Gleich Bäumen

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Walther

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Gleich Bäumen


Gleich Bäumen sieht man Säulen in die Höhe streben.
Sie sollen bald den eignen Himmel faltend halten.
Sie sollen Raum ihr geben, Schutz, der geballten
Kraft des Sangs, dessen volle Töne aufwärts schweben

Zu den guten Kräften, die in dieser Schöpfung walten.
Blicke, sie gehn zu Fenstern, in denen Bilder leben,
Farben, Lettern und Gestalten, die Geschichten weben
Aus den Symbolen, die vor unsrer Zeit verhallten.

Man hört sie bauen an den Türmen und den Mauern,
Als gäb’s nichts Anderes, für das sich zu leben lohnte.
Wer wollte nicht die Glaubenslosigkeit bedauern,

Die falsch verstandne Freiheit immer wieder laut betonte.
Fast sollte man die Gegenwart noch mehr betrauern,
Als den, der heute noch in dieser Kirche wohnte.

Sagrada Familia, Barcelona, im September 2004
 

Dorothea

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Lieber Walther,

Dein Sonett ist formal gut realisiert (strophisch, rhythmisch und in den Reimen). Da hast du also ein gutes Stück "Formungsarbeit" erfolgreich bewältigt.

Gleichzeitig beschreiben die Zeilen das Erlebnis eines Menschen (gläubig? - das wird nicht so ganz klar), der intensiv den Widerspruch zwischen säkularer Weltsicht (die Gott als unwesentliche Privatangelegenheit ausblendet) und sakraler Baukunst erlebt.

Mir stellen sich lediglich zwei Fragen zu dem sonst sehr stimmigen Text:

1. Die Passage
[blue]Aus den Symbolen, die vor unsrer Zeit verhallten[/blue]
kann grammatikalisch nur so verstanden werden, dass der relative Bezug ("die") hier auf "Symbole" zurückweist. Das macht aber m.E. keinen Sinn. Die "Geschichten" allerdings können verhallen!

2. Die Textstelle
[blue]Fast sollte man die Gegenwart noch mehr betrauern,
Als den, der heute noch in dieser Kirche wohnte. [/blue]

ist m.E. nach etwas unklar. Wer "wohnt" in der Kathedrale? Ist es Gott? Den muss man nicht betrauern? Ist es ein Glaubender? Dann finde ich "wohnen" semantisch etwas unpassend.

Aber alles in allem gefällt es mir sehr gut.
Liebe Grüße
 

Walther

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Guten Tag, liebe Dorothea,

zuerst besten Dank für Dein Lob. Sonette sind eine manchmal schwierige Übung, die mir, obwohl gerne diese Form nutzend, immer wieder auch mißlingen.

Ursprünglich veröffentlicht von Dorothea
1. Die Passage
[blue]Aus den Symbolen, die vor unsrer Zeit verhallten[/blue]
kann grammatikalisch nur so verstanden werden, dass der relative Bezug ("die") hier auf "Symbole" zurückweist. Das macht aber m.E. keinen Sinn. Die "Geschichten" allerdings können verhallen!
Auch Symbole können "verhallen" im Sinne von "verblassen". Nachhall kann durchaus im übertragenen Sinn eingegesetzt werden, auch wenn es sich bei Symbolen eher um Bilder handelt. Man beachte, daß, als Latein die Sprache der Gottesdienste war, die Menschen nur die Bilder, Symbole und bildlichen Metaphern verstanden, die Sprache in der Kirche also immer nur ein gemeinnisvoller, schaudern machender "Hall" in den Schiffen der großen Kirchen war.

Ursprünglich veröffentlicht von Dorothea
2. Die Textstelle
[blue]Fast sollte man die Gegenwart noch mehr betrauern,
Als den, der heute noch in dieser Kirche wohnte. [/blue]

ist m.E. nach etwas unklar. Wer "wohnt" in der Kathedrale? Ist es Gott? Den muss man nicht betrauern? Ist es ein Glaubender? Dann finde ich "wohnen" semantisch etwas unpassend.
Ja, muß man betrauern, daß es keine letzten Gewißheiten mehr gibt? Für Gaudi, den Architekten und Intiator der Kirche der Heiligen Familie, zugleich katalanischer Nationalist und gläubiger Katholik, war die Beantwortung dieser Frage klar. Ist sie das für uns?

Gaudi wollte mit seiner Kathedralenidee seiner Stadt und seiner Landschaft eine Aufgabe geben, die ewig andauert. Der Bau von Kathedralen ist in der Tat in jeder Hinsicht Vision, Aufgabe und Ewigkeit/Überzeitlichkeit zugleich. Wäre es vielleicht für uns im größeren Deutschland - nach der Wiederherstellung der Dresdner Kathedrale - eine solche zukunfts-, sinn- und zusammenhaltstiftende Aufgabe - zum Beispiel in Leipzig, Cottbus oder Hoyerswerda - eine solche Kathedrale zu erbauen?

Das sind Fragen, denen man sich angesichts dieses über hundert Jahre dauernden Erbauens der Sagraga Familia stellen muß. Und der Bau wird noch eine weitere Generation dauern, und danach wird in den Bauhütten, wie am Kölner Dom, dort wieder begonnen zu bauen, wo die ältesten Teile des Baus eine Erneuerung benötigen. In Ewigkeit, Amen, wenn man so will.

Ein Stückweit darf man schon betrauern, daß wir heute, in unserem Land, zu einer solchen Leistung nicht mehr in der Lage zu sein scheinen. Der Glaube an Gott als solcher ist daher nur ein Aspekt der vermißten Zukunftsgewißheit, über den dieses Stück Lyrik hier nachdenkt.

Liebe Grüße

W.
 

Dorothea

Mitglied
Lieber Walther,

mit Deinen Erklärungen gefällt mir das Sonett noch viel mehr, und ich kann die Metaphorik jetzt besser nachvollziehen.
"Betriebsblindheit", eine betrieblich bekannte Problematik, gibt es also auch bei der Rezeption von Gedichten. Ich habe einen so anderen Fokus auf eine Kathedrale und wohl auch ganz andere Assoziationen. Daher konnte ich Deine Bilder nicht in jedem Fall unmittelbar, quasi intuitiv auffassen und genießen.

Vielen Dank für Deine interessante Erklärung.
Liebe Grüße
 



 
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