Glühwürmchen

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christianf

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Glühwürmchen

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Es war ein Abend im Februar. Ich stieg aus dem Wagen und schauderte, als ich den eisigen Wind spürte, der fast ungehindert über den verlassenen Bahnhofsvorplatz pfiff. Das Gelände hatte bis vor wenigen Jahren brach gelegen und war erst jüngst großzügig neu gestaltet und mit spiegelnden Bürotürmen und gläsernen Arkaden von kühler Eleganz umgeben worden. Ich zog meine Jacke enger um die Schultern und schaute den Rücklichtern unseres Wagens nach, mit dem Stella in der hereinbrechenden Dunkelheit des Abends verschwand.

In Gedanken versunken schlenderte ich über den verlassenen Platz. Im Kopf ging ich noch einmal die Vokabeln für meinen Japanischkurs durch. Vom Rande meines Blickfeldes her hörte ich ein ganz leises Schluchzen. Schluchzen? Ich blickte mich suchend um, und wirklich, dort hockte im Schatten einer vergessenen Pflanzschale mit erfrorenen Herbstchrysanthemen ein kleines Mädchen mit großen, tränenblinden Augen.

Mir war nicht ganz klar, wie ich sie zuvor unter den hell erleuchteten Arkaden aus Stahl und Glas rings um den Platz hatte übersehen können. Wahrscheinlich hatte ich einfach nicht richtig hingeschaut, weil ich mich innerlich bereits auf meinen Sprachkurs eingestellt hatte.

Sie mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre alt sein. Lange blonde Strähnen fielen ihr über einen weißen Kittel, der mir an diesem kalten und nassen Februarabend viel zu dünn vorkam. Die Beine in einer halb knienden Position untergeschlagen, hockte sie da wie ein Häuflein Elend, die Arme um ihren mageren Oberkörper geschlungen.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich sie. „Wo sind denn deine Eltern?“

„Huhu“, weinte sie und wischte sich schniefend die Tränen aus den lavendelfarbenen Augen. „Huhuhuhu. Wir haben da drinnen gespielt“ - sie zeigte in Richtung des Bahnhofeingangs, „und dann sind die Anderen heimgegangen und haben mich hier gelassen.“

„Das ist aber nicht besonders nett!“, sagte ich etwas hilflos. Skeptisch guckte ich den dünnen Fetzen an, den mein Findling am Leib trug. Ihre Geschichte, ihre unzureichende Bekleidung, das alles schien mir auf einen Fall von Verwahrlosung oder auf ein Straßenkind hinzudeuten.

„Komm Schätzchen“, sagte ich, und versuchte sie hochzuziehen, „wollen wir mal sehen, ob wir deine Freunde nicht finden können. Als Erstes musst du aber in jedem Fall mal ins Warme.“ Sie kauerte sich noch mehr zusammen. „Ich kann nicht mehr heim“, schluchzte sie. „Ich bin zu schwer!“ — und nach einem weiteren trockenen Schluchzen: „Es ist so kalt hier!“

„Komm, wir werden deine Leute schon wiederfinden,“ versuchte ich sie zu trösten. „Wie heißt du denn?“ — Wenn man einen Namen weiß, ist man oft schon viel weiter. Notfalls kann man versuchen, Eltern oder Verwandte über die Polizei ausfindig zu machen.

Das Mädchen schaute mich mit großen Augen verständnislos an.

„Dein Namen!“, sagte ich leicht irritiert. „Wie sagen deine Freunde zu dir, wenn sie dich meinen?“

„‚Du!’“, sagte sie. „Sie sagen ‚Du’ zu mir“.

„Oh Gott!“, dachte ich und verdrehte innerlich die Augen: „Geistig behindert ist sie auch noch!“

Ich versuchte es noch einmal: „Wenn dich einer ruft, der dich nicht sehen kann, was ruft er dann?“

„Ach so!“ Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. „Sie rufen ...“ - und dann sang sie mit einer ganz klaren und süßen Stimme eine komplizierte Tonfolge.

„Ich fürchte, das kann ich nicht nachmachen“, sagte ich verdutzt.

„Manchmal sagen sie auch ‚Glühwürmchen’ zu mir“, sagte sie verschämt, „weil ich manchmal im Dunklen leuchte. Aber es ist eigentlich nicht erlaubt.“

„Warum soll es nicht erlaubt sein, dich ‚Glühwürmchen’ zu nennen?“, fragte ich verwundert. Das Kind blieb mir die Antwort schuldig.

„Na schön, du Glühwürmchen!“, sagte ich schließlich und versuchte irgendwie ein Stück Normalität wieder herzustellen. „Jetzt gehen wir erst mal da rein, und dann schauen wir mal, ob wir nicht in der Bahnhofsmission eine schöne heiße Tasse Kakao für dich auftreiben können.“ Ich zog meine Jacke aus und versuchte sie dem frierenden Kind um die Schultern zu legen.

Die menschliche Wahrnehmung arbeitet mitunter etwas selektiv und versucht Dinge, die nicht in das fest gefügte Muster unserer Alltagserfahrungen passen, zu übersehen oder wegzuerklären. Als ich jedenfalls versuchte, dem Mädchen meine Jacke um die Schultern zu legen, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass dies anatomisch unmöglich war. Grund waren ein Paar wohlgeformte, wen auch etwas halbstofflich wirkende Flügel. Anscheinend hatte mein Unterbewusstsein sich die ganze Zeit geweigert, diese verstörende Anormalität wahrzunehmen.

Was macht man mit einem verlorenem und halb erfrorenem Engel? Die Bahnhofspolizei dürfte in diesem Zusammenhang wenig hilfreich sein und würde sich auch kaum für zuständig erklären. Immerhin aber verhieß der Bahnhof etwas Wärme und so versuchte ich die Flügel etwas an den Körper zu drücken und die Jacke darüber zu legen. Irgendwie schaffte ich es schließlich, die Jacke so zu drapieren, dass sie einigermaßen natürlich um die Schultern lag.

Glühwürmchen schien inzwischen akzeptiert zu haben, dass ich sie quasi adoptiert hatte und ließ sich von mir widerstandslos in den Bahnhof führen. Ich hatte sogar den Eindruck, als ob sie sich an meinem Arm festklammerte, als sei ich der letzte feste Bezugspunkt in ihrem Leben. Sie hatte so etwas an sich, dass unwillkürlich meine Beschützerinstinkte wachrief. Beinahe hätte ich sie auf den Arm genommen, um sie in den Bahnhof zu tragen. Das kam mir dann aber doch zu melodramatisch vor; so nahm ich sie nur an der Hand und führte sie in den Bahnhof hinein.

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Meinen Japanisch-Kurs konnte ich mir für heute wohl abschminken. Dabei hatte ich zu Hause noch Vokabeln gelernt, um nicht wieder unangenehm aufzufallen. So ist das halt – manchmal kommt es anders, als man denkt! Irgendwie spukten die Vokabeln aber immer noch in meinen Kopf herum. Glühwürmchen — da war doch etwas — Glühwürmchen, Glühwürmchen, ...

Plötzlich war das Wort da: Hotaru - Glühwürmchen. Der Klang gefiel mir. Irgendwie erschien mir der Name für mein heruntergefallenes Engelchen passend, passender jedenfalls als „Glühwürmchen“. Ich komme mir irgendwie komisch vor, ein kleines Mädchen mit „Glühwürmchen“ anzusprechen, selbst wenn es ein verlorener Engel ist. „Hotaru“, das klang schon eher wie ein richtiger Name.

