Georg

3,00 Stern(e) 1 Stimme

nisavi

Mitglied
Memory is the diary that we all carry with us.
(Oscar Wilde: The Importance of being Earnest)

Georg war wach, der Lärm der Flugzeuge, die zur Landung im nahegelegenen Tegel ansetzten, hatte ihn unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Er verharrte reglos mit geschlossenen Augen .Vielleicht konnte er so die verschwimmenden Nachtbilder und ihre leisen Töne am Fliehen hindern.
Stimmgewirr drang an sein Ohr, Geschirrklappern war zu hören, es roch nach frisch gebrühtem Kaffee - die Geräusche und Gerüche des Morgens tröpfelten in seine Traumfragmente wie die Elektrolytlösung in seine Venen.
Er verspürte den Wunsch, sich die Kanüle aus dem Arm zu reißen, hatte Lust, Tassen, Teller und Schüsseln zu zerschlagen. Es sollte einfach still sein.
Der bittere Geschmack des Morgens verursachte ihm Übelkeit.

Früher, als sie noch als Ärztin in der Klinik arbeitete, hatte sie gern lange geschlafen. Seit sie jedoch Rentnerin, war, Pensionärin, wie es vornehm hieß, erwachte sie stets früh. Sie stand dann vorsichtig auf, ging leisen Schrittes in den Wintergarten, setzte sich, gehüllt in ein orangefarbenes Wollplaid, in einen abgewetzten alten Sessel und beobachtete aus halbgeöffneten Augen, wie sich die Dämmerung vom Glashaus fangen ließ.
Sie liebte diese grünen Stunden, in denen die Amseln zu zwitschern begannen und lauschte dem Donnern der S-Bahn-Züge in der Ferne. Die Nachbarn öffneten scheppernd ihr Garagentor und fuhren zur Arbeit. Eilige Schritte waren zu hören, die Stimmen der Passanten kamen näher – hin und wieder verstand sie sogar einzelne Worte der morgendlichen Konversationen – entfernten sich und fügten sich in den Rhythmus des erwachenden Morgens.
Manchmal, wenn die Regentropfen eine monotone Melodie in die Scheiben trommelten, kam es vor, dass sie noch einmal einschlief. Sie erwachte dann mit dem Gefühl, das Wichtigste vom Tag, sein Werden, verpasst zu haben.
Erst wenn es ganz hell geworden war, erhob sie sich, streifte die Decke ab und bereitete in der Küche das Frühstück.

Er war wieder der an Windpocken erkrankte sechsjährige Junge gewesen, der schwitzend und mit juckender Haut im Dunkel des elterlichen Schlafzimmers lag. Von Zeit zu Zeit tauchte er aus Halluzinationen auf: allein und verlassen fühlte er sich. Er rief nach der Mutter, die in der benachbarten Küche hantierte. Geduldig antwortete sie ihm jedes Mal mit sanfter Stimme, zuweilen trat sie an sein Bett und legte ihre kühle weiße Hand auf seine Stirn.
Er dämmerte dann hinüber in andere, hitzige Fieberträume.
Auto war er gefahren, rasant und schnell, vorbei an abgeernteten Getreidefeldern. Aus den Augenwinkeln hatte er Greifvögel wahrgenommen, sie saßen an den Rainen wie stumme Wächter und schienen ihn zu beobachteten.

Der Duft des Kaffees lockte auch ihren Mann aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten, die Zeitung in der Hand, kam er in die Küche und setzte er sich an den gedeckten Tisch. Sie frühstückten ausgiebig, meist schweigend. Die Uhr tickte; wenn ihr Mann eine Seite umblätterte, blickte er kurz auf. Er studierte als erstes den Sportteil, sie widmete sich den Kulturnachrichten und löste anschließend Rätsel.
Heute jedoch war sie nicht bei der Sache. Es fiel ihr schwer, sich auf Sätze, Wörter, Buchstaben und Zahlen zu konzentrieren. Drei waagerecht: ein Raubvogel mit sieben Buchstaben. Immer wieder musste sie an den gestrigen Anruf denken.
Zwei senkrecht: ein 1774 entdecktes chemisches Element.
Sie hatte vergeblich versucht, der Stimme am anderen Ende der Leitung ein Gesicht zu geben.

Er ahnte, dass er die heraufbeschworenen Erinnerungen allmählich an das Tageslicht verlor, hinter seinen geschlossenen Lidern erhellte es bereits den gesamten Raum.
Wenn er die Augen öffnete, würde er den Efeustuck an der Decke erblicken. Er konnte den Blick zu den alten Kleiderschränken wandern lassen, von denen die Farbe abblätterte. Er würde den Schreibtisch sehen, auf dem seine Frau Medikamente und Pflegeutensilien lagerte. Den Rollstuhl, der es ihm ermöglichte, an den wenigen guten Tagen das Haus zu verlassen. Ein Sauerstoffgerät, das für Erleichterung sorgte, wenn er Probleme mit der Atmung hatte.
Noch aber war er nicht bereit für den Anblick eines Krankenzimmers.
Georg nahm all seine Kraft zusammen und versuchte ein letzten Traumfetzen zu fassen. Zu seiner Verwunderung gelang ihm das auf Anhieb. Für Bruchteile von Sekunden schaute er in das Gesicht eines Mädchens. Er erkannte sie sofort: Martha.

Sie wäre die Ehefrau eines ehemaligen Mitschülers, erklärte die Anruferin.
Ihr Name klang fremd.
Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Nein, nein, beteuerte die Frau fast ängstlich, dies sei ausgeschlossen. Sie beschrieb die Erweiterte Oberschule einer brandenburgischen Kleinstadt und sprach vom damaligen Klassenleiter.
Undeutlich spiegelte sich ein Backsteingebäude im Küchenfenster. Das Treppenhaus dort roch unangenehm muffig. Schritte hallten. Eine Tür wurde zugeschlagen.
Was wollte dieser Mitschüler von ihr, nach all den Jahren? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wenn die Angaben stimmten, war sie lediglich ein paar Jahre mit ihm zur Schule gegangen.
Er wolle sich mit ihr treffen, in einer bestimmten Angelegenheit. Die Stimme der Frau hatte einen fast beschwörenden Ton jetzt. Es sei wichtig, wirklich wichtig. Der Krebs ihres Mannes schreite voran, so dass die Zeit dränge.
Wann es ihr passen würde?

