg über den Hof fort, der von mehrstöckigen weißen Reihenhäusern umschlossen wurde. „Die Auswirkungen für die Multiversen sind dabei kaum wahrnehmbar“, fuhr Struktur fort. „Es entsteht zum Beispiel ein Krieg oder eine neue Art, manchmal aber auch nur ein neuer Trend oder eine Sprache. Im Grunde geschieht es sehr häufig, dass Multiversen verschmelzen. Schließlich sind Anasazi und Sumer auch nur zwei von vielen Exilstädten, die hinter dem Vergessen existieren. Und wir sind beileibe nicht die einzigen, die gegen unser Vergessen rebellieren.“ (A o Tr)„Aha“, sagte Billy, einfach um überhaupt was zu sagen. (Absatz)Sie passierten eine weitere Einfahrt und gelangten auf eine größere belebte Straße. „Das sieht hier alles genauso aus wie in meiner Welt“, stellte Billy fest. Struktur nickte. „Gut möglich, dass dein Multiversum mit diesem kollidieren und verschmelzen wird.“ (Absatz)Eine Weile trottete Billy schweigend hinter ihm her, dann fragte er: „Sag mal, warum ignorieren uns hier alle? Ich meine, du siehst, mit Verlaub, schon recht komisch aus.“ (Absatz)Struktur blieb stehen. „Ich zeige es dir“, sagte er. Dann setzte er die Melone ab und [red] riß [/red] sich die emotionslos lächelnde Theatermaske vom Gesicht. Er trat vor eine Menschentraube, die an einer Bushaltestelle wartete, und vollführte einen kurzen Stepptanz. Niemand kümmerte sich darum, dass ein Mann ohne Gesicht dort herum(getrennt)sprang. Struktur beendete die Vorstellung, indem er die Hacken ein letztes Mal geräuschvoll zusammenschlug, dann setzte er Maske und Melone wieder auf und kehrte zu Billy zurück, der das Schauspiel mit offenem Mund verfolgt hatte. „Wir existieren für sie nicht“, erklärte Struktur. „Wir sind keine Ideen ihres Schöpfers, und selbst wenn, wären wir nur eine verdrängte Erinnerung.“