„Hör mal, Flügelmatz!“, sagte ich zu meinem Findling, „hast du etwas dagegen, wenn ich dich ‚Hotaru’ nenne?“

Hotaru oder Glühwürmchen schien es ziemlich egal zu sein, wie ich sie nennen wollte. Sie zitterte an meiner Hand vor Kälte und hatte Mühe, einigen eiligen Reisenden auszuweichen, die sie fast über den Haufen rannten. „Können Sie nicht aufpassen?!“, fauchte ich einen jungen Mann mit einem Rollkoffer an. „Sie haben beinahe das Kind hier umgerannt!“ Doch der starrte mich nur an, als zweifelte er an meiner Zurechnungsfähigkeit und hastete weiter.

Nachdem sich mein Findling als verirrter Engel entpuppt hatte, erschien mir die Bahnhofsmission nicht mehr als der rechte Ort, um nach Hilfe zu suchen. Also führte ich Hotaru zunächst einmal in ein kleines Bahnhofscafé und bestellte ein Bier und eine heiße Schokolade - auch wenn mich die Bedienung etwas merkwürdig musterte. „Das ist aber eine eigenwillige Kombination!“, konnte sie sich nicht verkneifen anzumerken. Hotaru schien sie irgendwie zu übersehen, obwohl sie fast genau vor ihrer Nase saß.

Hotaru war dankbar für den Kakao. Begierig sog sie den Duft des heißen Getränks ein und wärmte sich die Finger an der Tasse. Ich bemerkte, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie vorsichtig an der heißen Schokolade nippte. Die warme Luft im Café tat ein Übriges, ihre Lebensgeister wieder zu wecken. Anfangs stockend, dann immer flüssiger, erzählte sie mir eine etwas wirre Geschichte, während ihre Finger wie gedankenverloren über die spiegelnden Glasscheiben strichen, die das Café vom eigentlichen Innenraum des Hauptbahnhofs abgrenzten.

Sie hatte mit ihren Freunden gespielt. Dabei hatten sie sich weiter als je zuvor von dem warmen Licht und den vertrauten Liedern ihres Zuhauses fortgewagt und schließlich die Bahnhofshalle mit ihren spiegelnden Granit- und Stahlwänden, den glitzernden Glasfenstern und duftenden Imbissbuden entdeckt. Irgendwann waren dann die Freunde in ihre eigene Sphäre zurückgekehrt. Und aus irgendeinem Grund war Hotaru nicht in der Lage gewesen ihnen zu folgen. Dabei hatte ich durchaus das Gefühl, dass Hotaru hinsichtlich des Grundes nicht völlig ahnungslos war, aber in diesem Punkt war nichts aus ihr herauszubekommen. „Die großen Engel werden schimpfen!“, sagte sie nur.

Leider konnte ich nun nicht wie einst Hans Wundersam aus dem alten Bilderbuch das Engelchen einfach auf die Arme nehmen und die Himmelsleiter hinauf wieder in den Himmel zurücktragen. Mir war nicht einmal klar, wie Hotaru in unsere Welt hineingeraten war, geschweige denn, wie ich sie in ihre eigene Welt zurückbringen konnte. So beschloss ich das Zweitbeste - sie mit nach Hause zu nehmen und das Problem zu überschlafen.

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war meine Lage etwas beengt. In der Mitte unseres Doppelbetts lag meine kleine Tochter Lala, daneben ich, und auf der Außenseite des Bettes hatte sich Hotaru an mich gekuschelt. Stella war bereits fort, da sie immer früh zur Arbeit muss, doch ich wunderte mich, dass sie den zusätzlichen Gast in unserem Bett nicht bemerkt zu haben schien. Allerdings war sie auch erst spät in der Nacht nach Hause gekommen, als ich es mir mit Hotaru bereits in meiner Hälfte des Bettes mehr oder weniger gemütlich gemacht hatte. Lala war dann wohl irgendwann mitten in der Nacht auch noch in unser Bett gewandert.

Durch meine Bewegungen geweckt wachte nun auch Hotaru auf und gähnte. Sie streckte ihre Arme und ihre Flügel und schaute mich noch halb verschlafen an, mit einem Blick, der so voll von Vertrauen war, das schlagartig wieder der Beschützerinstinkt in mir erwachte. Es war, als wäre ein Schatz in mein Leben getreten, den ich nie wieder hergeben wollte.

Nach einigen endlosen Augenblicken riss mich von dem Anblick los. Ich musste jetzt Lala wecken, wollte ich sie noch halbwegs ohne Stress in ihren Kindergarten bringen. - Lala heißt eigentlich Lara, aber als sie noch kleiner war, konnte sie das „R“ nicht aussprechen, und dabei ist es dann geblieben. - Also beugte ich mich wie immer über sie und sagte: „Hallo Lala - Aufwachen!“

Lala schlug die Augen auf und schaute mich wie jeden Morgen an und gähnte. Dann schaute sie überrascht an mir vorbei und fragte mit großen Augen: „Bist du ein Schutzengel?“

„Dein Papa hat gesagt, ich bin Hotaru!“, sagte Hotaru.

„Hallo Hotaru!“, sagte Lala. „Ich bin Lala!“

Wir frühstückten frische Brötchen mit Kinderwurst und Erdbeermarmelade und schließlich war es Zeit zu gehen. „Kann Hotaru mit in den Kindergarten?“, bettelte Lala.

„Wir können Nadja ja mal fragen, ob es ihr recht ist“, sagte ich, und wickelte Hotaru in eine viel zu große Jacke von Stella. Nadja ist die Leiterin in unserem Kindergarten.

Hotaru war fasziniert von unserem großen Dielenspiegel. Mit einem geistesabwesenden Gesichtsausdruck betastete sie die Glasfläche, als würde sie jeden Augenblick erwarten, dass ihre Finger darin einsanken. Als Lala sie zur Tür zog, trennte sie sich fast widerwillig von dem Spiegel. Den ganzen Weg hüpfte Lala förmlich auf und ab und hielt Hotaru an der Hand.

Im Kindergarten war schon ein ziemlicher Trubel, als wir kamen. Lala stürzte sofort auf Nadja zu: „Darf Hotaru heute mit in den Kindergarten kommen? Hotaru ist nämlich ein Schutzengel! Bitte, Nadja! Bitte!“ „Natürlich! Dein Schutzengel darf immer mitkommen!“, lachte Nadja. „Da hat deine Tochter aber wieder eine niedliche Idee“, flüsterte sie mir zu. „Sie hat immer so eine positive Energie!“ Hinter uns zog Lala Hotaru in den Gruppenraum.

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An Arbeit war an diesem Tag nicht zu denken. Die Zeilen meines Manuskripts tanzten vor meinen Augen, und bedeutungsleere Worte spielten auf den Seiten Nachlaufen. Noch zehn Seiten zu schreiben, und ich verstand nicht einmal mehr, was ich gestern zu Papier oder besser „zu Bildschirm“ gebracht hatte. Schließlich gab ich entnervt auf und widmete mich dem Problem, neben dem offenbar kein anderer Gedanke in meinem Kopf Platz hatte: Wie bekam ich einen verlorenen Engel nach Hause zurück.

Ich schloss mein Manuskript und begann statt dessen im Netz der Netze nach Informationen über Engel zu suchen. Wenn einem ein Engelchen fast vor die Füße fällt, ist es ja nicht ganz ausgeschlossen, dass man auch im Internet eine direkte Verbindung zu den Himmlischen findet. Wer das Internet kennt, wird aber sicher ahnen, dass dies kein einfaches Unterfangen sein konnte.