Der Kranke schlug die Augen auf und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Sein Herz schlug unregelmäßig, er holte tief Luft.
Wie oft mochte er im Laufe seines Lebens von diesem Mädchen geträumt haben?
Es hatte Phasen gegeben, in denen sogar ihr Name verblasst war: bei der Armee, im Studium, während der ersten Ehejahre.
Dann aber kehrten die zwei Silben in sein Gedächtnis zurück und Martha blickte aus großen blauen Augen in seinen Schlaf, fragend und verständnislos, so wie damals.

Warum sie zugesagt hatte? Sie wusste es nicht. Vermutlich war es der bittende Ton in der Stimme der Frau gewesen. Möglicherweise hatte auch die Erwähnung der Krankheit des ehemaligen Mitschülers dazu geführt, dass sie einer Zusammenkunft zugestimmt hatte.
Sie war neugierig und sie hatte Zeit, viel Zeit.
Die Gaststätte, in der sie sich treffen würden, lag in einer belebten Straße unweit des Zentrums.
Ihr Mann blickte auf, als sie Zeugnisse und alte Fotos vom Boden holte.
Vergilbte Aufnahmen vom Schulanfang: Zopfmädchen in geblümten Sommerkleidern, die krampfhaft zu lächeln versuchten. Jungen, die sich mühten, gerade zu stehen. Einer von ihnen musste er sein.
Aufnahmen von einer Klassenfahrt hatte sie gefunden. Damals war sie 15 gewesen, sie waren nach Weimar gefahren, hatten das Goethe haus im Ilmpark besucht. Sie erkannte die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald.
Wenige Wochen nach dieser Exkursion hatte sie die Schule verlassen müssen.

Der Direktor der EOS, ein grobschlächtiger Mann mit rotem, narbigen Gesicht, hatte erklärt, warum Martha nicht länger Schülerin seiner Schule sein dürfe. Sie würde ihren Platz im Leben finden, gewiss. Er wünsche ihr dies von Herzen. Als Christin und Nichtmitglied der FDJ käme ihr, und das würde sie sicher verstehen, keine größere Rolle bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu. Da bedürfe es tatkräftiger, ideologisch geschulter Menschen. Stolz verwies er auf die hohe Zahl von Berufsoffiziersbewerbern unter den Abiturienten, auf Schülerinnen und Schüler, die bereits den Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt hätten und auf Schulabgänger, die an den ausgezeichneten pädagogischen Hochschulen des Landes studierten.
Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Begeisterung und er wischte sich mit einer schnellen Handbewegung den Speichel von den Lippen.
Zufrieden verlas er eine Erklärung, in der sich auch Lehrerkollegium und Schülervertreter für den Schulausschluss von Martha aussprachen. Sie empfahlen den Wechsel an eine polytechnische Oberschule und wünschten viel Erfolg für ihr weiteres Leben.
Auch er, Georg, gehörte zu den Unterzeichnern des Dokumentes. Als einer der ersten hatte er seinen Namen mit schwarzer Tinte darunter gesetzt.

Martha saß allein in einer Bank, wie hinter einer Glasscheibe. Sie trug einen rostfarbenen Strickpullover und hatte ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Den Blick hielt sie gesenkt. Es sollte einfach vorbei sein.
Dunkle, filzige Stille kroch aus den Scheuerleisten. Die Mitschüler schwiegen und die anwesenden Lehrer, die meisten von ihnen trugen das blaue Hemd mit der aufgehenden Sonne, blickten hilfesuchend zum Schulleiter. ER musste die Aussprache beenden, sonst würde keiner es wagen, den Raum zu verlassen.
Pausenklingeln. Eine andere Klasse verließ lärmend das Nachbarzimmer.
Schließlich erhoben sich auch einige der Lehrer. Für sie war der Fall, dem zahlreiche Parteiversammlungen und Beratungen vorausgegangen waren, abgeschlossen.
Einige der Schüler folgten ihnen gebeugt-hastig, ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Flur entkamen sie endlich dem Schweigen, indem sie belanglose Gespräche begannen.
Andere gingen langsam und nachdenklich aus dem Zimmer. Viele sahen verstohlen zurück:
Martha spürte ihre Bussardblicke.

Georg hatte nach dem Direktor als letzter den Raum verlassen und sich erst an der Tür umgedreht. Martha hob den Kopf und sah ihn aus großen blauen Augen an: fragend, verständnislos und traurig.
Er hatte sie nie wieder gesehen in der Kleinstadt am Rande des Spreewaldes.
Keiner seiner Freund erwähnte in den folgenden Jahren auch nur ihren Namen. Es war, als hätte es die Versammlung nie gegeben.
Georg bestand wie die meisten seiner Altersgenossen das Abitur und erhielt sein Abschlusszeugnis aus den Händen des rotgesichtigen Direktors.
Nach Ableistung der Zeit bei der NVA wurde er Jurastudent, weil er glaubte, etwas bewegen zu können.
Auf einer Reise an die bulgarische Schwarzmeerküste lernte er eine Psychologiestudentin kennen, die seine Frau wurde. Sie war ein sanftes Mädchen gewesen, klug, belesen und eigenwillig. Es gab ein Schwarzweißfoto von ihr aus dieser Zeit. Wenn er es betrachtete, roch er das Meer und den Duft ihrer jungen Haut.
Die Ehe war kinderlos geblieben.
Seine Frau war die einzige, der er jemals von seinen Bedenken erzählt hatte, irgendwann. Dabei hatte er verschwiegen, dass ihn das Tribunal im Klassenzimmer immer verfolgte.
Er hatte daran denken müssen, als Panzer über Alleen rollten. Martha hatte ihn in sein Büro im Ministerium begleitet und er war ihr während seiner Diplomatenzeit in Genf begegnet. Er erinnerte sich an ihre geflochtenen Zöpfe, wenn die Nichten im Garten spielten.

