Gewissen-Haft (2.Runde)

Markus Veith

Mitglied
GewissenHaft

Die Schuhe des Bahnfahrers tappen träge über den Boden. Seine Augen tun ihm weh. Er ist müde. Aber seine Umgebung gönnt ihm keine Abwechslung, um die Trägheit von ihm zu schütteln.
Sein Weg ist ein Tunnel. Doch ist dies keiner der dunklen, unterirdischen Bahntunnel, wie jene, die er früher einmal befahren haben muß. So haben sie bestimmt nicht ausgesehen, dessen ist sich der Bahnfahrer sicher. Trotzdem kommt er nicht umhin, diesen Gang ständig mit jenen U-Bahn-Tunneln zu vergleichen, die er einmal gekannt haben muß. Das sind sicherlich nicht solch krumme Tunnel gewesen. Dieser Stollen verläuft nie gerade. Er beschreibt eine stetige Linkskurve, die der Bahnfahrer nur zehn, vielleicht auch zwölf Meter weit einsehen kann. Dahinter verbirgt die Biegung seine weitere Sicht.
Und alles ist erleuchtet. Obwohl keine Lampen zu sehen sind, ist es hier so hell, daß ihm die Augen schmerzen von dem weißen Licht. Es wird von den Wänden mit den vielen Buchstaben reflektiert. Ja, es scheint sogar aus den Wänden mit den vielen Buchstaben zu leuchten, denn woher soll das Licht wohl sonst kommen, wenn es keine Lampen gibt?
Dieser Tunnel ist wie das Innere eines Schlauches. Es gibt keinen ebenen Fußboden, auf dem man angenehm laufen kann. Es gibt auch keine Winkel oder Ecken, die über dem Kopf eine konkrete Decke wahrnehmen lassen könnten. Es gibt keine Schienen und keine Signalampeln, keine Nischen in denen sich Telefone oder Feuerlöscher befinden, und erst recht keine Notausgänge. Obwohl die doch überall sein sollten, falls mal was passiert. Stattdessen gibt es nur Wand. Eine Wand, die durchgängig und rund um ihn herum verläuft. Nur ist diese Wand nicht weich, sondern hart wie Beton.
Und sie ist beschrieben. Mit Milliarden von Buchstaben. Alle sind verschiedenen Schrifttyps und daher unterschiedlich groß, stehen in Zeilen, sind aber ohne offensichtliches System aneinandergereiht, wie nach einem unverständlichen Geheimcode. Nur hin und wieder entdeckt der Bahnfahrer inmitten dieser Zeilen komplette Wörter. Oder besser: Buchstabenkonstellationen, die Wörter sein könnten, die aber wohl durch das Prinzip des Zufalls entstanden sind. Es sind Worte, wie "ForRan" oder "VaiTer" oder "NahsenaAcH" oder "DalLank".
Der Bahnfahrer fragt sich schon lange, wann diese Kurve denn endlich enden würde. Es gibt keine Steigerung und kein Gefälle. Es gibt auch keine Abbiegungen und es gibt überhaupt kein Rechts, sondern nur ein sanft gebogenes Links, das nie enger oder weiter wird und das der Krümmung nach zu urteilen, gar nicht so langwegig sein kann. Seine maternden Zweifel, der Tunnel habe überhaupt kein Ende, hat der Bahnfahrer bereits des öfteren zu verdrängen versucht. Auch den Verdacht, dieser Gang sei eigentlich ein Ring, der sich irgendwie um ihn geschlossen habe und die Befürchtung, er habe in dieser stupiden, nie andersartigen und doch ständig wechselnden Umgebung den Überblick verloren, an einer Stelle schon einmal vorbeigekommen zu sein - all das hat er in seinem Kopf schon oft wirsch beiseitegeschoben und sich eingeredet, daß dies doch nicht sein könne.
Aber wie Ungeziefer schleichen sich diese Bedenken stets aufs neue an ihn heran, umschwirren ihn und plagen ihn mit stechenden Kopfschmerzen.
Obwohl der Bahnfahrer schon lange unterwegs ist, verspürt er weder Hunger Durst. Er spürt nur noch Müdigkeit. Und den penetranten Drang, weiterkommen zu müssen, immer weiter zu laufen, um endlich das Ziel, das Ende dieses verfluchten Tunnels, zu erreichen, um endlich - endlich - eine Pause zu machen und etwas anderes zu sehen, wie auch immer es aussehen möge. Der Bahnfahrer versucht sich zu erinnern, wie lange er schon diesen Gang entlangirrt. Es muß Ewigkeiten sein.
Aber was hat er, ein Bahnfahrer, überhaupt in diesem Tunnel verloren?