Tatsächlich gab es im Netz Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Seiten über das Thema „Engel“. Da waren die theologischen Erbsenzähler, die schon seit zweitausend Jahren diskutierten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz fänden, die die genaue Zahl der Engel berechneten und die die Engel in komplizierte Hierarchien einordneten. Die die Engel unterschieden in Seraphim, Cherubim und Throne, in Mächte, Herrschaften und Fürstentümer, in Kräfte, Erzengel und das Fußvolk der einfachen Engel. Man stritt sich leidenschaftlich, ob es einen Erzengel namens Uriel wirklich gäbe oder nicht, oder ob es nun vier, sieben oder acht Erzengel seien.

Die große Masse der Seiten über Engel aber bildeten die Esoterik-Anbote. Da wurden die Engel aus christlicher und jüdischer Überlieferung, aus Bibel und Kabbala zusammengeworfen und das Ganze mit einer kräftigen Prise „New Age“ gewürzt. Da gab es Engelbotschaften, die eine Dame vom Erzengel Gabriel empfangen haben wollte. Ein Institut für mediale Lebenshilfe listete seitenlang die Namen aller möglichen Engel und Erzengel auf und zu welchem Zweck welcher Engel anzurufen sei. Ein Zentrum für Harmologie klärte über die heilende Kraft der Engel auf. Eine Frau Maja bot an, für den geneigten Leser den Kontakt zu seinem persönlichen Schutzengel aufzunehmen. Es gab ein Zentrum für Lichtheilung, Seiten über bessere Verdauung durch Engel, über Engel und Feng Shui, einen Engel-Chat und, und, und – nur über kleine frierende Mädchen mit Flügeln gab es nichts.

Frustriert schob ich schließlich das Abendessen in den Backofen, deckte den Tisch, und machte mich endlich auf, Lala und Hotaru wieder vom Kindergarten abzuholen. Schon von weitem hörte ich Hotarus wunderbare Stimme. Es war ein Lied ohne Worte, klar und rein, voller Fröhlichkeit und manchmal auch mit einer Spur von Trauer. Es trug meine Anspannung und meinen Ärger über den nutzlos vertrödelten Tag davon wie welke Herbstblätter.

Anstatt wie sonst im Freispiel in verschiedenen Gruppen herumzutoben, saßen die Kinder wie gebannt in einem Kreis um Hotaru. Mein Eintreten schien den Bann aufzuheben, Hotaru hörte auf zu singen und flog mir geradezu in die Arme. Hinter mir trat Nadja in den Raum.

„Die Kinder haben heute wahnsinnig schön gespielt“, erzählte sie. „Sie haben den ganzen Tag gespielt, es sei ein Engelchen zu Besuch. Total süß!“

Nadja war gar nicht zu bremsen. „Hanna-Chan hat sogar mit dem Engelchen japanisch geredet und gesagt, dass es ‚Leuchtkäfer’ heißt. Niedlich, nicht wahr? Manchmal habe ich das Gefühl, als könnten die Kinder mit ihrer Fantasie Dinge sehen, die wir Großen nicht mehr wahrnehmen.“

Hinter Nadja und einigen Eltern schlüpften Lala, Hotaru und einige der Kinder ins Freie. Hotaru hatte sich einen großen weißen Pullover aus dicker Wolle aus der Kleiderkiste organisiert und den Ausschnitt im Rücken bis unter die Flügelansätze heruntergezogen. Nadjas Blick fiel wie zufällig auf sie. Einen Moment schien sie irritiert, als sähe sie etwas, was sie nicht erwartet hatte, dann war der Moment vorbei. „Vielleicht sollten wir mal ‚Engel’ zum Wochenthema machen!“, sagte Nadja.

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Zu Hause klingelte Lala Sturm. Ich hätte zwar genauso gut die Tür mit meinem Hausschlüssel öffnen können, aber Lala liebte es, von Stella die Tür geöffnet zu bekommen. Es war so eine Art Spiel zwischen den Beiden — und meist ließ ich Lala ihren Willen. Mein Schatz öffnete also die Tür, tat überrascht und drückte dann Lala an sich.

Lala war ganz aufgeregt. „Mama, Mama!“, schrie sie. „Weißt du schon, dass Hotaru jetzt bei uns wohnt?“

Stella kräuselt die Stirn und schaute mich fragend an. „Hotaru? Wer ist Hotaru?“

„Ich bin Hotaru“, sagte Hotaru leise.

Überrascht blickte Stella in ihre Richtung. Erst jetzt schien sie Hotaru zu bemerken. „Nanu, wo kommst du denn her?“, fragte sie überrascht.

„Ich bin schon die ganze Zeit hier“, sagte Hotaru einfach.

„Na, dann kommt mal rein!“, sagte Stella ihre Verwunderung überspielend. „Das Essen steht schon auf dem Tisch!“

Beim Essen langten alle kräftig zu. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Hotaru körperlicher wirkte, als noch am Morgen, wirklicher, erdverbundener. Ihre Flügel waren noch etwas durchscheinender geworden.

Ich erzählte Stella, wie ich Hotaru am Bahnhof aufgesammelt und mit nach Hause gebracht hatte, wie sie bei uns in unserem Bett geschlafen hatte und wie sie heute Morgen mit Lala zusammen in den Kindergarten gegangen war. „Merkwürdig!“, meinte Stella. „Ich habe Hotaru heute Nacht irgendwie übersehen. Und als ihr eben vor der Tür standet, habe ich Hotaru erst bemerkt, als ich ihre Stimme hörte!“ „Nadja hat Hotaru auch nicht gesehen!“, redete Lala mit vollem Mund dazwischen. Jetzt, wo sie es mir sagte, fiel es mir auch auf. Das erklärte auch eine Reihe von Merkwürdigkeiten, die mich gestern Abend irritiert hatten, ohne dass ich den Finger hätte drauflegen können: der Reisende, der Hotaru fast über den Haufen gerannt hatte, oder die Bedienung, die sich über meine Bestellung gewundert hatte.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Stella. „Hotaru kann natürlich in Lalas altem Bett schlafen, solange sie bei uns ist. Aber irgendwann müssen wir sie schließlich wieder nach Hause zurückbringen.“

„Sicher!“, antwortete ich. „Ich zerbreche mir schon den ganzen Tag den Kopf darüber, aber ich habe nicht die Spur einer Idee, wie das gehen könnte.“ Und an Hotaru gewandt: „Sag mal Hotaru, du hast mir doch mal von den großen Engeln erzählt. Weißt du nicht, wie wir einen von denen finden können?“

Hotaru schüttelte nur stumm den Kopf und machte ein Gesicht, dass mich an Lalas erinnerte, wenn sie eine Tafel Schokolade stibitzt hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da das personifizierte schlechte Gewissen vor mir saß.

Später saßen wir im Kinderzimmer und ich las aus Peterchens Mondfahrt vor. Lala saß auf meinem Schoß, und Hotaru hatte sich an Stella gekuschelt.

„Rechtes Bein — linkes Bein ... Summ! — dann kommt das Flügelein!“, sang der Maikäfer Sumsemann.

„Rechtes Bein — linkes Bein ... Summ! — dann kommt das Flügelein!“, sangen auch Peterchen und Anneliese und schwebten zur Zimmerdecke.

„Versuch’ das doch auch mal“, sagte ich zu Hotaru, doch die schüttelte nur den Kopf und drückte sich enger an Stella.

„Ich bin zu schwer geworden!“, hauchte sie.

„Pass auf, deine Flügelspitzen kitzeln!“, lachte Stella und drückte Hotaru an sich.