Der Mann, der sich ihr unsicher lächelnd zuwandte, als sie das Restaurant betrat, war ihr fremd. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Finalstadium. Wie oft hatte sie kranke Menschen und deren Angehörige durch diese Phase des Erstickens und der Schmerzen begleitet? Manchmal hatte sie geglaubt, die Ohnmacht nicht mehr ertragen zu können.
Unendlich langsam stand Georg auf und begrüßte Martha schweigend. Ganz zart und warm war seine Hand, wie die eines Kindes.
Alle Zweifel eines Lebens hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Die Züge um den Mund herum waren bitter. In den unnatürlich großen Augen jedoch las sie, dass er das Vergehen seines Tages angenommen hatte.
Verlegen fuhr er sich durch das schüttere graue Haar. Dann begann er zu sprechen, flüsternd. Sie wusste: jedes dieser Worte hatte er sich hundertfach in seiner Dunkelheit, in Fieberträumen und Schmerzen, zurechtgelegt.
Er bat sie um Verzeihung. Um Verzeihung dafür, dass er ihren Schulaussschluss in seiner Funktion als FDJ-Sekretär befürwortet hatte.
Sie wiegelte nicht ab. Martha beugte sich nach vorn, um besser verstehen zu können: sie hörte ihm zu.
Als die Stimme des Mannes schließlich versagte, legte sie ihre kühle Hand auf die seine. Es war ganz still.
Dann erzählte sie ihm, wie sie mit ihren Eltern die Republik verlassen hatte und nach Westberlin gezogen war. Sie erwähnte ihr Abitur, das Medizinstudium in Tübingen, ihren Mann, die Kinder.
Als sie Georg`s Frau in der Tür stand, verabschiedeten sie sich. Sie tat etwas, was sie gewöhnlich vermied: sie umarmte den Mann. Es war so leicht gewesen.

Die Flugzeuge starteten und landeten auf dem Flughafen.
Georg war wach. Er beobachtete, wie sich das grüne Licht des Morgens im Zimmer fing und hörte, wie Regentropfen eine Melodie an die Fensterscheiben trommelten. Es wurde hell.
Sein Tag verging.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo nisavi,
erst mal mein Kompliment für diese kleine gelungene Erzählung, in der ein großes Thema steckt. Erzählt wird hier in zwei Perspektiven, wobei die Wechsel manchmal so fließend erscheinen, dass man im Kopf fast das Umschalten versäumt.
Auch stilistisch – oder besser gesagt „handwerklich“ – hat mir der Text sehr gut gefallen. So wird er dem Anspruch an eine Erzählung gerecht. So sehe ich das zumindest. Ein paar Kleinigkeiten, die mir auffielen, habe ich unten angemerkt. Auch ein paar inhaltliche Dinge musste ich einfach hinterfragen – nicht weil ich die Aussagen anzweifele, sondern weil einige Details aus der Zeit der Handlung für mich neu bzw. ungewöhnlich erschienen.
Alles in allem eine runde Sache, die für mich nur ein einziges Manko hat – es hätte ein wenig mehr sein können. Aber da haben andere User sicherlich auch eine ganz andere Meinung.

Gruß Ralph


Georg war wach[blue]. D[/blue]er Lärm der Flugzeuge, die zur Landung im nahegelegenen Tegel ansetzten, hatte ihn unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Er verharrte reglos mit geschlossenen Augen .Vielleicht konnte er so die verschwimmenden Nachtbilder und ihre leisen Töne am Fliehen hindern.
Stimmgewirr drang an sein Ohr, Geschirrklappern war zu hören, es roch nach frisch gebrühtem Kaffee – die Geräusche und Gerüche des Morgens tröpfelten in seine Traumfragmente wie die Elektrolytlösung in seine Venen. [blue](Das finde ich sehr gut)[/blue]
Er verspürte den Wunsch, sich die Kanüle aus dem Arm zu reißen, hatte Lust, Tassen, Teller und Schüsseln zu zerschlagen. Es sollte einfach still sein.
Der bittere Geschmack des Morgens verursachte ihm Übelkeit.

Früher, als sie noch als Ärztin in der Klinik arbeitete, hatte sie gern lange geschlafen. Seit sie jedoch Rentnerin, war, Pensionärin, wie es vornehm hieß, erwachte sie stets früh. Sie stand dann vorsichtig auf, ging leisen Schrittes in den Wintergarten, setzte sich, gehüllt in ein orangefarbenes Wollplaid, in einen abgewetzten alten Sessel und beobachtete aus halbgeöffneten Augen, wie sich die Dämmerung vom Glashaus fangen ließ.
Sie liebte diese grünen Stunden, in denen die Amseln zu zwitschern begannen und lauschte dem Donnern der S-Bahn-Züge in der Ferne. Die Nachbarn öffneten scheppernd ihr[red]e[/red] Garagentor[red]e[/red] und fuhren zur Arbeit. Eilige Schritte waren zu hören, die Stimmen der Passanten kamen näher – hin und wieder verstand sie sogar einzelne Worte der morgendlichen Konversationen – entfernten sich und fügten sich in den Rhythmus des erwachenden Morgens.
Manchmal, wenn die Regentropfen eine monotone Melodie in [blue](auf?)[/blue] die Scheiben trommelten, kam es vor, dass sie noch einmal einschlief. Sie erwachte dann mit dem Gefühl, das Wichtigste vom Tag, sein Werden, verpasst zu haben.
Erst wenn es ganz hell geworden war, erhob sie sich, streifte die Decke ab und bereitete in der Küche das Frühstück.

Er war wieder der an Windpocken erkrankte sechsjährige Junge gewesen, der schwitzend und mit juckender Haut im Dunkel des elterlichen Schlafzimmers lag. Von Zeit zu Zeit tauchte er aus Halluzinationen auf: allein und verlassen fühlte er sich. Er rief nach der Mutter, die in der benachbarten Küche hantierte. Geduldig antwortete sie ihm jedes Mal mit sanfter Stimme, zuweilen trat sie an sein Bett und legte ihre kühle weiße Hand auf seine Stirn.
Er dämmerte dann hinüber in andere, hitzige Fieberträume.
Auto war er gefahren, rasant und schnell, vorbei an abgeernteten Getreidefeldern. Aus den Augenwinkeln hatte er Greifvögel wahrgenommen, sie saßen an den Rainen wie stumme Wächter und schienen ihn zu beobachteten.

Der Duft des Kaffees lockte auch ihren Mann aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten, die Zeitung in der Hand, kam er in die Küche und setzte er sich an den gedeckten Tisch. Sie frühstückten ausgiebig, meist schweigend. Die Uhr tickte; wenn ihr Mann eine Seite umblätterte, blickte er kurz auf. Er studierte als erstes den Sportteil, sie widmete sich den Kulturnachrichten und löste anschließend Rätsel.
Heute jedoch war sie nicht bei der Sache. Es fiel ihr schwer, sich auf Sätze, Wörter, Buchstaben und Zahlen zu konzentrieren. Drei waagerecht: ein Raubvogel mit sieben Buchstaben. Immer wieder musste sie an den gestrigen Anruf denken.
Zwei senkrecht: ein 1774 entdecktes chemisches Element.
Sie hatte vergeblich versucht, der Stimme am anderen Ende der Leitung ein Gesicht zu geben.