"Ich bin ein Bahnfahrer", sagt er laut zu sich selbst, als dürfe er es nicht vergessen. "Ich trage eine Bahnfahrer-Uniform und eine Bahnfahrer-Mütze. Über meine Schulter hängt eine Tasche, in der sich ein Fahrplanbuch, eine Palette Fahrkarten und etwas Wechselgeld befindet. Also bin ich offensichtlich ein Bahnfahrer. Ich bin es gewohnt, in langen Tunneln zu sein."
Gewiß. Offensichtlich ist der Bahnfahrer ein Bahnfahrer. An diese Offensichtlichkeit klammert er sich wie ein Ertrinkender an eine Rettungsboje. Und wenn er ein Bahnfahrer ist, so muß er demnach zweifelsohne eine Bahn gefahren haben. Eine U-Bahn, in der er sicherlich viele Stunden verbracht hat. Mit der er bestimmt einmal viele dunkle Stollen befahren, wahrscheinlich an zahllosen Stationen gehalten und möglicherweise Hunderte und Tausende Menschen befördert hat. Wenn er sich zu einer Erinnerung zwingt, ist sein offenbarer Beruf das Einzige, an das er noch eine Erinnerung hat. Alles Übrige ist mit der Zeit zusammengeschrumpft zu einem ewigen Laufen. Seine ganze Vergangenheit, all seine Vorlieben, Neigungen, Freuden und Leiden, all diesen Rest muß er scheinbar irgendwann beim Laufen verloren haben. Er ist so schleierhaft und fadenscheinig geworden, als liege er hinter einem milchig-weißen Vorhang, bedruckt mit Alltagsgeschwafel, mit Buchstabenreihen, die keinen Sinn mehr ergeben. Aber das Nicht-Erinnern fällt ihm sehr leicht. Scheinbar ist dieser Rest auch nicht wirklich wichtig gewesen.
Obgleich es ihm so vorkommt, als habe seine Arbeit als U-Bahnfahrer ihn oft sehr gelangweilt. Er muß mit seiner Bahn doch ständig durch dunkle, monotone und vermeintlich endlose Schienenschächte gefahren sein, den Blick ständig auf kreischende Lichtkegel gerichtet, die sich vor seiner Bahn durch die Schwärze geschoben haben. Wie oft hat er wohl das helle Ende vermißt? Doch hat er sicherlich auch stets das Wissen gehabt, das dieses Ende irgendwann kommen mußte.
Und dann das Geschwafel seiner Fahrgäste, jener Alltagshorden, die hinter seinem Rücken dumpfe, ausdruckslose und desinteressierte Zwangskonversation betrieben haben mußten. All das muß er als Bahnfahrer doch gehaßt haben, froh darüber, in seiner Fahrerkabine von dem stumpfsinnigen Gebrabbel verschont zu bleiben.
Jetzt würde er es gerne wieder hinter sich hören. Ach, wie sehr glaubt er nun, seine Bahn zu vermissen. Und das unterirdische Dunkel. Das Kreischen der Lichtkegel, die vor ihm über die Schienen schaben. Wie sehr verlangt es ihm nun nach einer Station. Er wäre schon glücklich, ein Signal zu sehen, das ihm anzeigt, wie weit es noch bis zur nächsten Haltestelle ist. Aber all das gibt es hier nicht. Hier gibt es nicht einmal Schienen.
Ohne seine Bahn glaubt sich der Bahnfahrer schrecklich nackt zu fühlen. Er kann die Stille des Buchstabentunnels nicht mehr hören. Dieses Schweigen, das ja gar kein Schweigen ist, denn es sind ja überall Wörter. Aber er ist Wörter nun einmal nicht gewohnt. Sicherlich könnte er Symbole lesen, oder Schilder, oder auch ein Pfeifen. Wenn es erklingt, würde er sich bestimmt auch wieder erinnern, was seine Bedeutung ist. Aber mit Wörtern, nein, damit kennt er sich nicht aus.
Der Bahnfahrer reibt sich die brennenden Augen. Hinter seiner Stirn rumort der Schmerz. Es fällt ihm schwer, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie er hier überhaupt hineingelangt ist. Das muß wohl alles schon sehr lange her sein. Aber irgendwann muß er doch in diesen Tunnel gegangen sein, sonst wäre er schließlich nicht hier. Aber was ist der Grund gewesen? Ein Auftrag? Soll er vielleicht etwas in diesem Tunnel überprüfen oder in Ordnung bringen? Oder hat man ihn losgeschickt, weil dieser Weg zu seiner Bahn führt, mit der er dann eine zugeteilte Strecke fahren soll? Aber seit wann ist ein Tunnel so lang? Und warum gibt es hier keine Schienen?