Noch später lagen Stella und ich beieinander im Bett und redeten noch, während Lala und Hotaru bereits nebenan im Kinderzimmer schliefen. „Bist du sicher, dass wir Hotaru nicht behalten können?“, fragte Stella hoffnungsvoll und drückte meine Hand. „Sie berührt so etwas tief in mir - ich möchte sie nie wieder hergeben!“

Mir ging es ähnlich. Wir hatten uns immer ein ganzes Haus voller Kinder gewünscht. Aber nach Lalas Geburt konnte Stella keine weiteren Kinder mehr bekommen — eine Wochenbettinfektion hatte ihre Eileiter unwiderruflich verschlossen.

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Am nächsten Morgen waren Hotarus Flügel kaum noch zu sehen, so durchscheinend waren sie geworden. Sie waren auch nicht mehr im Weg, als wir ihr Lalas Lieblingspullover überzogen, den Lala ihr geschenkt hatte. Wenn man nicht sehr genau hinsah, sah Hotaru jetzt wie ein ganz normales Menschenkind aus. Nur ihre großen hellvioletten Augen waren immer noch sehr ungewöhnlich und wirkten strahlender und ausdrucksstärker als gewöhnliche Kinderaugen.

Auch Nadja im Kindergarten fiel nichts Ungewöhnliches auf. Nachdem ich festgestellt hatte, dass Nadja Hotaru heute sehen konnte, stellte ich Hotaru als ein Besuchskind vor. Auch Nadja war von Hotaru sofort bezaubert.

„Das ist überhaupt kein Problem, Hotaru für einige Tage als Gastkind im Kindergarten aufzunehmen!“, sagte sie. „Wenn Hotaru länger hier bleibt, müsstet ihr natürlich die Elterngruppe fragen! Aber ich sehe da gar keine Probleme. Hotaru hat ja so eine wunderbare positive Ausstrahlung! Sie wäre eine wirkliche Bereicherung für die Kindergruppe!“

Die anderen Kinder begrüßten Hotaru begeistert, nur Nadja fiel nichts auf. Es schien, als verhinderte eine Art Denkblockade, dass sie Hotaru mit dem „Spiel“ der Kinder vom Vortag in Verbindung brachte.

Ich machte mich wieder auf den Heimweg. In Gedanken versunken wanderte ich durch die Straßen und versuchte eine Lösung für die vertrackte Situation zu finden. Manchmal ist ein kleiner Spaziergang geeignet, die Gedanken zu klären. Klar war, wir konnten Hotaru nicht behalten. Klar war aber auch, dass ich nicht einfach im Telefonbuch die Telefonnummer der „Großen Engel“ nachschlagen konnte. Auch die Suche im Internet hatte nicht wirklich weitergeholfen, ich wusste lediglich, dass es wohl doch eine ganze Menge Menschen gab, die an Engel glaubten und mindestens ebenso viele Menschen, die versuchten aus diesem Glauben Kapital zu schlagen.

Ich hatte nicht so genau darauf geachtet, wohin meine Schritte mich getragen hatten. Als ich meiner Umgebung wieder mehr Aufmerksamkeit schenkte, stellte ich fest, dass ich vor einer Esoterik-Buchhandlung gelandet war, um die ich normalerweise einen großen Bogen gemacht hätte. Nicht, dass ich die Straßenseite gewechselt hätte, aber ich wäre sicher unter normalen Umständen nicht auf die Idee gekommen, einen solchen Laden zu betreten. „Nun“, dachte ich mir, „was schadet es?“ Vielleicht wollte mir mein Unterbewusstsein ja einen Fingerzeig geben! Zögernd betrat ich den etwas altmodisch anmutenden Laden.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte mich drinnen eine grau bezopfte Mittfünfzigerin im Hippielook. Sie trug eines jener indischen Kleider aus dem Dritte-Welt-Laden, das mit Perlen und kleinen Spiegelstücken derartig reich bestickt war, dass der dunkelrote Stoff dazwischen kaum noch zu sehen war.

„Ähm, ich suche etwas über Engel!“, sagte ich etwas unsicher. Sie führte mich an ein Regal aus gewachstem Holz, in dem zu meinem Erstaunen unter anderem mehrere Regalmeter an Büchern über Engel standen.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte sie, als sie meinen etwas hilflosen Blick bemerkte.

„Äh, gibt es etwas speziell darüber, wie man mit Engeln Kontakt aufnimmt?“, fragte ich.

„Sicher, das wollen doch alle, oder?“, bemerkte sie, während sie zwei oder drei Bücher aus dem Regal zog. „Hier haben wir etwas. ‚Die Engel deines Leben. Wie du mit ihnen Kontakt aufnimmst.’ Das Buch kann ich sehr empfehlen. Darin sind 72 Schutzengel mit Namen und Funktion detailliert beschrieben. Außerdem ist da eine genaue Anleitung drin, wie jeder Mensch mit seinen drei Schutzengeln Kontakt aufnehmen kann!“ Ich überflog den Klappentext.

„Hier, das ist auch sehr schön!“ Sie reichte mir ein anderes Buch: „Dies ist von einer bekannten britischen Hellseherin! ‚Im Lichtreich der Engel und Naturgeister. Kontakt und Kommunikation mit unseren unsichtbaren Helfern.’ Sehr schön und einfühlsam geschrieben, wenn sie mich fragen. Wie sie mit der unsichtbaren Welt der Tiere und Mineralien, der Devas von Bäumen und Blumen und mit den Engeln in ständiger Verbindung bleiben. - Hier, das ist auch nicht schlecht!“ Sie zog ein drittes Buch aus dem Regal: „Dein Engel ist in Dir. Kontakt mit Lichtwesen.“ Wenig überzeugt blätterte ich in dem Buch.

„Ich kann Ihnen auch diese Engelkarten empfehlen!“ sagte sie, als sie merkte, dass mich die Bücher nicht so recht überzeugten, ging zu einem anderen Regal hinüber und reichte mir ein Päckchen Karten. „Sie könne ruhig mal hineinschauen. Ich zog eine Karte aus der Schachtel. Unter dem etwas kitschigen Bild eines Engels stand: „Lausche am frühen Morgen auf die Verheißung des neuen Tages“. Nun ja, wahrscheinlich auch nicht besonders hilfreich.

Die Karten waren aber nicht sehr teuer und ich wollte auch nicht unfreundlich zu der Buchhändlerin sein, die sich mit mir immerhin einige Mühe gegeben hatte. „Ich glaube, ich nehme die hier!“, sagte ich und reichte ihr die Schachtel.

Beim Bezahlen fiel mein Blick auf einen Stapel Handzettel neben der Kasse. „Nehmen sie ruhig einen mit, das ist eine Freundin von mir. Sie hat ihr Institut ganz in der Nähe!“, bemerkte die Buchhändlerin. Auf dem Handzettel stand:

The Age of Aquarius
Institut für mediale Lebensberatung
und angewandte Angelogie
Leitung: Dr. Aurora H. Reich

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Die Frau, die mir öffnete, war wahrscheinlich so um die Mitte dreißig und erinnerte mich farblich unwillkürlich an eine Karotte. Nur dass eine Karotte unten orange und oben grün ist. Sie trug einen sehr orangefarbenen Bürstenhaarschnitt, der ihr Gesicht fünf Jahre älter erscheinen ließ und ein weites robenartiges Gewand in verschiedenen grünen Pastelltönen.

„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie habe warten lassen, aber meine Sekretärin hat heute ihren freien Tag!“, sagte sie, während sie mich an einer ultramodernen italienischen Empfangstheke vorbeiführte. „Ich bin Aurora!“

„Mein Reich!“, sagte sie und wies mit einer weiten Armbewegung in den hellen Raum, der sich vor mir auftat. Den ersten Eindruck bestimmte ein riesiger gläserner Schreibtisch, auf dem einer dieser sündhaft teuren großen Flachbildschirme im Acryldesign psychedelische Lichtmuster produzierte. Ansonsten fanden sich nur noch einige Stifte, ein Schreibblock und eine schwebende Kristallkugel auf den Schreibtisch. Dezente Musik drang aus verborgenen Lautsprechern.

