Glatzenglück

Glatzenglück

Mahler hat schlecht geschlafen, wie so oft in den letzten Tagen, und spürt, wie sich ein Gefühl, das er Gedankenrambo nennt, wieder in ihm breit macht. Er ist aggressiv, ohne zu wissen warum.
Plötzlich steht Schwester Erika in ihrer fülligen Masse da: „Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Mahler, Ihr Kaffee!“ Mit einer eleganten Bewegung, die man ihr nicht zutrauen würde, stellt sie die Kanne auf den Tisch. „Können Sie nicht ein Mal anklopfen?“ entfährt es Mahler. „Oh, der Herr hat aber schlechte Laune“, grinst und verschwindet.
Das wird die nie begreifen, denkt er, und nimmt einen kräftigen Schluck Kaffee. „Pah, ääh, widerlich, schmeckt wie angebrannte Mandeln“, knurrt er unwirsch vor sich hin, bläst die Backen, rennt zum Waschbecken rüber und spuckt die braune Brühe aus.

Vor wenigen Monaten war Apollon Mahler, genannt Apo, noch arbeitslos. Er hasste seinen Vor- und Spitznamen. Die Tage gingen langsam dahin und er überlegte oft, wie er wenigstens diesen Sommer, einigermaßen würdig, überstehen könnte.
So in Erwartung der kommenden Hundstage, das Hemd klebte schon bei dem Gedanken daran am Rücken, öffnete er den Briefkasten, nahm den Packen Papier heraus und ging nach oben.
Da lag er nun, der Brief, auf den er so lange gewartet hatte. Es war ein einjähriger ABM-Vertrag für die Stelle des Vize-Hausmeisters an einer Kreuzberger Schule.
War Mahler dafür geschaffen?
Sein Blick fiel auf die Schuhe und das Herz schlug Morsezeichen. Und die Haare waren auch schon wieder viel zu lang. Vielleicht noch schnell zu C&A? Ein super-modernes Sakko musste her, egal, ob gestreift oder kariert.

Mahler hatte die Woche über einen Scheißjob und das im wahrsten Sinne des Wortes. Hansen, der etatmäßig rechte Hausmeister und Kapo, hatte ihm diesen miesen Job aufs linke Auge gedrückt.
Vor der ersten Pause sollte alles fertig sein.
Missmutig griff er die Karre, auf der eingeschweißte Klobrillen gestapelt waren, und schipperte damit Richtung Toiletten.
Hörte Mahler schon das Klingelzeichen, das den Tag teilte?
Er mochte die Kids, kam gut mit ihnen klar und wusste: nicht in den Klassenzimmern, sondern in den Pausen erfährt man, was Schüler wirklich bewegt.
Für Ausländer und Deutsche, ein paar stolz auf ihren Aufnäher, waren die Pausen ein beliebtes Forum sich zu präsentieren. Kälte und Ignoranz waren Zeichen der Zeit. Bei den kleinsten Nickligkeiten verlor man das Gesicht. Ging einer zu Boden, gab es kein Erbarmen.
Bewaffnet mit einem Universalschraubenzieher beugte sich Mahler vor, um die letzten Schrauben an einer Kloschüssel zu lösen...
...da drückte eine Hand seinen dem Kopf in die Schüssel. Mahler ruderte mit den Armen, konnte sich aber nicht befreien und musste in dieser unterwürfigen Haltung verharren. Dann wurde er abrupt an den Schultern hochgerissen, umgedreht und bekam einen Schlag in den Magen. Mahler kotzte auf die Steinfliesen.
Eine Glatze mit Zorro-Maske grinste ihn an und stieß so zu, dass Mahler durch die Schwingtür bis zur Pissrinne schlitterte. Er rappelte sich irgendwie wieder auf und versuchte wegzukommen, schlug aber flach hin.
Aus einem unartikulierten, kehligen Lachen hört er noch: „Oi, ist doch geil, wie diese Rotärsche flitzen können!“
Endlich draußen, lief Mahler um sein Leben.