Er ahnte, dass er die heraufbeschworenen Erinnerungen allmählich an das Tageslicht verlor[blue] (verlieren würde)[/blue], hinter seinen geschlossenen Lidern erhellte es bereits den gesamten Raum.
Wenn er die Augen öffnete, würde er den Efeustuck an der Decke erblicken. Er konnte den Blick zu den alten Kleiderschränken wandern lassen, von denen die Farbe abblätterte. Er würde den Schreibtisch sehen, auf dem seine Frau Medikamente und Pflegeutensilien lagerte. Den Rollstuhl, der es ihm ermöglichte, an den wenigen guten Tagen das Haus zu verlassen. Ein Sauerstoffgerät, das für Erleichterung sorgte, wenn er Probleme mit der Atmung hatte.
Noch aber war er nicht bereit für den Anblick eines Krankenzimmers.
Georg nahm all seine Kraft zusammen und versuchte ein letzten Traumfetzen zu fassen. Zu seiner Verwunderung gelang ihm das auf Anhieb. Für Bruchteile von Sekunden schaute er in das Gesicht eines Mädchens. Er erkannte sie sofort: Martha.

Sie wäre die Ehefrau eines ehemaligen Mitschülers, erklärte die Anruferin.
Ihr Name klang fremd.
Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Nein, nein, beteuerte die Frau fast ängstlich, dies sei ausgeschlossen. Sie beschrieb die Erweiterte Oberschule einer brandenburgischen Kleinstadt und sprach vom damaligen Klassenleiter.
Undeutlich spiegelte sich ein Backsteingebäude im Küchenfenster. Das Treppenhaus dort roch unangenehm muffig. Schritte hallten. Eine Tür wurde zugeschlagen.
Was wollte dieser Mitschüler von ihr, nach all den Jahren? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wenn die Angaben stimmten, war sie lediglich ein paar Jahre mit ihm zur Schule gegangen. [blue] (Kleiner Regiefehler! Wenn Georg bereits mit auf dem Klassenfoto der Einschulung – siehe unten – zu sehen ist, er aber später mit darüber entscheidet, ob Martha auf der EOS bleiben darf, sind sie mindestens neun jahre in einer Klasse gewesen. Oder sehe ich das falsch?)[/blue]
Er wolle sich mit ihr treffen, in einer bestimmten Angelegenheit. Die Stimme der Frau hatte einen fast beschwörenden Ton jetzt. Es sei wichtig, wirklich wichtig. Der Krebs ihres Mannes schreite voran, so dass die Zeit dränge.
Wann es ihr passen würde?

Der Kranke schlug die Augen auf und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Sein Herz schlug unregelmäßig, er holte tief Luft.
Wie oft mochte er im Laufe seines Lebens von diesem Mädchen geträumt haben?
Es hatte Phasen gegeben, in denen sogar ihr Name verblasst war: bei der Armee, im Studium, während der ersten Ehejahre.
Dann aber kehrten die zwei Silben in sein Gedächtnis zurück und Martha blickte aus großen blauen Augen in seinen Schlaf, fragend und verständnislos, so wie damals.

Warum sie zugesagt hatte? Sie wusste es nicht. Vermutlich war es der bittende Ton in der Stimme der Frau gewesen. Möglicherweise hatte auch die Erwähnung der Krankheit des ehemaligen Mitschülers dazu geführt, dass sie einer Zusammenkunft zugestimmt hatte.
Sie war neugierig und sie hatte Zeit, viel Zeit.
Die Gaststätte, in der sie sich treffen würden, lag in einer belebten Straße unweit des Zentrums.
Ihr Mann blickte auf, als sie Zeugnisse und alte Fotos vom Boden holte.
Vergilbte Aufnahmen vom Schulanfang: Zopfmädchen in geblümten Sommerkleidern, die krampfhaft zu lächeln versuchten. Jungen, die sich mühten, gerade zu stehen. Einer von ihnen musste er [blue](es)[/blue]sein.
Aufnahmen von einer Klassenfahrt hatte sie gefunden. Damals war sie 15 gewesen, sie waren nach Weimar gefahren, hatten das [red]Goethehaus[/red] im Ilmpark besucht. Sie erkannte die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. [blue] Ich erinnere mich. Die Fahrt haben wir damals auch gemacht, allerdings schon in der achten Klasse –unter anderem in Vorbereitung der Jugendweihe)[/blue]
Wenige Wochen nach dieser Exkursion hatte sie die Schule verlassen müssen. [blue] (Hier muss ich mal nachfragen. Auf welche Zeit bezieht sich das? Auf die EOS ging man ja ab der neunten Klasse. Die Entscheidung, ob man zur EOS durfte oder nicht fiel meines Erachtens aber spätestens in der achten Klasse. Mir ist daher kein Fall bekannt, wo jemand zur EOS zugelassen wurde, um erst später wieder an die POS zurück versetzt zu werden. Dafür könnte ich mir höchstens mangelnde Leistungen als Grund vorstellen. Alles andere wurde meines Wissens bereits vorher von den zuständigen Stellen geprüft. Irre ich mich da?)[/blue]

Der Direktor der EOS, ein grobschlächtiger Mann mit rotem, narbigen Gesicht, hatte erklärt, warum Martha nicht länger Schülerin seiner Schule sein dürfe. Sie würde ihren Platz im Leben finden, gewiss. Er wünsche ihr dies von Herzen. Als Christin und Nichtmitglied der FDJ käme ihr, und das würde sie sicher verstehen, keine größere Rolle bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu. Da bedürfe es tatkräftiger, ideologisch geschulter Menschen. Stolz verwies er auf die hohe Zahl von Berufsoffiziersbewerbern unter den Abiturienten, auf Schülerinnen und Schüler, die bereits den Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt hätten und auf Schulabgänger, die an den ausgezeichneten pädagogischen Hochschulen des Landes studierten.
Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Begeisterung und er wischte sich mit einer schnellen Handbewegung den Speichel von den Lippen.
Zufrieden verlas er eine Erklärung, in der sich auch Lehrerkollegium und Schülervertreter für den Schulausschluss von Martha aussprachen. Sie empfahlen den Wechsel an eine polytechnische Oberschule und wünschten viel Erfolg für ihr weiteres Leben.
Auch er, Georg, gehörte zu den Unterzeichnern des Dokumentes. Als einer der ersten hatte er seinen Namen mit schwarzer Tinte darunter gesetzt.