‚Hier ist mehr nicht in Ordnung, als ich allein wieder in Ordnung zu bringen fähig wäre.' Da überfällt ihn plötzlich ein ganz anderer Gedanke: ‚Vielleicht will man mich testen. Ja ... Möglicherweise will man meine psychische Belastbarkeit prüfen und hat mich deshalb in diesen Stollen geschickt.' Aber weshalb? Mißtraut man etwa seinen Fähigkeiten? Glaubt man etwa, er sei unfähig, seinen Beruf gewissenhaft auszuführen?
"Ich werde ihnen schon zeigen, wie belastbar ich bin." Seine grimmigen Worte raunen an der beschriebenen Wand entlang. "Und wenn dieser verdammte Tunnel noch so lang ist, ich werde schon an das Ende kommen. Ich werde ihnen beweisen, daß ich ein guter, gewissenhafter Bahnfahrer bin. Ich tu das, was man von mir verlangt und bringe meine Aufträge ordentlich zu Ende. Zeit ist schließlich Geld. Ich muß pünktlich sein. Wo und wann auch immer. Sonst gerät am Ende alles durcheinander. Menschen kommen zu spät, wenn ich zu spät komme."
Also läuft er weiter voran. Immer weiter durch den Tunnel, den er wegen seiner sanften Linkskrümmung nicht einsehen kann, entlang an unendlich langen Zeilen aus unendlich vielen Buchstaben unterschiedlichen Schrifttyps.
Aber seine Bedenken rüpeln weiterhin und immer heftiger durch die Schneckenhausgänge seiner Gedanken, bis sich sein Kopf wie ausgeschabt anfühlt. Was, wenn es kein Ende gibt? Was, wenn all seine Überlegungen stimmen und er sich die ganzen Zeit im Kreis bewegt. Natürlich ist er irgendwann in diesen Tunnel hineingegangen, also muß es doch logischerweise auch irgendwo einen Eingang geben. Aber nun läuft er schon so lange ... und alles sieht gleich aus ... und doch wieder nicht ... und ein Ende ist nicht abzusehen ...
Der Bahnfahrer entschließt sich, einen Test zu machen: Er sucht beim Gehen die Buchstabenzeilen an der Wand nach einer günstigen Buchstabenreihenfolge ab. Nach einem Ausschnitt, den er sich leicht merken und wiederfinden kann. - Nach einem Ausgangspunkt.
Bald findet er einen Zeilenausschnitt in Augenhöhe. "Nuzediceid" lautet er. Der Bahnfahrer sieht keine Bedeutung in dieser Buchstabenreihe, doch läßt sie sich sehr schön lesen und einprägen. Nun will er die Reihe im Auge behalten und genau darauf achten, ob der Ausschnitt wieder auftaucht. Wenn dies geschehe, würde das bedeuten, daß er sich tatsächlich in einem Kreis bewegt. Eine Weile denkt er über seinen Plan nach. ‚Um wirklich sicher zu gehen und nichts zu übersehen,' überlegt er, ‚werde ich zusätzlich mit dem Finger die Zeile verfolgen. So kann es mir nach einer Umrundung nicht passieren, daß ich an der Zeile vorbeilaufe ohne sie zu entdecken.'
‚- Sofern es eine Umrundung ist', fügt ein schnell flüchtender Gedanke in ihm hinzu.
Die Schlauchform des Ganges hindert ihn jedoch, nah an die Zeile heranzugehen. So ist seine Fortbewegungsweise höchst unbequem, da er sich weit überbeugen muß, um mit seinem ausgestreckten Zeigefinger an die entsprechende Zeile zu kommen. Gleichzeitig muß er sich auf seine Schritte konzentrieren, damit er nicht über seinen eigenen Füße stolpert.
Schritt um Schritt geht er weiter den Tunnel entlang. Fuß um Fuß zieht er nach, den Arm ausgestreckt haltend, immer mal wechselnd, da er in dieser Haltung schnell lahm wird. Konzentriert wie ein Schulanfänger, der sich beim Lesen nicht sicher ist, verfolgt er mit angestrengtem Blick seinem Zeigefinger auf der Zeile entlang, um sie auch ja nicht zu verlieren, um auch bloß nicht den einen wiederholten Ausschnitt zu verpassen, wenn er den Kreis einmal umrundet hat.
- Sofern es ein Kreis ist. -
Der Bahnfahrer beginnt, das kurze "Nuzediceid", das er sich ausgesucht hatte, zu vermissen. Er kann sich nichts Sehnlicheres mehr vorstellen, als es endlich wiederzusehen. Je weiter er geht, um so mehr bedeutet ihm dieser Ausschnitt. Er wird für ihn wie ein Stück Heimat, auf das er sich in der Fremde freut. Wie eine Oase in der Wüste.