Struktur führte Billy quer über die Straße, auf einen Park zu. Offensichtlich [red] wußte [/red] er genau, wohin sie gingen, so planlos er auch mal hier und mal da abbog. Nach einer Weile sagte Billy: „Mal was ganz anderes… Binary hat gesagt, sie stammte aus einem Drehbuch. Was genau war Indigo eigentlich?“ (A o Tr)„Er kam aus einem Rollenspiel“, bestätigte Struktur Billys Verdacht. „Er gehörte auch zu denen, die mehr Glück hatten.“ (A o Tr)„Mehr Glück? Inwiefern?“ (Absatz)Struktur blieb stehen, sah sich um und setzte sich dann auf eine Parkbank. Billy nahm neben ihm Platz und sah ihn erwartungsvoll an. Endlich bequemte Struktur sich zu einer näheren Erläuterung. „In deiner Welt gibt es sicherlich auch Dinge wie Fernsehserien, Romane, Rollen- und Computerspiele und all das, nicht wahr?“ Billy nickte. „Dann geh jetzt davon aus, dass alles, was du darin siehst und liest, real ist. Dass du, wenn du einen Film anschaust, tatsächlich in eine andere Welt blickst. Denn das ist der Fall.“ (Absatz)Zögernd nickte Billy, dann sagte er zweifelnd: „Alles ist real? Ich meine, auch irgendwelche Kinderserien mit sprechenden Pflanzen oder so?“ (Absatz)Struktur nickte bestätigend. „Das ist der eine Punkt. Es gibt viele weniger intellektuell gesegnete Wesen als uns. Nimm als Beispiel Tornade, den unsichtbaren Rächer. Er ist das Produkt eines intelligenten Schöpfers, aber er wurde als dummes Wesen erdacht. Er verfügt über den Intellekt, sich über diese Dummheit hinaussetzen zu wollen. Aber nicht über die Möglichkeit, so wie ich und die anderen Sumerer. Wir konnten uns selbst im Vergessen über unseren Zweck erheben. Wenn Tornade nach dem Fall des Schöpfers selbst zum Schöpfer wird, wird er seinem Intellekt entsprechende Multiversen voller Dummheit erschaffen.“ (A o Tr)„Er kann trotzdem zum Schöpfer werden?“(Komma) wunderte Billy sich. Struktur nickte. „Weil er seinen Zweck kennt“, sagte er. „Madame Trois’ Fähigkeit ist weit mehr, als das schlichte Erkennen einer Bestimmung. Wenn sie diese verrät, ist der Grundstein gelegt und die entsprechende Person kann ein Schöpfer werden.“ (Absatz)Er kratzte sich am Kinn und fügte dann nachdenklich an: „Jedenfalls ist es ratsam, denn mit dem Wissen um den eigenen Zweck ist eine Rückkehr ins ursprüngliche Multiversum recht schwierig.“ (A o Tr)„So?“ Billy kratzte sich ebenfalls nachdenklich am Kopf. Scheinbar konnte er froh sein, nicht so bedenkenlos seiner Neugier nachgegeben und Madame Trois nach seinem Zweck gefragt zu haben. (Absatz)„Normalerweise würdest du in dein Multiversum zurückgehen und genau da weitermachen, wo du aufgehört hast, zu existieren. Ohne Erinnerung an Anasazi oder woanders. Aber wenn du deinen Zweck kennst, nimmst du dein Wissen um die Multiversen mit“, erklärte Struktur. „Und dann gibt es zwei Optionen. Entweder verheimlichst du es und wirst dadurch verrückt. Oder du erzählst davon und alle halten dich für verrückt.“ (Absatz)Billy zog abschätzend die Augenbrauen hoch. „Und wenn die anderen einem glauben?“ Jetzt schien nicht nur Strukturs Maske zu lächeln, obwohl dahinter noch immer kein Gesicht war, das hätte lächeln können. „Ich bin schon in unzähligen Multiversen gewesen“, sagte er. „Und glaube mir, das ist noch nie vorgekommen.“

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die auf der Wiese um einen Teich watschelnden Enten. Dann grübelte Billy laut: „Angenommen, ich würde nicht in mein Multiversum zurückwollen, sondern lieber ein Schöpfer werden und mir ein eigenes erschaffen. Ginge das überhaupt noch? Ich meine, könnte ich jetzt noch zu Madame Trois zurückgehen?“ Struktur schüttelte den Kopf. „Nein, aber das ist auch nicht nötig. Sie hat mir deinen Zweck verraten. Aber willst du es denn wirklich wissen?“ (Absatz)Unschlüssig starrte Billy eine Ente an. „Vorerst nicht“, sagte er dann. „Ich fand mein Multiversum schon ganz gut. Ehrlich gesagt, ich denke lieber noch mal darüber nach, was ich will.“ (Absatz)Nach einer kurzen Pause fragte er: „Was ist eigentlich der andere Punkt?“ Für einen Moment schien Struktur überrascht zu sein, dass Billy dem Gespräch tatsächlich folgen konnte, dann fing er sich und griff den Faden wieder auf. „Ah, ja. Der andere Punkt! Es gibt natürlich auch Wesen, die an sich intellektueller sind als ihre Welt. Geistesblitze, Zufallsprodukte, oder einfach traurige Schicksale. Zum Beispiel Sprechender Baum. Er ist mit großer Weisheit gesegnet, aber er stammt aus einem sehr einfachen Multiversum. Ideen aus Filmen, Büchern oder Rollenspielen sind meist besser dran, da sie in ein ähnlich intellektuelles Umfeld gehören. Aber da gibt es natürlich auch Ideen aus Computerspielen, die eine tiefe Vorgeschichte haben und über große Intelligenz verfügen. Ihr Multiversum aber bindet sie an seine Gesetze, zum Beispiel müssen sie immer wieder grausam sterben. Ihnen gönne ich es, selbst zu Schöpfern zu werden, denn ihre Multiversen gehören zu den friedvollsten.“ (Absatz)Irgendwie hatte Billy plötzlich ein schlechtes Gewissen. Er war ein erklärter Fan besagter Prügelspiele und dass er nun[red] wußte[/red] , was er den Figuren antat, ließ ihn an seiner Begeisterung zweifeln. „Weißt du eigentlich, was der Schöpfer ist?“(Komma) fragte er, um sich davon abzulenken. Struktur stand auf und wirbelte seinen Gehstock kunstvoll herum. „Aber selbstverständlich!“(Komma) sagte er fröhlich.