Die lange Wand des Raumes wurde vom Boden bis zur Decke vollständig von einer Fensterfront eingenommen, durch die das helle Tageslicht auf ein raumhohes Tafelbild auf der gegenüberliegenden Seite fiel. Ein gegenständliches Motiv konnte ich nicht erkennen, am ehesten noch erinnerte das Bild mich an die Äste eines gewaltigen grüngoldenen Baumes. Es war eine großflächig mit dem Spachtel aufgetragen Komposition in Öl in den verschiedensten leuchtenden Grüntönen von blaugrün bis goldgrün, mit Lichtern in hellen Pastelltönen, gelb, rosa, orange und fast weiß. An der kurzen Seite des Raumes bildete ein schmaler Tisch mit zwei Silberleuchtern und einer dick bestickten Brokatdecke einen auffallenden Kontrast. Eine Kohlenschale, auf der ein paar glimmende Kräuter lagen, verbreitete einen angenehmen Duft.

„Nehmen Sie doch bitte Platz!“, sagte Aurora und wies einladend auf einen Sessel etwas seitlich des Schreibtisches, dessen Design eher originell als bequem wirkte. „Bitte entschuldigen Sie, ich hatte gerade für einen Kunden eine Computermeditation durchgeführt.“

Aurora ließ sich hinter den riesigen Schreibtisch sinken und legte die Fingerspitzen aneinander. „Was kann ich also für Sie tun?“, fragte sie.

Ich beschloss mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich möchte Kontakt zu einem der ‚Großen Engel’ aufnehmen!“, sagte ich.

Aurora runzelte die Stirn. „Meinen Sie damit einen der Erzengel? Gabriel, Michael, Metatron?“

„Ich weiß es nicht!“ antwortete ich. „Hotaru spricht immer nur von den ‚Großen Engeln’. Namen hat sie nie genannt!“ Was sollte ich dieser durchgestylten New Age Jüngerin mehr von Hotaru erzählen.

„Der Begriff ‚Große Engel’ ist ziemlich unüblich“, erklärte sie. „Seit Dionysos Aeropagitos unterscheidet man neun Ordnungen von Engeln, von den einfachen Engeln und Erzengeln bis hin zu den Cherubim und Seraphim, die dem universellen Licht am nächsten stehen. Ich wüsste jetzt nicht, welche davon Ihre ‚Großen Engel’ sein sollten!“

„Können sie denn mal für einen absoluten Laien erklären, wie man prinzipiell Kontakt zu Engeln aufnimmt?“, fragte ich.

„Nun, da gibt es drei Möglichkeiten. Einmal können Sie natürlich einfach mit ihrem Schutzengel sprechen. Dazu benötigen sie keinerlei Vorbereitung – sprechen sie einfach aus, was sie möchten, ihr Engel wird es schon hören. Manche Menschen zünden auch vorher eine weiße Kerze an, um eine schöne Atmosphäre zu schaffen.“

„Und die zweite Möglichkeit?“

„Sie können mit Hilfe von Engelkarten meditieren. Kennen Sie Engelkarten?“

Ich nickte und zog mein neu erworbenes Kartenpäckchen aus der Tasche.

„Sehr schön!“ Sie nickte. Nehmen Sie eine Karte, die Sie für die Gelegenheit als passend empfinden, heraus und meditieren Sie. Nach einiger Zeit werden Sie innerlich spüren, dass der Engel bei Ihnen ist. Engel antworten natürlich nicht mit Worten. Sie werden die Antworten spüren, wenn Sie tief in sich hineinhorchen.“

„Hmm!“, sagte ich wenig überzeugt. „Ich fürchte, ich bin nicht sonderlich geübt im Meditieren.“

„Die dritte Möglichkeit ist Channeling“, fuhr sie fort. „Ich versetze mich in eine leichte Trance und bilde einen Kanal für eine jenseitige Entität, mit der Sie dann sprechen können.“

„Das erscheint mir von den drei Möglichkeiten im Moment die Erfolg versprechendste!“, antwortete ich.

„Gut!“, sagte sie. „Lassen Sie mir ein paar Augenblicke Zeit mich zu sammeln.“ Sie lehnte sich entspannt zurück und richtete ihren Blick auf die hypnotischen Farbenspiele des Monitors. Nach einigen Minuten glättete sich ihr angespanntes Gesicht und wurde milder, die Augen strahlten Liebe und Verständnis aus.

„Sei mir gegrüßt!“ Auch Ihre Stimme hatte sich geändert, war weicher, wärmer geworden. „Ich bin Hermon, der Engel der verborgenen Dinge. Du begehrst zu erfahren, in welchen Sphären die ‚Großen Engel’ zu Hause sind?“

„Nun, genau genommen habe ich vor dem Bahnhof einen kleinen Engel gefunden und möchte ihn dorthin zurückbringen, wo er hingehört!“

„Wirklich! Es ehrt dich, dass du den Fund seinem wahren Besitzer zurückerstatten willst!“, sagte Hermon mit Auroras Mund und lächelte liebevoll.

„Einen Augenblick!“, erwiderte ich irritiert: „Reden wir von der gleichen Sache?“ Offensichtlich war Hermon doch nicht so gut informiert, wie er vorgab.

Auroras oder Hermons Augenlieder flatterten nervös. „Verlorenes wird gefunden und zurückgegeben!“ orakelte er oder sie.

„Moment mal“, sagte ich. „Ich rede nicht von einem Gegenstand! Ich rede von einem lebenden kleinen Engel, den ich vorgestern Abend am Bahnhof aufgegabelt habe.

„So führe das Kind zu liebevollen Menschen, die verlorenen Kinder aufnehmen!“, riet mir der Engel und lächelte milde.

Langsam wurde ich ärgerlich. „Ich rede nicht von einem Kind und nicht von einem Gegenstand! Ich rede von einem richtigen lebenden kleinen Engel! Mit Flügeln! Der mir vorgestern fast vor die Füße gefallen ist!“, sagte ich mit nun etwas erhobener Stimme.

Hermon oder Aurora bewegte sich unruhig im Sessel. „Ich spüre eine schreckliche spirituelle Dissonanz!“, hauchte er oder sie. Dann schüttelte sich der ganze Körper, und das Gesicht nahm wieder seinen normalen Ausdruck an.

„Was war los?“, fragte Aurora Reich. „Haben Sie etwas erfahren können?“ Und als sie mein Gesicht sah: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

„Nichts ist in Ordnung. Ihr angeblicher Engel, ihr Unterbewusstsein oder was auch immer das eben war, hat kompletten Unsinn erzählt!“, sagte ich immer noch ärgerlich. „Ich erzähle die ganze Geschichte jetzt noch einmal! Vielleicht kann sich ja ihr Wachbewusstsein eher einen Reim darauf machen, als Ihr Trance-Bewusstsein.“

„Ich habe vorgestern Abend einen richtigen, lebenden, verlorenen Engel gefunden!“, fuhr ich fort. „So mit Flügeln und allem Drum und Dran! Und dieser kleine Engel, sie heißt Hotaru, sagt, sie kann aus irgendeinem Grund nicht mehr dahin zurück, wo die ‚Großen Engel’ leben. Und aus diesem Grund möchte ich mit den ‚Großen Engeln’ sprechen oder wie auch immer sie sonst heißen mögen!

