Geschichten aus Nichtberlin (1) - Nackt in Bochum

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Billy

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Es muss gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als ich nach Hause fuhr. Die Party war O.K., aber ich hatte zu viel Bier getrunken und dabei den Zeitpunkt verpasst früh genug aufzuhören. Ich bemerkte es erst, als ich mich bei meinem Gesprächspartner entschuldigte, um aufs Klo zu gehen.

Die Wirkung des Alkohols war deutlich und unerwartet und machte sich bemerkbar, indem sie mich recht heftig vor ein fremdes Stuhlbein treten lies und ich beinahe gestürzt wäre. Ich murmelte, leicht schwankend, irgendetwas wie Entschuldigung, sammelte mich und schaute unauffällig in die Runde, um zu kontrollieren, ob jemand meine alkoholbedingte Unsicherheit bemerkt hatte. Leute saßen auf dem Sofa, lehnten an der Wand, rauchten, tranken und unterhielten sich, aber niemand schaute zu mir. Auf dem Rückweg vom Klo nahm ich mir zur Sicherheit zwei Biere aus der mit kaltem Wasser gefüllten Badewanne mit.

Als mir aber wenig später vor den Augen meines Gegenüber etwas Flüssigkeit aus der Bierflasche am Mund vorbei aufs Hemd tropfte und nur wenige Minuten später herabfallende Zigarettenglut die Hose verbrannte, entschloss ich mich nun endlich vernünftig zu sein, stieg ins Auto und fuhr heim.

Zu Hause angekommen konnte ich mich an Einzelheiten der Fahrt nicht mehr erinnern. Ich dachte kurz darüber nach noch ein Gute-Nacht-Bier mit ins Bett zu nehmen, aber irgendwie wurde mir beim Gedanken schon schlecht also ließ ich es lieber.

Alkohol lässt einen ja immer sehr rasch einschlafen aber auch leider sehr früh wieder aufwachen. Irgendwann war es dann soweit. Ich musste pinkeln und das dringend. Aber so richtig wollte ich das nicht wahrhaben, im Kopf pochte etwas und ich entschied die Notdurft zu verschieben und mich erst einmal liegend der aufkommenden Übelkeit zu übergeben. Ja es ging mir schlecht, sehr schlecht sogar und dann konnte ich es nicht mehr aushalten und stolperte nackt durch die dunkle Wohnung zum Klo. Ich tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht, weder im Flur noch im Klo. Na ja egal, es wird schon gehen, ist ja schließlich meine Wohnung, dachte ich, öffnete die Tür, trat ein, hörte, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel und stand plötzlich nackt in meinem Treppenhaus.

Ich schaute mich um, wollte es nicht wahrhaben, drehte mich um zur Tür, griff nach der Klinke um zu prüfen ob sie wirklich geschlossen war, rüttelte an ihr, rüttelte an ihr kräftig, aber keine Chance - die Tür war wirklich zu. Ich schmunzelte, schüttelte ganz allein für mich den Kopf und dachte an einen alten Rokko Schamoni Refrain: Ich war nackt in Las Vegas. Aber ich war nicht nackt in Las Vegas, sondern ich war nackt in Bochum, in der Alsenstraße 7, im dritten Stock eines fünfstöckigen Mehrfamilienhauses, mit 10 Mietparteien. Mir verging das Schmunzeln, ich wurde so langsam wach und das ungute Gefühl beschlich mich, hier wirklich in einer ganz beschissenen Situation zu stecken. Ich ging noch einmal zur Tür. Nichts zu machen, die Tür war zu und ich hatte natürlich keinen Schlüssel mitgenommen.

Ich setzte mich mit dem nackten Hintern auf eine kalte Treppenstufe, um über meine Lage und meine Möglichkeiten nachzudenken. Die Tür war durch mich nicht zu öffnen, das war klar. Außerdem musste ich dringend pinkeln. Aber wie, besser gesagt wohin? Da fiel mein Blick auf die Kiste mit Mineralwasserflaschen, die ich gestern gekauft hatte. Klar eine leere Flasche, damit ist das erste Problem schon gelöst, freute ich mich. Mit dem guten Gefühl, zumindest einen Teilsieg errungen zu haben, zog ich Flasche für Flasche aus der Kiste - sie waren alle voll. Die leeren hatte ich wahrscheinlich mal wieder einfach in der Wohnung verteilt. Also musste zunächst eine Flasche ausgetrunken werden. Keine schöne Sache, wenn man dringend, mittlerweile hochdringend aufs Klo muss. Aber da half nichts. Ich schraubte eine Flasche auf und trank. Ich schluckte und schluckte, bis die Flasche zur Hälfte geleert war. Ich hielt die grüne, halb leere Flasche gegen das Flurlicht. Vielleicht reicht die entnommene Menge ja schon aus? Wie viel Flüssigkeit pinkelt man eigentlich? Ist es eher ein halber oder ein ganzer Liter? Der Druck wurde zu groß, ich musste es riskieren. Mehr als, dass die Sache rechnerisch nicht aufging, möchte ich hier nicht sagen.