Das Haus, in das Struktur Billy geführt hatte, gehörte offensichtlich zu einem Krankenhaus. Aus den Schildern auf dem Gang, den sie nun entlang gingen, wurde ersichtlich, dass es die ambulante psychiatrische Tagesklinik war. Etwas skeptisch, aber hauptsächlich enttäuscht, sah Billy sich um. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“(Komma) wandte er sich an Struktur und sah sich über die Schulter zu diesem um. Struktur nickte stumm und bedeutete Billy, weiter zu gehen. (Absatz)„Wir sind nur Ideen eines Irren?“(Komma) protestierte der zaghaft. „Das ist Ansichtssache“, erwiderte Struktur. (Absatz)Vor einer Tür blieben die beiden nach ein paar Schritten stehen. Ein Ehepaar redete dort mit einer Pflegerin. Neugierig musterte Billy sie, auch Struktur lauschte dem Gespräch interessiert. (Absatz)„Irgendwelche Fortschritte?“(Komma) fragte die Frau und die Pflegerin schüttelte leicht den Kopf. „Ihr Sohn ist ein bemerkenswerter Junge“, erwiderte sie. „Aber wir kommen nicht an ihn heran. Er lebt in seinen Fantasiewelten, als wären sie real.“ (A o Tr)„Sie müssen doch etwas tun können!“(Komma) warf der Mann, demnach der Vater, ein. „Er [red] muß [/red] doch begreifen, dass es nur seine Einbildung ist!“ Wieder schüttelte die Pflegerin den Kopf. „So einfach ist das nicht…“(Komma) begann sie. Wie der Satz weiterging, erfuhr Billy nicht, denn Struktur hatte die Tür zu diesem Zimmer geöffnet und ihn hineingezogen.

Billy blieb mit offenem Mund im Raum stehen. Es sah keineswegs wie in einem üblichen Krankenhauszimmer aus. Überall türmten sich Stapel von Papier, teils lose Blätter, teils in Ordnern und Mappen. Die Wände waren von Zeichnungen und Computerausdrucken überzogen, zudem waren die Regale und Fensterbänke mit allen Arten von Skulpturen aus verschiedensten Materialien zugestellt. Mitten in diesem Chaos thronte ein Junge vor seinem Computer und hackte angestrengt auf die Tastatur ein. Er war 14, höchstens 15 und wurde der Vorstellung von jemandem, der in seiner eigenen Welt lebte, in jeder Hinsicht gerecht. Sein Haar war ungekämmt wie ungewaschen, das Gesicht verpickelt, die dicke Hornbrille war an einem Bügel mit Klebeband geflickt worden. Der Junge trug eine verbeulte Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt und er schenkte Struktur und Billy nicht die geringste Aufmerksamkeit.