Aurora schaute mich an, als wäre ich gerade einer geschlossenen Anstalt entwichen. „Aber das ist vollkommen ausgeschlossen. Engel sind reine Geistwesen. Schwingungen reiner Liebe. Feinstoffliche Lichtwesen! Aber niemals, niemals körperlich!“

„Ich dachte, Sie könnten mir das erklären, immerhin sind Sie hier die Fachfrau!“, sagte ich und stand auf. „Ich stelle aber fest, dass Sie mir auch nicht weiterhelfen können! Bitte schicken Sie mir die Rechnung!“

„Warten Sie! Warten Sie!“, rief mir Aurora Reich nach. „Sie meinen das ernst, nicht wahr?“ - Ich drehte mich noch einmal um.

Forschend blickte sie mich an. „Sie sehen nicht aus wie jemand, der sich einen Scherz erlaubt! - Also, Sie haben zu Hause einen richtigen, körperlich vorhandenen Engel, ja? - Ich muss gestehen, dass ich ratlos bin! Dafür gibt es keinen Präzedenzfall!“

„Das würde ich nicht behaupten!“, sagte ich. „An mehreren Stellen in der Bibel treten Engel ganz körperlich in Erscheinung. Einer prügelt sich sogar mit Jakob herum und besiegt ihn, indem er ihm zwischen die Beine schlägt!“

„Hmmm. Wenn wir also die Bibel mal für bare Münze nehmen, was erzählt sie uns dann über Engel?“ überlegte Aurora laut. „Sie sind Feuer- oder Luftgeister. Sie nehmen niemals Essen zu sich, es sei denn, es wird verbrannt.“ Nun, das mit dem Essen stimmte offensichtlich nicht. Schmunzelnd dachte ich daran, wie begeistert Hotaru bisher jedesmal reingehauen hatte, wenn es etwas Leckeres zu essen gab.

„Ihr einziger Daseinszweck ist das Lob Gottes und das Wort Gottes zu den Menschen zu tragen, und umgekehrt, Gott von den Taten der Menschen zu berichten“, überlegte Aurora weiter. „‚Engel’ kommt vom griechischem ‚Angelos’ und bedeutet eigentlich nichts anderes als ‚Bote’. Und das ist eine wörtliche Übersetzung des hebräischen ‚Malach’, das genau dasselbe bedeutet! Vielleicht sollten Sie einfach einen Brief schreiben und dann verbrennen?“ Sie wies auf die Kohlenschale.

Ich aber hatte in diesem Augenblick einen ganz anderen Einfall. In meinem Kopf klang immer noch das Wort „Luftgeister“ nach. Vielleicht hatte mir ja auch ein Engel diese Idee in Ohr geflüstert – wer weiß. Jedenfalls hatte ich plötzlich ein ganz zuversichtliches Gefühl, dass es so funktionieren könnte.

„Wären Sie so nett, mir mit einem Blatt Papier auszuhelfen?“, bat ich Aurora. Sie schob mir einen ihrer edlen Briefbögen zu. Oben links prangte als Briefkopf ein bis zur Unkenntlichkeit stilisierter Wassermann und neben dem Logo der Schriftzug „Institut für mediale Lebensberatung und angewandte Angelogie. Dr. Aurora H. Reich.“

Ich strich den Briefkopf durch und schrieb nach kurzem Nachdenken auf das Blatt: „An die Großen Engel!“ Und eine Zeile tiefer: „Glühwürmchen möchte wieder nach Hause! Sie weint sich die Augen aus!“

Ich verwendete bewusst den Namen, unter dem die Engel Hotaru kennen mussten. Dann legte ich das Blatt zusammen - und faltete sorgfältig eine Schwalbe daraus.

-8-

Im Park ließ ich die Schwalbe fliegen. Nachdem die erste Euphorie über meine Idee verflogen war, kam ich mir ein wenig albern vor. Ein erwachsener Mann, der nichts Besseres zu tun hat, als ein Papierflugzeug fliegen zu lassen. Und was sollte ich tun, wenn das Flugzeug gelandet war? Es wieder und immer wieder aufheben und wieder fliegen lassen?

Unentschlossen ließ ich die Schwalbe fliegen. Sie drehte eine kleine Linkskurve und fiel dann zu Boden. Nun ja, das musste doch wohl schöner gehen! Mich packte der Ehrgeiz! Wieder warf ich die Schwalbe. Diesmal machte sie eine leichte Rechtskurve in Richtung des Weihers. Beinahe wäre sie ins Wasser gefallen. Aber kurz vor der Linie zwischen trockenem Land und Wasser schien sie in ein Luftloch zu sacken und zu Boden gedrückt zu werden. Noch mal Glück gehabt! Die Schwalbe war trocken und flugfähig geblieben.

Nun legte ich all mein Wollen und Wünschen in den dritten Versuch. Ich dachte an Hotaru, ihre Sehnsucht nach Hause, den Zauber ihrer großen lavendelfarbigen Augen, ihr Lachen und ihr Lied - und ließ die Schwalbe noch einmal fliegen.

Ein Windstoß erfasste die Schwalbe und trug sie höher. Eine Kurve über den See, und wieder trug etwas die Schwalbe noch ein Stückchen höher hinauf. Fast hatte ich den Eindruck, als flattere die Papierschwalbe mit den Flügeln, aber ganz sicher war ich mir da nicht, da die Schwalbe sich inzwischen ein ziemliches Stück von mir entfernt hatte und weiter an Höhe gewann. Schließlich war sie so klein geworden, dass ich sie nicht mehr sehen konnte.

Ich machte mir keine Illusionen, dass die Schwalbe nicht irgendwann wieder zu Boden oder in den Weiher stürzen würde. Wenigstens aber hatte ich das Gefühl, das maximal Mögliche getan zu haben. So wandte ich mich zum Gehen. Die Bäume waren kahl und der Himmel grau und ein kalter Wind ließ mich frösteln – ein typischer Februarnachmittag.

„Wir sind sehr glücklich, dass Sie sich um Glühwürmchen kümmern!“, sage der Mann, der neben mir herging. „Fürchten Sie sich nicht!“, beeilte er sich zu sagen, als ich erschrocken herumfuhr. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen. Er ging neben mir her, als wäre er schon immer da gewesen. „Ohne Ihre Hilfe, wären die Folgen von Glühwürmchens Dummheit für Glühwürmchen wahrscheinlich noch sehr viel schlimmer ausgefallen!“

„Das ist aber schön, dass Sie sich endlich bei mir melden!“, sage ich, nachdem sich der Schreck etwas gelegt hatte. Schlimme Folgen - das klang ja nicht gut! „Ich hatte mir schon sehr den Kopf zerbrochen, wie ich Sie verständigen kann. Sind Sie ein Angehöriger von Glühwürmchen?“

Er schüttelte den Kopf. „Bei uns gibt es so etwas nicht. Wir sind alle eins und doch verschieden. Kleine oder große Engel erwachen einfach eines Tages das erste Mal oder sie hören einfach auf da zu sein oder sie verblassen oder sie verwandeln sich in andere Engel. Sie würden es ziemlich verwirrend finden, fürchte ich.“ Er schmunzelte.

„Sie sind einer der ‚Großen Engel’?“, fragte ich. Die Namen der bekannteren Erzengel schwirrten durch meinen Kopf: Gabriel, Michael, Raphael oder auch Metatron, oberster Erzengel nach der Vorstellung der Kabbala.

