Geografiestunde

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Seshmosis

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Geografiestunde

Meine ersten Geografiestunden erlebte ich bei Verwandtenbesuchen. Nicht dass ich dabei den Gänsberg oder Weiherhof kennen gelernt hätte, da kannte ich mich schon sehr früh aus. Nein, ich lernte dort die weite Welt kennen, zumindest dem Namen nach. Geografie hieß damals noch Erdkunde und die Erde kündete vor allem vom Blut, mit dem sie getränkt war.

Der Eberleins Opa eroberte für Führer, Volk und Vaterland den Eiffelturm in Paris und die Akropolis in Athen und sorgte dafür, dass alle zuhause per Feldpost von diesen Triumphen erfuhren. Er diente in einem mobilen Postamt und sorgte für den Kontakt der Soldaten zur Heimat. Seine Landkarten, mit denen ich später exzessiv spielte, trugen viele verschieden farbige Buntstiftlinien mit immer neuen, sich ständig verändernden Grenzen. Ein Tieffliegerangriff mit anschließender Explosion war Anlass für die lapidare Meldung in die Gustavstraße, dass Opa nun ein Held sei. War er aber glücklicher Weise doch nicht, zumindest kein toter Held. Nach Monaten der Trauer kam das Lebenszeichen aus französischer Gefangenschaft.
Norwegen lernte ich durch Onkel Leikauf kennen, der hoch im Norden in Narvik bei Eis und Schnee als Gebirgsjäger kämpfte. Seine Liebe zu den Bergen ist ihm geblieben, nicht aber sein ältester Sohn Willi, der im Alter von einundzwanzig Jahren bei der russischen Stadt Moltopol fiel.
Noch mehr Kenntnisse der Weiten Russlands konnte der älteste Bruder meines Vaters, der Karl, beitragen. Er stand mit seinem Panzer irgendwo bei Moskau, sehnte sich zurück in die Hitze des Afrikafeldzugs, als ihn die Rote Armee sagte, er könne jetzt gleich bis Sibirien weitermarschieren.
Der Schellers Opa, mein Stiefgroßvater, war auch durch den Triumphbogen in Paris marschiert und hatte auf dem Montmartre flaniert. In Russland haben sie ihm dann das Bein zerschossen und er hat es sich nicht abnehmen lassen, von den Lazarettmetzgern im Erzgebirge. Als der Kanonendonner näher kam, schnappte er sich einen Schrubber und einen Besen als Krücken und machte sich auf den Weg nach Fürth. Dort erst, zuhause, beim Arzt, den er kannte, ließ er sein Bein und bekam die Prothese, die immer in der Wohnzimmerecke lehnte und mir Alpträume verschuf.
Den anderen Bruder meines Vaters, Arthur, haben sie in Montecassino in Italien so zusammengeschossen, dass er mehr tot als lebendig war. Aber doch noch so lebendig, dass die Wehrmacht ihn für die Rückzugsgefechte in Ostpreußen brauchen konnte.
Mein Vater schließlich stemmte sich als Siebzehnjähriger in der Normandie mit dem Flakgeschütz gegen die Invasion am D-Day, bis ihn die Amerikaner herauszogen aus all den Toten in der Stellung. Danach durfte er jahrelang auf den Baumwollfeldern Amerikas in sengender Hitze seine Kriegsschuld abarbeiten.

Jedes, aber auch wirklich jedes männliche Familienmitglied war „dort draußen“, wie es genannt wurde, auch noch andere, als die eben erwähnten, und etliche sind dort draußen geblieben, nicht nur der Willi, der Lieblingscousin meiner Mutter.

So lernte der Gerdi in den 50er Jahren die Welt kennen – von der blutigen Küste der Normandie bis zu den Arbeitslagern von Sibirien, von Montecassino und seinem zerstörten Kloster bis zu den Baumwollfeldern Amerikas, vom sturmumtobten Narvik am Nordkap bis zur Gluthitze von El Alamain in Ägypten.
 



 
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