„Das ist der Schöpfer?“(Komma) brachte Billy erstaunt und entsetzt hervor. Struktur nickte. „Das ist der Schöpfer.“ (A o Tr)„Ich… Ich bin eine Idee von dem da?“ Fassungslos deutete Billy auf den Jungen. Wieder nickte Struktur. „Ach du Kacke!“ (Absatz)Billy [red] wußte [/red] nicht, was er davon halten sollte. Er und alles, was er kannte, seine gesamte Welt, war nur eine Schöpfung eines durchgeknallten Teenagers, der in der Klapse saß?! „Und was machen wir jetzt?“(Komma) seufzte er. (Absatz)Struktur antwortete nicht. Er ging mit prüfendem Blick hinter dem Schöpfer auf und ab, dann zog er einen seiner weißen Handschuhe aus und wedelte damit vor dem Gesicht des Jungen herum. Der reagierte nicht und bearbeitete weiter wild die Tasten. (Absatz)Struktur kehrte zu Billy zurück. „Er ist keiner der Wissenden“, sagte er feststellend. „Hä?“(Komma) erwiderte Billy etwas genervt. Ihn nervte jedoch nicht Struktur, sondern die erschütternde Tatsache, dass er nur das Produkt eines geisteskranken Teenagers war. (Absatz)„Erst war ich nicht mehr sicher, ob er nicht doch von den Multiversen weiß“, erklärte Struktur. „Aber er sieht uns nicht. Wir müssen uns ihm [red] bewußt [/red] machen.“ (A o tr)„Und wie?“(Komma) seufzte Billy. (Absatz)Struktur sah ihn mit den leeren Augenlöchern seiner Maske an. „Das ist deine Aufgabe. Sag ihm, wer du bist. Mach, dass er sich an die Idee erinnert.“ (Absatz)[red] Mißtrauisch[/red] zog Billy die Augenbrauen hoch. „Aber er hört mich doch eh nicht“, sagte er. (Absatz)„Mit der Zeit wird er sich [blue] dir [/blue] (deiner) wieder [red] bewußt [/red] werden“, erklärte Struktur. „Du wirst sehen.“ (Absatz)Schulterzuckend trat Billy vor und schenkte dem Schöpfer einen abfälligen Blick. „Hör zu, du Freak“, begann er. „Ich bin Billy McEhren. Ich wurde 1973 in Minneapolis geboren. Meine Mutter heißt Agatha und ist eine versoffene Schlampe. Mein Vater hieß William und hat sie schlauerweise verlassen, als ich drei war.“ (Absatz)Billy brach ab und sah sich unsicher zu Struktur um. Der nickte aufmunternd und Billy fuhr fort: „Ich habe eine Menge Scheiße gebaut, aber vor einigen Jahren wurde ich bei einem Newcomerfestival von einem [red] Plattenboß [/red] entdeckt und groß raus(getrennt)gebracht…“ (Absatz)Tatsächlich schien der Monolog Erfolg zu zeigen, denn der Schöpfer ließ von der Tastatur ab und sah sich um. „Wer zur Hölle bist du und wie kommst du hier rein?“(Komma) fragte er wütend. „Hab ich doch gesagt!“(Komma) blaffte Billy. Nachdenklich musterte der Schöpfer ihn durch seine dicken Brillengläser, dann sagte er: „Moment… Ich weiß, wer du bist… Du bist dieser Rockstar, Billy McEhren…“ (Absatz)Billy nickte. „Ganz genau!“(Komma) bestätigte er. „Aber dich gibt es nicht wirklich!“(Komma) rief der Schöpfer. „Ich habe dich nur ausgedacht!“ (A o Tr)„Und jetzt bin ich hier, reicht das nicht als Beweis, dass es mich doch gibt?“ (Absatz)Herausfordernd funkelte er den Schöpfer an. Der sprang unerwartet auf, warf dabei fast seinen Stuhl um. „Geh weg!“(Komma) schrie er, außer sich vor Wut und Verwirrung. „Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist! Es gibt dich nicht!“ (Absatz)Fragend sah Billy zu Struktur, den der Schöpfer offensichtlich noch nicht bemerkt hatte. „Es hat begonnen“, sagte der gesichtslose Mann. „[red] Verpiß [/red] dich!“(Komma) lenkte der Schöpfer Billys Aufmerksamkeit wieder auf sich und stieß ihn überraschend nach hinten. Billy taumelte und stolperte fast über einen Stapel Notizbücher. „Einen Teufel werde ich tun! Du hast mich vergessen, du kleiner Spinner!“(Komma) schrie er. „Na und? Ist doch mein gutes Recht!“(Komma) keifte der Schöpfer zurück und trat nach Billy. Während der die Tritte abwehrte, bemerkte er plötzlich das vertraute Geräusch der Maschinen und ein Blick zur Tür verriet ihm auch, woher dieses kam.