Mein Begleiter schien nicht nur auf meine gesprochenen Worte zu lauschen, sondern auch auf das Durcheinander in meinem Kopf zu antworten.: „Wir haben keine Namen in Ihrem Sinne“, antwortete er auf meine unausgesprochene Frage. „Namen, sind genau besehen gerade ein Teil des Problems.“

„Als ich Glühwürmchen fragte, wie sie hieße, sagte sie mir aber, dass sie Glühwürmchen hieße!“, entgegnete ich verwundert. „Wo ist da ein Problem?“

„Wenn Sie sich genau erinnern, werden Sie feststellen, dass Glühwürmchen zunächst nur ihre Melodie gesungen hat. Einen Namen hat sie ihnen erst genannt, als sie darauf insistierten!“, widersprach mir der Engel. „Sie sagte Ihnen aber auch, dass das eigentlich nicht erlaubt sei! Sie ist natürlich nur ein kleiner Engel, ein Kind, sie versteht nicht, warum es verboten ist.

Sehen Sie!“, fuhr er fort. „Menschen verwenden Namen. Sie geben allen Dingen Namen. Aber Namen binden, Namen kategorisieren und trennen Dinge von anderen ab. Namen geben Macht, Macht über die Dinge, unterwerfen sie dem Verstand. Nicht umsonst haben die Menschen Hunderte von Namen für Engel erfunden. Es ist eine Beschwörung, soll uns herbeirufen, den Menschen Macht über uns geben.

Engel tragen keine Namen. Namen würden uns binden. Namen würden Anderen Gewalt über uns geben. Namen würden aber auch eine Individualität vortäuschen, die wir nicht haben. Wir ziehen es vor, ohne Namen zu bleiben. Als Sie Hotaru einen Namen gaben, haben Sie sie damit ungewollt an Ihre Wirklichkeit gebunden!“ Ich erschrak. War ich selber schuld daran, dass Glühwürmchen nicht nach Hause zurück konnte?

„Nein!“, antwortete der Besucher auf meine gedachte Frage. „Glühwürmchen hat selber die entscheidende Dummheit begangen!“

Mir gingen immer noch die Namen der Engel durch den Kopf. „Sie erinnerten mich daran, dass Glühwürmchen ein Lied sang, als ich sie das erste Mal nach ihrem Namen fragte. Ist das nicht etwas Ähnliches wie ein Name?“, nahm ich das vorherige Thema wieder auf.

„Das ist etwas ganz anderes“, antwortet der Besucher. „Wir alle sind Teil der kosmischen Melodie, der Musik, die im ersten Augenblick des Universums begonnen hat, und die erst verklingt, wenn auch das Universum selbst vergangen ist. Jeder Engel ist Teil dieser gewaltigen Musik, Teil dieser Melodie, die das Universum selbst ist.“ Er schmunzelte. „Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum in Ihren heiligen Schriften von den Chören der Engel die Rede ist?“ Wir gingen einige Augenblicke schweigend nebeneinander her.

„Sie sagten, dass Glühwürmchen eine Dummheit gemacht hat?“, fragte ich nach einer Weile. Ich musste an ihr deutlich sichtbares schlechtes Gewissen gestern Abend denken.

Der Besucher nickte traurig. „Sie haben ja heute schon von Aurora Reich erfahren, dass Engel von sehr feinstofflicher Art sind.“

Ich runzelte die Stirne. „Dann habe Sie mich also die ganze Zeit beobachtet?“

„Jeder Mensch wird immer beobachtet!“, entgegnete er. „Manchmal greifen wir auch unauffällig ein, wenn uns das möglich ist. Aber erst nachdem Sie unmissverständlich zu verstehen gegeben haben, dass Sie mit uns über Glühwürmchen sprechen wollten, durften wir Kontakt mit ihnen aufnehmen.“ Er schmunzelte. „Sie haben wirklich eine außergewöhnlich komplizierte Art gewählt, um ihren Willen auszudrücken. Aber hübsch! Sehr hübsch!“

„Sie sagten, dass Glühwürmchen eine große Dummheit gemacht hat“, hakte ich nach.

Der Fremde nickte traurig. „Glühwürmchen spielte mit anderen kleinen Engeln der Heimstatt an einem Ort, der teilweise auch Ihr Hauptbahnhof ist. Und da wurde sie verführt von den Düften der vielen Köstlichkeiten, die dort angeboten werden. Und da gerade keiner von uns Älteren hinschaute, naschte sie von diesem und jenem, wohl wissend, dass von dem Menschen sie keiner erwischen konnte, da sie ihnen ja unsichtbar war.“ Er seufzte. „Eigentlich hätte sie genau wissen müssen, was das für sie für Folgen haben würde. Und so war, als die Anderen nach Hause zurückkehrten, das kleine Glühwürmchen so erdenschwer geworden, dass sie sich nicht mehr von der Welt lösen und heimkehren konnte.

Vielleicht kennen Sie ja die Geschichten, in denen ein Wanderer für hundert Jahre im Elfenhügel gefangen wird, wenn er sich verführen lässt, von den dort angebotenen Speisen zu probieren. Ähnlich ergeht es einem Engel, der menschliche Speisen zu sich nimmt.“

Er wandte mir den Kopf zu. „Wissen Sie, viele kluge Köpfe haben darüber gespottet, dass Engel, so wie sie in ihren Bildern dargestellt werden, niemals würden fliegen können. Sie haben natürlich recht. Die Flügel, die viele von uns manchmal zu haben scheinen, sind ja gar nicht wirklich zum Fliegen gemacht. Sie sind eher die Idee vom Fliegen, symbolisieren, dass wir nicht an diese Welt gebunden sind. Aber ob zwei, sechs, acht oder zwölftausend Flügel: Immer können sie uns tragen, da wir nicht Teil ihrer feststoffliche Wirklichkeit sind. Eigentlich brauchen wir die Flügel also gar nicht. Aber wenn wir Teile der feststofflichen der Welt in uns aufnehmen, so wie Glühwürmchen das gemacht hat, dann werden wir auch den Gesetzen dieser Welt unterworfen.“ „Also hat Glühwürmchen, vom verbotenen Apfel gegessen und kann jetzt nicht mehr ohne Hilfe nach Hause zurück!“, fasste ich die lange Rede zusammen.

„Ich fürchte, keine Hilfe, die wir ihr geben können, kann Glühwürmchen jetzt noch nach Hause zurückbringen!“, antwortetet mein Besucher traurig. „Sie ist nun an diese Wirklichkeit gebunden. Sie wird sich immer tiefer und tiefer in ihr verstricken, sich verwurzeln, bis sie ein Mensch ist, wie jeder andere auch!“

„Wirklich absolut keinen Weg?“, fragte ich erschrocken nach?

„Ich fürchte, nein!“, sagte der Mann. „Der einzige Weg zurück ist der Tod – oder doch so nahe daran vorbei, dass es kaum einen Unterschied macht. Wenn Sie Glühwürmchen lieben, werden Sie das kaum verlangen wollen.“

„Aber was soll nun geschehen?“, fragte ich hilflos.

„Was immer in einem solchen Fall geschieht!“, antwortete der Besucher mit einem Achselzucken. „Sie und wir werden gut auf Glühwürmchen aufpassen und darauf achten, dass sie gut Wurzeln schlägt in dieser kalten Welt. Und dann werden wir hier und da ein paar Erinnerungen verändern, und schon ist Glühwürmchen immer ein Teil ihrer Familie gewesen. Ich denke, wir werden den Namen ‚Hotaru’ beibehalten - sie haben natürlich Recht, wenn sie meinen, dass der Name ‚Glühwürmchen’ in diesem Land etwas merkwürdig wirken dürfte. Vielleicht konstruieren wir eine Geburt in Japan - dadurch wird der Name zumindest in Ihrem Land etwas glaubwürdiger. Aber glauben Sie mir“, er grinste freundlich: „‚Hotaru’ würde in Japan als Name ebenso merkwürdig klingen wie ‚Glühwürmchen’ in Deutschland.“ Wir gingen schweigend nebeneinander her, und ich versuchte zu verarbeiten, was ich gerade erfahren hatte. Als ich wieder aufsah, merkte ich, dass mich der geheimnisvolle Besucher genauso unbemerkt wieder verlassen hatte, wie er gekommen war.