So bewegt er sich weiter fort. Viel länger und weiter, als die Krümmung des Tunnels einen Kreis zulassen würde. Beständig brabbelt er das unendliche Zeilenwort vor seinen Augen nach, voller Konzentration, jederzeit eine Bedeutung herauszuhören. Ab und an unterbricht er seinen stetigen Monolog, um sich seinen geliebten Zeilenausschnitt in Erinnerung zu rufen, damit er ihn nicht vergißt oder in der langen Buchstabenreihe übersieht. Aber die Arme werden ihm lahm. Immer öfter wechselt er sie, weil sie in der ausgestreckten Haltung immer schneller ermüden. Seine Füße schmerzen ihm, aber der Bahnfahrer beißt die Zähne aufeinander und hält durch; läuft weiter durch den scheinbar endlosen gebogenen Stollen, mit den nie enden wollenden Zeilen aus Buchstaben unterschiedlichen Schrifttyps an den Wänden.
Doch das "Nuzediceid" taucht nicht auf.
Das weiße Licht der Wand schmerzt ihm in den Augen. Oft muß er blinzeln und Tränen laufen ihm das Gesicht herab. Vielleicht hat er einen seiner müden, schweren Arme irgendwann ein Stück gesenkt. Vielleicht genau zu einem Zeitpunkt, als er gerade hatte blinzeln müssen. Vielleicht hat er so nicht bemerkt, daß er sich versehentlich versehen und in der Zeile vertan hat. Er hat auch andere Wortkonstellationen entdeckt, die wie zufällig angeordnet mitten in der Zeile standen. "CEitisgält" hatte er gelesen und zuerst gehofft, das sei der Schluß seines geliebten, sehnsuchtsvoll erwarteten "Nuzediceid" gewesen.
Einmal hat er geglaubt, ein "Wekisasciel" entdeckt und darin eine vage Bedeutung erahnt zu haben. Aber als er den Blick wieder zurückverfolgte, war der Ausschnitt nicht mehr zu finden. Wo er es erahnt hatte, befand sich wieder nur Kauderwelsch, zufällig aneinandergereihte Buchstaben, deren Kombination nur Geschwafel darstellen, das keinerlei Bedeutung besitzt.
Der Bahnfahrer bekommt es mit der Angst. Wenn es nun so ist, daß sich die Buchstaben von alleine verschieben? Dann kann es auch sein, daß sein geliebtes "Nuzediceid" einfach verschwunden ist. Und dann kann er noch so lange in diesem Rund herumlaufen.
- Wenn es ein Rund ist. -
Und selbst wenn er die gesuchte Zeile wiederfinden würde, so fällt ihm nun ein, so wäre das ja noch längst keine Lösung. Denn dann wüßte er zwar, daß er sich in einem Kreis befindet, doch wie sollte er aus seinem runden Gefängnis ausbrechen?
Verzweifelt kommt der Bahnfahrer zu dem Schluß, daß er die ganze Zeit nur vertrödelt hat. Er hat sie schlecht genutzt. Nun wird er nicht mehr pünktlich ankommen, wo auch immer er pünktlich ankommen soll. Sein Zug ist jetzt sicher ohne ihn abgefahren.
Ohne es wirklich zu merken, verfällt der Bahnfahrer wieder in eine schnellere Gangart, einzig wegen der vagen Hoffnung, dieser Tunnel könnte doch ein Tunnel sein und irgendwo ein Ende haben. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren. Vielleicht kann er die mit dem dummen Test vertrödelte Zeit wieder aufholen.
"Ich werde es ihnen zeigen. Ich bin ein gewissenhafter Bahnfahrer", brummt er immer wieder vor sich hin, während er mit hängendem Kopf seine Füße voranhetzt. "Ich werde an das Ende kommen. Ich tue, was man von mir verlangt. Ich bringe meine Aufträge ordentlich zu Ende. Ich muß pünktlich sein. Sonst gerät alles durcheinander. Ich bin ein guter, gewissenhafter Bahnfahrer."
Da hält er mit einem Male so abrupt inne, daß er beinahe gestrauchelt wäre. Entgeistert starrt er an, was urplötzlich die stete Eintönigkeit des Buchstabentunnels unterbrochen hat: Direkt vor seinen Schuhen sprießt ein zierliches Gänseblümchen und reckt seine weiße Blüte dem verdutzten Bahnfahrer entgegen. Der kleine Trieb hat mit seiner sanften Gewalt den harten Boden des Stollens einfach aufgebrochen und sich seinen Weg ins Innere des Stollens durchwachsen.