Draußen war nicht mehr der Gang der Klinik. Dort war die graue Straße und die Schatten der Maschinen zuckten bereits unheilverkündend vor der Türöffnung. Billy warf sich mit einem Hechtsprung zwischen sie und Struktur und stieß diesen weiter ins Zimmer, so dass er in einem Haufen Zettel, Schnellhefter und Notizbücher landete. (Absatz)„Was passiert hier?“(Komma) rief Billy durch den Lärm von draußen. „Er bekämpft eine ungewollte Idee!“(Komma) erwiderte Struktur. „Aber es ist fast vollbracht!“ (Absatz)Zwischen Strukturs Händen bildeten sich schillernde Kugeln, erst als durchscheinende diffuse Gebilde, dann immer intensiver von innen heraus leuchtend. (Absatz)„Konfrontiere ihn!“(Komma) rief Struktur, gerade rechtzeitig, um Billy zu warnen. (Absatz)Der Schöpfer stürzte sich wutentbrannt auf seine ungewollte Idee und verkeilte sich mit ihm in einer wilden Schlägerei. „Ich kann dich vernichten! Ich habe dich geschaffen, also kann ich dich auch zerstören! Es ist meine Idee!“(Komma) brüllte er und prügelte blindlings auf Billy ein. „Pass auf!“(Komma) schrie Struktur ihm zu. Die wie Seifenblasen zwischen seinen Händen schwebenden Gebilde dehnten sich aus, kleine Explosionen schienen in ihren unbeständigen Hüllen zu entstehen, Bilder und Bildfetzen flackerten auf und verschwanden. Der Lärm der Maschinen wurde immer lauter, sie befanden sich inzwischen in Sichtweite vor der Tür. „Ich habe ein Recht zu existieren!“(Komma) brüllte Billy dem Schöpfer ins Ohr, doch der schlug nur weiter wild um sich, so dass der deutlich größere und stärkere Billy Probleme bekam, die Attacken abzuwehren. (Absatz)„Einen Scheiß hast du!“(Komma) schrie der Schöpfer atemlos. „Soll ich dir mal sagen, was du bist, du dämlicher Rockstar?“ (Absatz)Strukturs Worte hallten durch Billys Kopf. Wenn der Schöpfer ihm seinen Zweck offenbaren würde, könnte er nicht in seine Welt zurück, durchfuhr es ihn, zumindest nicht in sein gewohntes Leben. Und so wie der Schöpfer enden, das war das Letzte, was Billy wollte.

Plötzlich schien ihr Kampf sich in Zeitlupe abzuspielen, selbst die Schläge und Tritte des Schöpfers fühlten sich dumpf an, als [red] sein [/red] (seien) sie nur das Echo einer Berührung. „Viel Erfolg!“(Komma) rief Billy Struktur mit verzerrter Stimme zu, als er sich, an den Schöpfer gekrallt, mitten in das Maschinengetümmel vor der Tür warf. Strukturs Antwort, falls es denn eine gab, hörte er nicht mehr. Alles; das Zimmer, Struktur und dessen Gebilde, der Schöpfer und Billy selbst, verschmolz mit dem Schwarz und dem beständigen, ewig gleichen Surren der Maschinen.