Martha saß allein in einer Bank, wie hinter einer Glasscheibe. Sie trug einen rostfarbenen Strickpullover und hatte ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Den Blick hielt sie gesenkt. Es sollte einfach vorbei sein.
Dunkle, filzige Stille kroch aus den Scheuerleisten. [blue] gefällt mir[/blue] Die Mitschüler schwiegen und die anwesenden Lehrer, die meisten von ihnen trugen das blaue Hemd mit der aufgehenden Sonne, [also, dass die „meisten“ Lehrer im FDJ-Hemd dort rumgesessen haben, halte ich für ein wenig übertrieben. Nicht nur deshalb, dass mir selbst während meiner Schul- , Lehr oder Studienzeit ein Lehrer oder Dozent im Blauhemd begegnet wäre, sondern weil die meisten schlicht und ergreifend bereits altersmäßig aus dem Hemd heraus gewachsen waren. Und wieder stellt sich mir daher die Frage, wann hat das Beschriebene stattgefunden?)[/blue] blickten hilfesuchend zum Schulleiter. ER musste die Aussprache beenden, sonst würde keiner es wagen, den Raum zu verlassen.
Pausenklingeln. Eine andere Klasse verließ lärmend das Nachbarzimmer.
Schließlich erhoben sich auch einige der Lehrer. Für sie war der Fall, dem zahlreiche Parteiversammlungen und Beratungen vorausgegangen waren, abgeschlossen.
Einige der Schüler folgten ihnen gebeugt-hastig, ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Flur entkamen sie endlich dem Schweigen, indem sie belanglose Gespräche begannen.
Andere gingen langsam und nachdenklich aus dem Zimmer. Viele sahen verstohlen zurück:
Martha spürte ihre Bussardblicke.[blue] („Bussardblicke“ suggerieren mir etwas Negatives. Sicherlich gab es solche Hunderfünfzigprozentigen, die so etwas wie Befriedigung über Marthas Auschluss empfunden haben mögen. Die Mehrheit wird wohl eher Mitgefühl verspürt haben. Und wenn sie das nicht mal im Blick auszudrücken vermochten, waren sie einfach nur feige. Ist ein Bussard feige?“)[/blue]

Georg hatte nach dem Direktor als letzter den Raum verlassen und sich erst an der Tür umgedreht. Martha hob den Kopf und sah ihn aus großen blauen Augen an: fragend, verständnislos und traurig.
Er hatte sie nie wieder gesehen in der Kleinstadt am Rande des Spreewaldes.
Keiner seiner Freund[red]e[/red] erwähnte in den folgenden Jahren auch nur ihren Namen.[blue] (Halte ich für schlicht übertrieben und daher auch als nicht erwähnenswert [/blue] Es war, als hätte es die Versammlung nie gegeben.
Georg bestand wie die meisten seiner Altersgenossen das Abitur und erhielt sein Abschlusszeugnis aus den Händen des rotgesichtigen Direktors.
Nach Ableistung der Zeit bei der NVA wurde er Jurastudent, weil er glaubte, etwas bewegen zu können. [blue] (was hätte er bewegen wollen?[/blue]
Auf einer Reise an die bulgarische Schwarzmeerküste lernte er eine Psychologiestudentin kennen, die seine Frau wurde. Sie war ein sanftes Mädchen gewesen, klug, belesen und eigenwillig. Es gab ein Schwarzweißfoto von ihr aus dieser Zeit. Wenn er es betrachtete, roch er das Meer und den Duft ihrer jungen Haut.
Die Ehe war kinderlos geblieben.
Seine Frau war die einzige, der er jemals von seinen Bedenken [blue] (Was für Bedenken? Ich fasse den Text so auf, dass Georg nicht nur Bedenken, sondern sogar Schuldgefühle besitzt)[/blue] erzählt hatte, irgendwann. Dabei hatte er verschwiegen, dass ihn das Tribunal im Klassenzimmer immer verfolgte.
Er hatte daran denken müssen, als Panzer über Alleen rollten. [blue] Wann rollten denn Panzer über die Alleen?[/blue] Martha hatte ihn in sein Büro im Ministerium begleitet und er war ihr während seiner Diplomatenzeit in Genf begegnet. [blue] Also ist er ihr nach Jahren mindestens zweimal begegnet Aber in welchem Zusammenhang. Was macht die DDR-Flüchtige in einem DDR-Ministerium, und was führt sie in Genf zusammen? Und wie verliefen diese Begegnungen? Da bleibt für mich zuviel offen. Entweder, Du gehst da etwas näher darauf ein oder lässt es einfach weg)[/blue] Er erinnerte sich an ihre geflochtenen Zöpfe, wenn die Nichten im Garten spielten.

Der Mann, der sich ihr unsicher lächelnd zuwandte, als sie das Restaurant betrat, war ihr fremd. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Finalstadium. Wie oft hatte sie kranke Menschen und deren Angehörige durch diese Phase des Erstickens und der Schmerzen begleitet? Manchmal hatte sie geglaubt, die Ohnmacht nicht mehr ertragen zu können.
Unendlich langsam stand Georg auf und begrüßte Martha schweigend. Ganz zart und warm war seine Hand, wie die eines Kindes.
Alle Zweifel eines Lebens hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Die Züge um den Mund herum waren bitter. In den unnatürlich großen Augen jedoch las sie, dass er das Vergehen seines Tages angenommen hatte.
Verlegen fuhr er sich durch das schüttere graue Haar. Dann begann er zu sprechen, flüsternd. Sie wusste: jedes dieser Worte hatte er sich hundertfach in seiner Dunkelheit, in Fieberträumen und Schmerzen, zurechtgelegt.
Er bat sie um Verzeihung. Um Verzeihung dafür, dass er ihren Schulaussschluss in seiner Funktion als FDJ-Sekretär befürwortet hatte.
Sie wiegelte nicht ab. Martha beugte sich nach vorn, um besser verstehen zu können: sie hörte ihm zu.
Als die Stimme des Mannes schließlich versagte, legte sie ihre kühle Hand auf die seine. Es war ganz still.
Dann erzählte sie ihm, wie sie mit ihren Eltern die Republik verlassen hatte und nach Westberlin gezogen war. Sie erwähnte ihr Abitur, das Medizinstudium in Tübingen, ihren Mann, die Kinder.
Als sie Georg`s Frau in der Tür stand, verabschiedeten sie sich. Sie tat etwas, was sie gewöhnlich vermied: sie umarmte den Mann. Es war so leicht gewesen.