Trotzdem, ein Problem war gelöst. Jetzt konnte ich mich wieder der großen Aufgabe widmen: Ich war nackt in meinem Hausflur in Bochum. Ein Schlüsseldienst musste her. Ich könnte bei meiner Nachbarin eine Etage tiefer klingeln, um von dort zu telefonieren. Mit ihr habe ich schon ab und an ein paar Worte gewechselt. Bestimmt könnte ich ihr die Situation erklären.

Ich ging Barfuß die Stufen zu ihrer Wohnung herunter und dabei fiel mir ihr Mann ein, der im Schichtdienst bei Thyssen arbeitete. Was, wenn er von der Nachtschicht heimkommt, gerade wenn ich nackt in seiner Wohnung stehe? In seiner Wohnung, bei seiner Frau. Ich spürte die kratzige Fußmatte meiner Nachbarin unter den Füßen. Aber auch wenn ihr Mann nicht kommt, was ist mit dem Handwerker vom Schlüsseldienst? Gibt er die Sache direkt an die Presse weiter, bringt er gleich Fotografen mit und morgen bin ich dann die große Lachnummer, überlegte ich, schon leicht paranoid. Das wurde mir alles zu gefährlich.
Ich ließ die Hand vom Klingelknopf sinken und wollte gerade wieder hochgehen, als ich von ganz unten hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Stimmen, lautes Lachen, dann wieder Gemurmel, das langsam näher kam. Vorsichtig schaute ich am Treppengeländer herunter. Immer wenn die Stimmen eine Etage höher kamen und dabei 180 Grad um das Treppengeländer herum zum nächsten Aufgang gingen konnte ich zumindest einen Arm, eine Schulter oder eine Hand erblicken. Dann wurde mir klar, es waren die Mädchen aus der WG über mir. Ich versuchte mich zu konzentrieren, nachzudenken, was könnte ich tun? Gedankenfetzen flogen an mir vorbei. Vielleicht einfach an die Wand lehnen, ganz lässig, beinahe gelangweilt gucken und irgendeinen lockeren, entwaffnenden Witz machen. Irgendeinen. Dumm war nur, dass mir überhaupt keiner einfiel. Also entschloss ich mich zur Flucht. Vorsichtig schlich ich mich in die obere Etage. Dort angekommen hockte ich mich leise hinter das Treppengeländer und schaute nach unten.
Da kamen sie, zwei Mädchen und ein Junge. Albern gibbelnd versuchte eins der Mädchen die Tür aufzuschließen, stellte sich dabei aber, offensichtlich durch den Einfluss von zu viel Alkohol oder selbst gedrehten Zigaretten, dusselig an. Die beiden anderen drängten sich neben sie und forderten den Schlüssel um es selbst zu versuchen. Ich malte mir aus was passieren würde, wenn sie den Schlüssel jetzt abbrächen und dann selbst einen Schlüsseldienst anrufen würden. Dann müsste ich wohl oder übel hier noch Stunden hocken. Wer weiß, wann der Nachbar vor dessen Tür ich mich gerade nackt versteckte aufsteht und das Haus verlässt. Dann ein Aufschrei, jubeln, die Tür wurde aufgestoßen und die drei gingen jodelnd in die Wohnung. Ich atmete durch.

Mit einem kräftigen klack ging das Flurlicht aus. Langsam erhob ich mich, da bekam ich einen heftigen Schlag auf den Kopf. Schmerzverzerrt und zu Tode erschrocken schaute ich mich um und sah über mir ein offenes Flurfenster. Ich tastete meinen Kopf ab, schaute auf meine Hand und versuchte im Halbdunkel des Flurs zu erkennen, ob ich blutete. Durch das offene Fenster konnte ich auf das Gerüst schauen das Bauarbeiter vor zwei Wochen an unserem Haus aufgebaut hatten um unsere Fassade neu zu streichen. Schleichend zeichnete sich eine Idee in den nebeligen Tiefen meines verkaterten Gehirns ab: Ich könnte über das Gerüst zu meinem Küchenfenster klettern. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Fenster von mir auf kipp gestellt war - hoffte ich. Wenn ich es über das Gerüst zu diesem Fenster schaffen würde, dann würde ich es mir auch irgendwie gelingen das Fenster zu öffnen und dann wäre ich in 15 Minuten wieder in meinem warmen Bett. Doch als ich schon ein Bein aus dem Fenster gestreckt hatte, kamen mir Zweifel. Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass ich seit meinem 10. Lebensjahr Brillenträger bin. Ein Zustand, den man bei 2 Dioptrien auf dem einen und 2,5 Dioptrien auf dem anderen Auge nicht außer acht lassen sollte. Schließlich würde ich mich da draußen in großer Höhe bewegen und das mitten in der Nacht. Als schwindelfrei kann ich mich auch nicht unbedingt bezeichnen.