Billy erwachte durch dumpfe Geräusche. Mühsam öffnete er die Augen und hielt sich den schmerzenden Kopf. Als er sich verwirrt umsah, stellte er fest, dass er mit dem Rücken an die Kloschüssel des Hotels gelehnt eingeschlafen sein[red] mußte[/red] . Und die Geräusche erklärten sich schnell von selbst, denn sie wurden von Dorothys schriller Stimme von der anderen Seite der Tür ergänzt. „Billy? Verdammt, mach die Tür auf!“(Komma) schrie sie und folgsam rappelte Billy sich auf. „Ich komm ja schon!“(Komma) gab er mürrisch zurück, drehte das Wasser auf und warf sich eine Handvoll ins Gesicht. Er stellte das Wasser wieder ab und öffnete die Tür. Vor ihm stand seine aufgeregte Managerin. „Ich dachte schon, du machst nie auf!“(Komma) keuchte sie. „Die restlichen Konzerte der Tour wurden abgesagt. Ich habe dir einen Flug nach San Diego gebucht.“ (Absatz)Überrascht hob Billy die Augenbrauen. „Hey, das sind mal gute Nachrichten!“(Komma) erwiderte er. Denn das waren sie in der Tat. In San Diego wartete sein Studio auf all die Ideen, die er aus zeitlichen Gründen schon länger hatte zurückstellen müssen. Er packte seine Klamotten zusammen und verließ das Hotel, um mit dem Taxi zum Flughafen zu fahren.

In San Diego angekommen stieg Billy in ein anderes Taxi, das ihn ohne Umwege in sein Studio brachte, wo er den letzten Abend endlich in Ruhe Revue passieren lassen konnte. Die Vorband war tatsächlich das Allerletzte gewesen, dachte er amüsiert. Gut, dass die jetzt um ihre Support-Tour gebracht worden waren. Die Publicity, die sie durch den großen Billy McEhren bekommen hatten, hatten sie nicht ansatzweise verdient. (Absatz)Und dass die Tour auch für ihn abgeblasen war, kam Billy verdammt gelegen. Das Best of würde sich auch ohne weiteren Rummel verkaufen und er hatte genug Zeit, all die neuen Ideen umzusetzen. Genau damit beschäftige Billy sich in den folgenden Wochen und Monaten. Sein Alltag verlief so beschaulich und normal, wie er im Leben eines weltbekannten Rockstars eben verlaufen konnte und es gab nichts, was Billy in irgendeiner Weise komisch vorkam. (Absatz)Aber manchmal träumte er von einem seltsamen Ort namens Anasazi, an dem sich die verrücktesten Wesen tummelten. Es gab dort Technomutanten, Vampire, Werwölfe, Elfen und sprechende Bäume. An Details konnte Billy sich nie erinnern, aber er fand diese Träume recht unterhaltsam und zog daraus sogar die eine oder andere Idee für einen Song, unwissend, dass er so ein weiteres Multiversum erschuf.

In einem anderen Multiversum, gar nicht weit entfernt von dem, in dem Billy existierte, trat ein Mann Mitte vierzig vor einen großen Garderobenspiegel. Er grüßte sein Spiegelbild, indem er seine Melone zog und verbeugte sich gekünstelt vor sich selbst. Dann setzte er sich in einen speckigen alten Lehnsessel, der in einem rustikal(Komma) aber stilvoll eingerichteten Wohnzimmer vor einem alten massiven Schreibtisch stand. Bevor er die Schreibfeder in das [red] Tintenfaß [/red] (Tintenfass) tunkte, nahm er seine weiße, ewig gleich emotionslos lächelnde Theatermaske ab und legte sie zur Seite. Er schrieb einige Zeilen in ein in Leder gebundenes riesiges Buch, dann legte er die Feder zur Seite und stopfte eine gebogene Wurzelholzpfeife. Er entzündete ein Streichholz[blue] aus seinem Heftchen[/blue] (überflüssig), rückte den kleinen Spiegel auf dem Schreibtisch zurecht und betrachtete zufrieden sein Spiegelbild, als er die Pfeife in den Mund steckte und anzündete. Wieder nahm er die Feder zur Hand und während er schrieb, lächelte er seinem Spiegelbild immer mal wieder zu oder strich mit einer Hand über die Theatermaske, die er nun nicht mehr brauchte.

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"Writers are liars, my dear!" (Erasmus Fry)

die Fehlerchen korrigieren und ab damit zum Verlag! Die Geschichte ist es wert, als Buch zu erscheinen.
lg
 



 
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