Mahler war Nostalgiker, Berufsjugendlicher, Müßiggänger aus Leidenschaft und der Sinn des Lebens hatte sich, ohne zu grüßen, an ihm vorbeigeschlichen. Er lebte zurückgezogen, fast einsam.
Ab und zu jedoch ging Mahler in eine nahegelegene Diskothek abtanzen. Obwohl er es schon längst aufgeben hatte jemanden abzuschleppen – er tanzte in der Regel für sich alleine – wurde er von einer Jungschen heftig angemacht.
Dann ging alles ziemlich fix.
Vanessa und Mahler waren verliebt wie die Turteltäubchen und gluckten jede frei Minute zusammen. Sie brachten nicht nur ihren Hormonhaushalt wieder in Ordnung, sondern gingen auf Konzerte, ins Kino und fuhren ab und zu weg, einmal sogar zu ihren Eltern.
Beim Abendessen in den elterlichen Gefilden frotzelte Vanessa dann auch noch über das kleine, aber feine Wohlstandbäuchen, das er mit sich herumtrug. Das war ein Schlag gegen seine Eitelkeit und ein Angriff auf seine Männlichkeit, den er nicht auf sich sitzen lassen konnte. Mahler wollte bei passender Gelegenheit rigoros zurückschlagen.

Wochen später.
Mahler joggte seit den Hänseleien von Vanessa regelmäßig im Park. Gerade war er dabei, die kleine Runde zu laufen, also abbiegen und mit kurzen Schritten die Böschung hoch...
...in diesem Moment sprang Zorro aus einem Gebüsch und fauchte: „Hallo, Rotarsch!“ Mahler stoppte abrupt ab. Sie standen Brust an Brust.
Harte Faustschläge ins Gesicht, Fußtritte gegen Kopf und zwischen die Beine. Eine Ewigkeit höllische Schmerzen, dann Filmriss – Dunkelheit.

Mahler steht unschlüssig im Krankenzimmer und wartet, wartet, dass Vanessa kommt, um endlich in Urlaub zu fahren. Er beugt sich über das Waschbecken, blickt in den Spiegel und begutachtet seine noch immer geschwollene Nase. Bis auf den Nasenbeinbruch ist ja nicht viel geschehen, resümiert er, und lässt die Ereignisse noch einmal Revue passieren: Im Krankenhaus tauchte dieser Journalist auf und brachte die ganze Sache ins Rollen.
Großangelegte Untersuchungen der Polizei waren die Folge. Es wurde auch eine Baseball-Mütze mit dem Emblem einer türkischen Gang gefunden. Fast jeden Tag Interviews und Life-Reportagen vor Ort. So auch mit Dr. Raabe, dem stellvertretenden Direktor der Schule. Originalton Raabe: „Türken terrorisieren uns, zerschlagen die sanitären Einrichtungen! Sie sind nicht integrierbar, obwohl wir uns alle Mühe geben! Und jetzt das! Wo soll das enden?“ Die Stimmung war total aufgeheizt. Politiker nahmen Stellung. Bürgerinitiativen und andere relevante Gruppen protestierten. Es kam zu Demos und Randale.
Das Verfahren schwebte – die Spekulationen blühten.

Mahler steht mitten im Zimmer und schaut durch die Wand, kriegt also gar nicht mit, dass Vanessa inzwischen da ist.
„Hey, wo bist Du denn?“ flüstert sie ihm ins Ohr. - „Ach, gar nichts“, nimmt Vanessa in die Arme und küsst sie zärtlich. „Komm, sag!“ bohrt sie. – „Jaaaa, ja, ist nicht mehr so schlimm“, versucht Mahler auszuweichen.
Vanessa sieht ihm direkt in die Augen und fängt an zu erzählen: „Ich habe mir die letzten Tage auch so meine Gedanken gemacht und es ist besser, wenn Du alles weißt, bevor wir in Urlaub fahren.“
„Also, bevor ich dich kennenlernte, war ich mit so einem Typen zusammen.“ – „Hier, nimm!“ reicht ihm den Brief.
„Und du meinst...?“ erwidert Mahler tonlos, faltet den Brief und versucht ihren Blicken auszuweichen.
 



 
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