Die Flugzeuge starteten und landeten auf dem Flughafen.
Georg war wach. Er beobachtete, wie sich das grüne Licht des Morgens im Zimmer fing und hörte, wie Regentropfen eine Melodie an die Fensterscheiben trommelten. Es wurde hell.
Sein Tag verging.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Lol ... Ralph;)

Martha war "im Geiste" immer dabei... also im Ministerium
und in Genf (hehe Diplomat!)
Während er stramm den weg nach oben ging hat ihn als guten Kommunisten die Ungerechtigkeit geplagt an der er als 15! jähriger beteiligt war.
Als anständiger Kerl, der er im innersten ja ist, will er vor dem baldigen Ende diese Schuld loswerden.

(ich hätte fast geweint)

Wenn Martha das Einzige war, was ihm nach DIESER Karriere auf der Seele lastet, kann man es ja fast bedauern, dass er bald an Krebs stirbt. Ein wenig mehr Zeit zum Erinnern und Reflektieren würde ich ihm schon noch gönnen.

Mir gefällt die Geschichte - unabhängig vom ungereimten Inhalt, nicht. Es war sehr Mühsam zu lesen (für mich).

mumpf
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo mumpf,


"Martha war "im Geiste" immer dabei... also im Ministerium
und in Genf (hehe Diplomat


Scheiße - der Punkt geht an dich. Ich weiß, ich werde alt.

Und was Du sonst noch zu dem Thema anzumerken hast - O.k. - da kann man durchaus deiner Meinung sein. Ich unterstelle aber einfach mal, dass Georgs Beteiligung an diesem Schulverweis, für ihn als der Beginn einer ganzen Reihe, für die Karriere eventuell unabdingbarer, weiterer "Ungerechtigkeiten" gesehen wird. Vielleicht eine Art "Startschuld"? Der Auslöser für alles, was danach noch gekommen sein mag. Und das will er los werden. Wäre dem nicht so, dann würde die Erzählung inhaltlich unter Berücksichtigung deiner Argumente ("Wenn Martha das Einzige war, was ihm nach DIESER Karriere auf der Seele lastet, kann man es ja fast bedauern, dass er bald an Krebs stirbt.") tatsächlich nur ein wenig an der Oberfläche kratzen.
Du siehst, Du hast mich ins Schwimmen gebracht. Jetzt würde mich die Meinung der Autorin/ des Autoren wirklich interessieren.

Gruß Ralph
 

nisavi

Mitglied
hallo ralph,

zunächst danke für die intensive auseinandersetzung mit dem text.
auch auf die gefahr hin, mich zu wiederholen: ich bin nicht sehr erfahren, was prosa angeht und schätze deine hinweise.

du schreibst, dass der perspektivenwechsel sich fließend gestaltet. andere leser (siehe auch mumpf`s kommentar) haben gerade damit probleme. ich überlege daher schon geraume zeit, ob ich diesen wechsel zugunsten von zwei in sich geschlossenen texten aufgebe.

- im zusammenhang mit der schulzeit bin ich davon ausgegangen, dass martha und georg zum gleichen zeitpunkt eingeschult wurden, an einer schule, aber nicht unbedingt in einer klasse, lernten. erst ab klasse 9 besuchten sie gemeinsam die eos. insofern ist "Was wollte dieser Mitschüler von ihr, nach all den Jahren? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wenn die Angaben stimmten, war sie lediglich ein paar Jahre mit ihm zur Schule gegangen."schlampig formuliert. da hast du recht.
selbst wenn die beiden neun jahre in einer klasse gewesen wären, wäre die zeitangabe "ein paar jahre" nicht exakt. hm.

- in der regel wurde bereits an der polytechnischen oberschule "ausgesiebt",wer abi machen durfte, auch da gebe ich dir recht.
soweit ich weiß, gab es aber im zusammenhang mit dem 17.juni 1953 einige fälle, in denen junge menschen, die sich zb in jungen gemeinden engagierten, relegiert wurden.
(ich bin jahrgang 1968 und habe mich in diesem konkreten fall auf berichte von verwandten verlassen.)

- mit "bussardblick" verbinde auch ich eher negatives. bohrende blicke. strenge beobachtung.

- "Keiner seiner Freunde erwähnte in den folgenden Jahren auch nur ihren Namen." ich glaube, dass soetwas durchaus möglich ist. kollektive verdrängung von unangenehmen ereignissen. aber für den fortgang der geschichte unerheblich, stimmt.

- was georg bewegen wollte? ich kann es nur vermuten. ich denke, er war einer von den jungen idealisten, die in den ersten jahren der ddr an eine gerechte (gerechtere?) gesellschaftsordnung glaubten.einer von denen, die sich ehrlichen herzens an der gesellschaftlichen auseinandersetzung beteiligen wollten. einer, der zu spät begriff, wohin der hase eigentlich lief.

- "bedenken" ist (vor allem in anbetracht des zeitpunktes)zu lasch. werde ich durch "schuldgefühl" ersetzen.

- panzer rollten 1968 über alleen, über tschechische und slowakische.

insgesamt geht es mir mit dem text eigentlich darum, bestimmte dinge nicht in vergessenheit geraten zu lassen.
ich will sie erzählen.
ich will erzählen, wie sich der mann der schuld stellt. wie er versucht, sie zu tilgen. (tilgen? sagt man das?)
ob zu dieser "startschuld" noch andere dinge kamen, vielleicht schwerwiegendere, weiß ich nicht.ob es weitere sachverhalte gab, die er eventuell schon früher geklärt haben könnte? das ist nicht mein thema.
ic hwill nicht urteilen.
und schließlich, nur, um keine missverständnisse aufkommen zu lassen: es liegt mir fern, die damaligen gesellschaftlichen verhältnisse in irgendeiner art und weise zu beschönigen oder zu verklären.(georg hat eine steile sozialistische karriere gemacht, ganz sicher auch vorteile genossen, während andere an der mauer erschossen oder im stasiknast gefoltert wurden, mit billigung der arbeiter-und bauernpartei.ich maße mir dennoch nicht an, ihm anstand abzusprechen)