Aber mir blieb ja doch keine andere Wahl und so stand ich Sekunden später, um ca. vier in der Früh, nackt auf dem Gerüst eines Mietshauses in Bochum. Erst einmal versuchte ich mich zu orientieren. Es war windig und kühl hier draußen. Ich musste ein Art Leiter oder etwas Ähnliches finden, um wieder hinunter zur vierten Etage zu kommen. Das Flurfenster auf meiner Etage ließ sich nämlich nicht mehr öffnen, seit es wegen eines Rahmendefekts, von unserem selbst ernannten Hausmeister aus der ersten Etage mit zwei Spaxschrauben festgeschraubt wurde. Ich ging weiter auf dem Brett entlang und schaute mich um, aber da war nichts. Dann wohl doch eher in die andere Richtung. Tatsächlich, am Ende war eine Eisenleiter, die nach unten führte. Vorsichtig näherte ich mich dem Geländer und schaute herab, um zu kontrollieren, ob sich Passanten auf der Straße befanden. Nein, da war niemand zu sehen. Langsam und ganz vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die eiserne, eiskalte Sprosse. Sprosse für Sprosse stieg ich hinab, bis ich die Holzbohle der unteren Etage erreichte. Meine Hände verkrampften beim Festhalten und die Füße schmerzen.
War ja gar nicht so schlimm - den Weg könnte ich glatt noch einmal gehen, versuchte ich einen Scherz mit mir selbst, nicht ahnend, dass mir selbiger tatsächlich noch einmal bevor stehen würde.
An meinem Fenster angekommen musste ich nämlich feststellen, dass ohne Hilfsmittel wie einem Stück Draht oder Ähnlichem nichts zu machen war. Die Hand war einfach zu dick für den schmalen Spalt auf Höhe des innen liegenden Fenstergriffs, wo die Finger immer wieder beim Versuch ihn zu ergreifen abrutschten. Ich probierte und probierte aber so sehr ich mich abmühte, es wollte nicht gelingen. Die Hand tat mir weh und schon glaubte ich eine ordentliche Schwellung auf dem Handrücken zu erkennen. Nach dreißig Minuten harter Arbeit gab ich es auf. Ich legte mich auf den Rücken und sah in den Nachthimmel, der sich langsam erhellte. Mir war arschkalt, ein furchtbarer Kater wütete in meinem Kopf und ich war nackt in Bochum. Schlafen, ich wollte nur noch schlafen, das Problem vertagen, morgen bzw. heute, aber erst viel später weiter darüber nachdenken.

Plink, plink, plink … Eine Etage über mir hing ein Blecheimer, der immer wieder vor das Gerüst schlug. Plink, plink, ich schaute dem Eimer zu. Im Wind wiegte er sich hin und her und ich hoffte, dass der Henkel aus Eisendraht halten würde und der Eimer nicht herunterfällt und mich erschlägt. Ich sah schon die Schlagzeile vor mir: Nackter Mann auf Baugerüst nachts von Eimer erschlagen. Kein schlechter Abgang. Aber dann, plötzlich und einschlagend wurde mir klar: Der Eimer hing an einem Drahthenkel. Das fehlende, rettende Werkzeug um das Fenster zu öffnen. Neue Kraft durchströmte meinen Körper und mit festem Blick auf den Eimer gerichtet, stand ich auf um diesem unerwartetem Abenteuer ein Ende zu bereiten. Also kletterte ich die Sprossen wieder hoch, allerdings diesmal schon etwas schneller, ich hatte ja schon Übung, griff nach dem Eimer und löste den Draht aus seiner Verankerung. Mit dem Schlüssel zur Rettung in der Hand ging es die Eisenleiter wieder herunter, ich ging nicht mehr ich lief, wenn auch immer noch vorsichtig, zu meinem Fenster. Mit nervösen Händen bog ich den Draht auseinander, führte ihn von oben in den Fensterspalt ein und fischte damit nach dem Griff. Ein-, zweimal wollte es nicht klappen, aber dann hakte der Draht ein, ich zog kräftig daran und plötzlich, ich schwöre ich hatte Tränen in den Augen, öffnete sich das Fenster. Ich atmete tief ein, schloss für einen Moment die Augen um diesen Triumph zu genießen. Ich hatte es geschafft, ich habe diese ausweglose Situation gemeistert.

Bevor ich durch das geöffnete Fenster in meine Wohnung stieg, schaute ich noch einmal kurz nach unten auf die Straße. Ein Auto bog ein, parkte und sein Licht erlosch. Die Autotür öffnete sich und ich versuchte angestrengt meine Augen scharf zu stellen. Nur einen Augenblick lang konnte ich die Schärfe halten, aber es reichte aus, um zu erkennen: Es war der Mann meiner Nachbarin von unten, der von der Nachtschicht nach Hause kam.
 



 
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