Der Bahnfahrer ist von diesem Anblick so verblüfft, daß er zunächst glaubt, er träume. Verwundert reibt er sich die geröteten Augen, schüttelt den Kopf, reibt sich noch einmal die Augen, geht dann zögernd in die Hocke und stubst das Gänseblümchen vorsichtig mit seinem zitternden Zeigefinger an. Doch das Pflänzchen verschwindet nicht. Es entpuppt sich nicht als Sinnestäuschung, sondern bleibt, wo es ist und schwingt, von der Fingerkuppe des Bahnfahrers angestoßen, leicht und fröhlich hin und her. Fast, als freue es sich, hier bei ihm zu sein.
Der Bahnfahrer kann es einfach nicht fassen. ‚Ob dies das Ende ist?' fragt er sich und schaut sich beunruhigt um. Es ist niemand zu sehen, der ihn und seine Reaktion beobachten könnte. Trotzdem fühlt er sich verunsichert. Er glaubt, sich sehr wohl an diese Pflanze zu erinnern. Sie ist ein Unkraut, das weiß er. Und Unkräuter, auch das glaubt er noch zu wissen, sind schlecht für Schienenstränge. Sie sprengen mit ihren Wurzeln, ihren dreisten Gänsefüßchen Asphalt und sogar Beton. Außerdem überwuchern sie sicherlich völlig rücksichtslos die oberirdischen Gleise. In seinem U-Bahntunnel hat er bestimmt nicht viel mit Unkräutern zu tun gehabt, aber in regelmäßigen Abständen, so schließt der Bahnfahrer aus seinen Resterinnerungen, muß man sicherlich alle Gleise vom schädlichen Unkraut befreien, da die Sicherheit der Schienenstrecken sonst gefährdet ist.
Der Bahnfahrer fühlt sich hin und hergerissen. ‚Vielleicht', so überlegt er weiter, ‚werde ich ja doch beobachtet und sehe meine Beobachter nur nicht. Vielleicht ist dies auch ein Test. Schließlich bin ich im Dienst. Ich trage meine Bahnfahrer-Uniform, demnach bin ich also im Dienst. - Ich muß es tun.' Und mit einer kurz entschlossenen Bewegung bückt er sich und rupft das Gänseblümchen samt Wurzel aus dem Boden. Das kleine Loch, in dem das Pflänzchen sproß, schließt sich innerhalb eines weiteren Augenblickes. Kurz darauf ist nichts mehr zu sehen, außer einer kaum zu erkennenden Narbe zwischen zwei Buchstabenreihen.
Fassungslos starrt der Bahnfahrer auf die Stelle. Dann schaut er auf das entwurzelte Blümchen, das zwischen den Fingern seiner Hand liegt. Es läßt das weiße Köpfchen hängen, welkt in Sekunden dahin, trocknet aus und zerfällt zu feinem Staub, der zu Boden rieselt, wo er gänzlich verrinnt.
Immer noch gafft der Bahnfahrer mit offenem Mund abwechselnd auf die verschlossene Stelle am Boden und auf seine leeren Hände. Ein unermesslich langsamer Gedanke schleicht sich durch das Schneckenhaus in seinem Kopf. Dieser Gedanke erzählt ihm von Gänseblümchen. Von vielen Gänseblümchen auf einer riesigen Wiese, jenseits dieses engen Kringels, auf der kleine, bloße Gänsefüßchen herumlaufen. Gänsefüßchen. Mit denen jeder Satz beginnt. Oder aber endet. Solange er nur ausgesprochen wird.
Lange Zeit steht der Bahnfahrer regungslos da, starrt nur herab auf Hände und Tunnelboden und altert scheinbar um Jahrzehnte.
Irgendwann beginnt er wieder zu gehen. Doch sind seine Schritte nur noch ein Schlurfen, schwer und müde, als rolle er seit Urzeiten einen großen Stein einen Berg hinauf. Nur nebenbei bemerkt er, daß er dabei die Tinte der Buchstaben verschmiert. Doch das ist dem Bahnfahrer egal. Er fühlt sich nur noch müde. Er versucht, nur auf seine Schuhe zu schauen, um die Buchstabenzeilen nicht mehr sehen zu müssen und um sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, nur noch auf den nächsten Schritt. Und stets kommt ihm dieser schwerer vor als der letzte. Alles ist ihm egal. Und selbst wenn die schienenartigen Streifen, die er hinter sich herzieht, irgendwann vor ihm auftauchen werden, so wird ihm auch das egal sein.
Der einzige Vorteil wird sein, daß sein Weg in die Unendlichkeit zumindest wie Schienen aussehen wird.
 