n.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
auf keinen fall, nisavi, wollen wir uns anmaßen irgendjemandem den anstand abzusprechen. man kann menschen die unbelehrbar sind auch mit anstand erschiessen (lassen) - da stimme ich dir voll und ganz zu. deswegen muß man ja kein schlechter mensch sein. ;)

mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Lieber nisavi,

bis jetzt kenne ich eine Prosageschichte von dir, sie hatte mir sehr gut gefallen, dies hier ist die zweite. Technisch wäre zu sagen, dass die Verschachtelung der Ereignisse der Geschichte nicht zuträglich ist, zumal du die Namen recht spärlich handhabst. Aufgefallen ist mir auch, dass du diesmal Wortklischees benutzt: z. B. monotone Melodie, kühle weiße Hand, die großen blauen Augen, Zeit, viel Zeit. Hat mich gestört. Es gibt nur einen Augenwinkel, sonst würde der arme Georg geschielt haben. Es muss heißen: Sie sei (nicht wäre) die Ehefrau eines ehemaligen Mitschülers, erklärte die Anruferin. Zum Gebrauch des Konjunktivs: Man darf durchaus den Indikativ benutzen, wenn man eine Tatsache nicht bezweifelt. Du hast es also völlig richtig geschrieben (Ralph moniert das und verlangt den Konjunktiv). Also: Er ahnte, dass er die heraufbeschworenen (überflüssig) Erinnerungen allmählich an das Tageslicht verlor ...

Ich finde die Geschichte ansonsten sehr gut erzählt, ich ging mit, und ich befürworte auch den Konflikt der Geschichte. (Ralph hat dich auf Ungereimtheiten hingewiesen, du weißt Bescheid, ich muss das also nicht mehr tun.)

Dein Georg ist etwas jünger als ich. Die Zeit, als jemand wegen seiner Mitarbeit in der Jungen Gemeinde angegriffen wurde (und zwar nicht er selbst, sondern es gab Gespräche zwischen Lehrer und Eltern, ich habe nie bemerkt, dass ein Lehrer einen Schüler deshalb zurücksetzte, entscheidend waren immer die Leistungen) lag weiter zurück als 1968 (das ist der einzig konkrete Hinweis auf die Zeit – die Panzer), und zwar Anfang der fünfziger Jahre, als es weder eine POS noch eine EOS gab. Zu dieser Zeit gab es seitens der evangelischen Kirche eine hemmungslose Anti-DDR-Propaganda, und es ist klar, dass die DDR sich gesagt hat, wer zu diesen Leuten geht, kann nicht unser Freund sein, den fördern wir nicht, denn anschließend geht der sowieso in den Westen, und wir haben umsonst in ihn investiert. Das alles änderte sich allmählich, aber spätestens nach 1961 war das kein Thema mehr. Ich habe in dieser Geschichte nicht herausgefunden, wann sie in der Vergangenheit eigentlich spielt. Insofern bin ich mir bei dieser Geschichte nicht sicher, ob dieser Konflikt eigentlich überhaupt noch existierte. Ich bin in den fünfziger Jahren aus der Schule gekommen, und aus meiner Klasse sind zwei Schüler, obwohl sie konfirmiert wurden (also keine Jugendweihe erhielten) und in der Jungen Gemeinde aktiv waren, trotzdem zur Oberschule (damals gab es noch ein anderes Schulsystem mit Volksschule, Mittelschule und Oberschule) delegiert worden. Ich glaube nicht, dass meine Schule da besonders dissidentisch war, sondern das war Usus, denn inzwischen gab es in der DDR ein Umdenken, man wusste, man muss auch die Kirchen mitnehmen – später gab es ja die Kirche im Sozialismus (wovon viele Pfarrer z. B. heute nichts mehr wissen wollen, oder sie waren schon immer dagegen und mussten nur gezwungen mitmachen usw. usw. Auch die Herren Pfarrer haben aufzuarbeiten, aber davon hört man nichts, im Gegenteil, sie schimpfen heute wie die Rohrspatzen auf die bösen Kommunisten). Das ist der Punkt, den ich dir so einfach nicht abnehmen kann, und damit steht und fällt aber auch deine Geschichte.

Noch ein nicht erwähnter Punkt: Darüber, ob jemand zur EOS delegiert wurde oder nicht, entschied das Lehrerkollegium mit den entsprechenden höheren Stellen beim Rat des Kreises. Der Klassen-FDJ-Sekretär hatte höchstens seine Meinung zu sagen (es ging um gesellschaftliche Aktivitäten, wie das genannt wurde), man wusste aber, sie konnte nicht objektiv sein (immerhin ging es hier um einen Klassenkameraden), und deshalb fiel sie am Ende nicht sehr ins Gewicht – jedenfalls dann, wenn man es bei den Lehrern mit vernünftigen Leuten zu tun hatte (ich kannte nur solche). Mehr zählte die Meinung der Lehrer, sie kannten ja von Elternversammlungen die Eltern und waren da sowieso eher in der Entscheidung. Insofern empfinde ich die Geschichte doch ein wenig konstruiert. Die Geschichte reiht sich ein in so viele andere, die DDR-Aufarbeitung betreiben und dabei (mitunter aus durchsichtigen Gründen) übertreiben, so dass ihnen am Ende doch ein gehöriges Quantum Glaubwürdigkeit mangelt, zumindest bei Leuten meiner Generation, die die DDR von Anfang bis Ende erlebt haben. Oder liegt es daran, dass dir einfach Zeitereignisse fehlen? Ich will nicht sagen, dass du allzusehr übertreibst, im Gegenteil, ich empfinde die Geschichte eher als unaufgeregt, aber ein wenig davon: Herr Lehrer, ich weiß was – davon, nisavi, hat sie doch (es ist eben ein schmaler Grat, auf dem man sich bei diesem Thema bewegt). Und deshalb, das sage ich dir ehrlich, gefällt sie mir nur eingeschränkt. Man muss eben vor sich selbst bestehen können, wenn man morgens vor dem Spiegel gähnt.