P

pirx

Gast
Hallo,

das hier gehört zu den besten Kurzgeschichten, die ich kenne. Ohne Übertreibung!

Wie ich sehe, bist Du meinem damaligen Rat gefolgt und hast den Schluß geändert. Aber irgendwie gefällt er mir immer noch nicht so richtig.

...daß er dabei die Tinte der Buchstaben verschmiert.

Das sollte das Ende sein. Nun, ich bin ein Freund "harter Schnitte". Sowohl bei Filmen als auch bei Büchern und Geschichten. Mein Vorschlag ist sicherlich nicht jedermanns Sache, würde mich aber freuen, wenn Du mal darüber nachdenkst.

Ferner hatte ich damals angeregt, die Geschichte in "Nuzediceid" umzubenennen. Nach wie vor fände ich, daß das ein besserer Titel wäre.

Kannst Du mal bei Gelegenheit posten, wann und wo Dein Buch erscheint?

Beste Grüße

Pirx
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Pirx!
Vielen Dank nochmals. Ja, ich habe das Ende arg ("Aaarrgghh!!") zusammmengestrichen. Wie so oft fiel es mir nicht leicht. (Die alte Autorenkrankheit.) Deinen Vorschlag, es nochmals zu kürzen habe ich mir bereits notiert.
Zu dem Titel: Ich finde "Nuzediceid" als Überschrift eigentlich auch besser. Die Fremdartigkeit der Schreibweise fällt nicht weiter ins Gewicht und ich denke, er macht auch neugieriger als der momentane Titel. Der Grund, den Text immer noch nicht umbenannt zu haben, ist, dass ich befürchte, ein "Nuzediceid" könnte Leser auf eine falsche Fährte bringen. Es geht weniger darum, dass der Bahnfahrer seine Zeit nicht richtig nutzt, als vielmehr darum, dass er an der Alltäglichkeit der Dinge, an den Wiederholungen, die sein Leben ausmachen, zweifelt. Dass er sich förmlich weigert zu bemerken, daß er aus seinem "Schneckenhaus" nie herauskommen wird, wenn er nicht etwas ändert. "Nuzediceid" wäre mir da etwas eng. Ich denke aber nochmal darüber nach. Ich habe noch einige Lesungen, bei denen ich die Geschichte mal unter diesem Titel ausprobieren werde.
Das Buch wird sicherlich noch lange auf sich warten lassen. Ich möchte es gerne wie einen Sonettenkranz aufbauen und dazu brauche ich noch fünf Geschichten (Ich weiß immerhin schon mal, worum es in ihnen gehen wird.) und muß noch vier bereits angefangene zuende schreiben. - Also noch viel, viel Arbeit.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 

Ole

Mitglied
Hallo Markus,

also diese Geschichte hat bei mir keinen rechten Zugang gefunden. Sicherlich sollte die "Langatmigkeit" (wie ich sie empfand) dieses Gefühl des Nichtausbrechenkönnens aus dem ewigen Alltagstunnel unterstreichen. Nur ich persönlich musste mich fast "zwingen" weiter zu lesen. Vielleicht war ich aber auch nur zu ungeduldig. Rein literarisch gesehen ist sie sicherlich nicht schlecht, kann ich nicht recht beurteilen. Daher noch einmal deutlich: Nur meine Empfindung als einfacher Leser!

schönen Gruß
Ole.
 



 
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