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
hallo hanna,

Zu dieser Zeit gab es seitens der evangelischen Kirche eine hemmungslose Anti-DDR-Propaganda, und es ist klar, dass die DDR sich gesagt hat, wer zu diesen Leuten geht, kann nicht unser Freund sein, den fördern wir nicht, denn anschließend geht der sowieso in den Westen, und wir haben umsonst in ihn investiert.
wieso eigentlich ist das "klar"? quasi das normalste von der welt. welches menschenbild steckt hinter dieser klarheit?
investitionsobjekt mensch?
woraus hätte diese investition denn bestanden? zwei schüler mehr in einer abiturklasse? oder fünf stundenten mehr in einem hörsal? na ja, klar, das wäre sicher an die finanzielle leistungsgrenze der ddr gegangen.
ich entdecke in dieser klarheit die überzeugung über menschen beliebig verfügen zu können. einen eigentumsanspruch.
die nazis haben auch selektiert, nicht nur rassich auch ideologisch, in ihren schulen.
mir scheint diese logik der selektion ein kennzeichen für totalitäre regime zu sein. jedenfalls nicht mit einem (von der ddr immer gern für sich reklamierten "humanistischen" menschenbild vereinbar).

inerhalb einer solchen logik macht es natürlich sinn.

und wie du richtig sagst: nach 61 war das kein thema mehr.
als dumpfes arbeitsvieh im tagebau taugt so ein mensch allemal. studieren oder auch nur das abitur machen durften auch nach 61 viele nicht. wenn auch die entscheidungsprozesse etwas weniger spektakulär und öffentlich waren. aber nur etwas weniger. es war immer noch für jeden sichtbar der es sehen wollte. allerdings war das sozialistische menschenbild da schon sosehr zum allgemeingut geworden, dass die überwiegende mehrheit es völlig normal und "klar" fand das man nur dann ein recht auf bildung hat wenn man unauffällig und konform ist.

und: wieviel angst muss ein staat vor denkenden menschen haben, wenn er versucht dieses denken, soweit es irgend geht, sich nicht entwickeln zu lassen?

und: wie bewusst muss so ein staat (oder zumindest dessen entscheidungsträger) sich seiner eigenen unzulänglichkeit, seiner menschenfeindlichkeit sein, dass er selbst vor den kindern/jugendlichen eine heidenangst hat. soviel angst das er
versucht ihre entwicklung zu behindern soweit es in seiner macht steht?

dumm nur das menschen sich trotzdem entwickeln.
manche stellen sich erst im nachhinein als fehlinvestition heraus. andere entwickelten sich auch ohne die förderung durch die organe der sozilistischen volksbildung.
noch andere vielleicht sogar besser, immerhin sind sie ja auch der erziehung zum gehorsam entgangen.

genutzt hat das alles nichts. auch ein indiz dafür, dass mit dem bild vom "sozialistischen menschen" irgendwas nicht stimmen kann.

soviel aus meiner sicht zur logik der ddr und zur "klarheit" von deren funktionsmechanismen.

noch eine kleine anmerkung: du schreibst oben "Zu dieser Zeit gab es seitens der evangelischen Kirche eine hemmungslose Anti-DDR-Propaganda".

die ddr hat nie, zu keiner zeit, und zu der zeit schon gar nicht "hemmungslose Anti-DDR- Propaganda" geduldet.

auch die hemmungen im umgang mit pfarrern/priestern welche die ddr in späteren jahren - aus taktischen erwägungen - hatte, waren in den 50ziger jahren noch nicht sehr ausgeprägt.

einen schönen tag

mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Mumpf,

ich weiß nicht, von welcher Zeit du redest, als "denkende Menschen" (ob Christen immer die besser denkenden Menschen sind, ist noch die Frage) nur in den Bergbau gehen konnten, wie du schreibst, und keinesfalls studieren durften. Für wahrscheinlich halte ich die vereinzelte Verwehrung des Studiums für aktive Christen für die Zeit bis 61. Aber dass in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Zeit die DDR so haushälterisch mit der Vergabe von EOS- und Studienplätzen umging - kann man ihr das tatsächlich vorwerfen? Auch in der freiheitlichen Bundesrepublik kann nicht jeder werden, was er will, und das nicht nur aus sozialen Ursachen. Dadurch, dass nisavi die Zeit nicht genau benennt, entsteht der Eindruck: In der DDR durften Christen generell nicht studieren. Und das ist einfach nicht die Wahrheit.

Erstens halte ich mich auch für einen denkenden Menschen, obwohl Atheistin, und zweitens habe ich in der DDR bestimmt nicht im Bergbau gearbeitet. Dass das, was du schreibst (und auch nisavis Text aussagt), so nicht ganz stimmen kann, dafür ist doch unsere Bundeskanzlerin der beste Beweis: Pfarrerstochter - trotzdem EOS, Studium (im übrigen FDJ-Sekretärin!). Du willst ihr doch hoffentlich nicht so viel Charakterlosigkeit unterstellen, unter Terror und Zwang zur gewissenlosen Mitläuferin (dass ihr diese Rolle nun wirklich nicht liegt, beweist sie ja) geworden zu sein. Oder habe ich bei deiner leidenschaftlichen Entgegnung irgendwas nicht richtig verstanden?

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
liebe hanna,
ja. du hast was gründlich falsch verstanden.
mir ging es um die "klarheit". die selbstverständlichkeit mit der wir manche argumente akzeptieren.

schönen abend

mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Mumpf, von welchen Argumenten sprichst du eigentlich?
Ich habe in deiner Meinungsäußerung, ehrlich gesagt, nur eine Anhäufung reichlich dumpfer, aber heute opportuner Redereien gelesen und versucht, der Sache wenigstens einen rationalen Kern zu geben.

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
liebe hanna
dumpf und opportun ist die aussage "hemmungslose Anti-DDR-Propaganda". ich kann das nur wiederholen. die ddr hat nie und zu keiner zeit "hemmungslose Anti-DDR-Propaganda" zugelassen.
das ist ddr-sprachgebrauch. anwendbar und angewendet auf jede form von kritik.

dumpf und opportun - und die begründung für den bau der mauer - ist die aussage: wer zu diesen Leuten geht, kann nicht unser Freund sein, den fördern wir nicht, denn anschließend geht der sowieso in den Westen, und wir haben umsonst in ihn investiert.

ich habe dir an keiner stelle unterstellt das du diese aussage teilst. lediglich die leichtigkeit und selbstverständlichkeit mit der so ein argument kolportiert wird, sprach ich an.
na ja. wenn du meine aussagen so liest/verstehst wie du sagst ...
auch recht.

somit dürfte wenigstens klar sein, dass wir diese diskussion nicht sinnvoll weiterführen können.

einen schönen abend

mumpf
 



 
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