-9-

An diesem Abend, als uns klar wurde, dass Hotaru nie wieder nach Hause würde zurückkehren können, weinte sie in meinen Armen, und zum letzten Mal erhob sie ihre Stimme und sang die Melodie, die ihr innerstes Selbst war.

Ich las nach dem Abendessen den Kindern noch das Märchen von Hans Wundersam vor. Wie Hans Wundersam durch den Schnee stapfte und ein Engelchen mit erfrorenen Flügeln fand. Wie Hans Wundersam und das Engelchen die steile Himmelleiter heraufkraxeln, um das Engelchen wieder nach Hause zu bringen. Wie Hans Wundersam zur Belohnung den ganzen Himmel gezeigt bekam. Und wie Hans Wundersam schließlich mit einer lebendig gewordenen Puppe als Frau wieder hinunter zur Erde stieg.

Bei dem Bild der Himmelsleiter mussten beide Kinder kichern. Es sah zu drollig aus, wie das Engelchen den schnaufenden Hans Wundersam die himmelhohe Stiege hinaufzerrte und der dicke Petrus mit dem Fernrohr zuschaute. Und wo die beiden mit dem Schlitten zum Himmelsschloss fuhren und an den Engelwächtern vorbei, die den Eingang bewachten. Und wie Hans Wundersam durch die Wunder des Himmels, die Säle mit dem lebendigen Spielzeug geführt wurden, da standen ihre kleinen Münder ständig offen von den vielen Ahhs und Ohhs.

„Sieht es bei dir zu Hause auch so aus?“ fragte Stella halb im Spaß.

„Nein, nein, ganz anders!“, sagte Hotaru. Und dann tapfer: „Aber bei euch ist es auch schön!“

„Wir haben dich auch lieb!“, sagte ich und drückte sie. Von ihren Flügeln war nichts mehr zu sehen oder zu spüren.

Nach dem Vorlesen schickte ich Lala ins Bett. Ich wollte mit Hotaru noch ein paar Worte wechseln.

„Ich kann aber alleine nicht einschlafen!“, protestierte Lala.

„Schlaf, Lala, schlaf!“ sang Hotaru mit ihrer himmlischen Stimme, „Schlaf, Lala, schlaf!“ und berührte leicht Lalas Stirn mit der Hand. Und Lala schlief.

„Sie sind weg nicht wahr?“, fragte Hotaru.

„Was ist weg?“, fragte ich.

„Meine Flügel sind weg! Ich spüre es!“, sagte Hotaru.

Ich nickte stumm. Ich brachte kein Wort über die Lippen.

„Dann muss ich jetzt für immer bei euch bleiben!“, stellte Hotaru fest und schniefte. „Aber ihr seid alle lieb!“

„Ich habe heute mit einem großen Engel gesprochen“ sagte ich.

„Hat er geschimpft?“, wollte Hotaru ängstlich wissen. Die Vorstellung, dass ein Großer Engel auch „schimpfen“ konnte, fügte für mich eine ganz neue Facette zu meiner Vorstellung von den Himmlischen hinzu.

„Nein“ sagte ich, „er hat nicht geschimpft. Er war nur traurig, dass du nicht mehr zurückkannst. Das war wirklich dumm von dir, was du gemacht hast!“ Hotaru nickte und schniefte wieder. „Es sah alles so lecker aus! Und es roch so gut! Und dann habe ich mir ein Stück Pizza genommen.“

Ich schüttelte innerlich den Kopf. Für ein Stück Pizza aus dem Himmel ausgestoßen! Die Geschichte von Adam und Eva erschien mir plötzlich in einem ganz neuen Licht. Vielleicht waren auf ähnliche Weise auch die ersten Menschen auf die Erde gelangt.

„Dafür kann ich jetzt jeden Morgen Brötchen essen!“, sagte Hotaru trotzig, in einem vergeblichen Versuch tapfer zu sein: „Im Himmel gibt es keine Brötchen!“ Dann brach die Flut los. Hotaru heulte, weinte und schluchzte. Weinkrämpfe schüttelten sie wie ein Schilfrohr im Sturm. Immer wenn ich dachte, dass sie sich jetzt etwas beruhigen würde, erfasste ein neuer Weinkrampf ihren kleinen Körper.

„Ich kann nie, nie, nie mehr zurück!“, schluchzte sie. „Ich muss immer, immer, immer hier bleiben!“

Ich drückte sie ganz feste an mich und versuchte, ihr einen Halt in dem Sturm zu geben, während meine Augen Stellas suchten.

Und dann begann Hotaru zu singen. Sie sang das Lied, das ihr innerstes Selbst war. Sie sang die Lieder der kleinen Engel, mit denen sie gespielt hatte. Sie sang von den großen Engeln, deren Namen lange Lieder sind. Sie sang von der Liebe und der Wärme, in der sie geborgen gewesen war. Sie sang von den warmen Räumen zwischen den Sternen, in jener anderen Wirklichkeit, wo die Engel zu Hause sind.

Und obwohl ihr Lied ohne Worte war, ihre Stimme durch komplizierte Kadenzen und nie gehörte Tonfolgen jubelte, formten sich nur durch die Macht dieser magischen Musik vor unseren Augen Visionen von kleinen Engeln von Hotarus Art, die im grüngoldenen Licht der Heimstatt tanzten und sangen; und von den großen Engeln, die voll Liebe über sie wachten. Wir sahen die großen Mächte, die die Galaxien, die Cluster und die Supercluster des Universums durchziehen und wir sahen die kleinen Mächte, die die Sterne und die Planeten in Bewegung halten. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das grüngoldene Licht und es wurde zu einem ätherischen Weltenbaum zwischen den Sternen, dessen beschirmende Äste von einem Ende des Universums zum anderen reichten.

Später sollten mich die Farben dieser Vision an das Tafelbild in Auroras Institut erinnern, als hätte jemand vergeblich versucht, eine ähnliche Vision in einem Bild festzuhalten. (Das Institut habe ich übrigens nicht mehr wiedergefunden. Offensichtlich haben die großen Engel einen ganz eigenen Sinn für Humor.)

Ich weiß nicht mehr, wann Hotarus Lied endete, wie sie sich erschöpft in meinen Armen zusammenkuschelte und einschlief - es muss tief in der Nacht gewesen sein. Stella schaute mich stumm an und bedeutete mir, dass sie jetzt zu Bett ginge. Ich blieb auf dem Sofa sitzen, Hotaru im Arm und hielt sie ganz fest. Irgendwann schlief auch ich ein.

-10-

Am nächsten Morgen sah alles wieder ganz anders aus. Die Sonne schien und die ersten Krokusse steckten vorwitzig ihre Blüten aus dem Boden. Hotaru hüpfte und sprang auf dem Weg zum Kindergarten, als hätte es den letzten Abend nie gegeben. Sie lachte und alberte mit Lala herum, und als wir den Kindergarten erreichten, wurde sie von den anderen Kindern begrüßt, als ob sie sie schon ewig und nicht erst seit zwei Tagen kennen würden.

Nach den letzten zwei Tagen, in denen Hotarus Auftauchen und die Erforschung ihres Geheimnisses unser Leben ziemlich durcheinander gewirbelt hatte, kehrte jetzt endlich wieder so etwas wie Ruhe ein. Ich schrieb mein Manuskript fertig und schickte es mit einem Tag Verspätung an den Lektor.

Wir bekamen Post vom Jugendamt und vom Familiengericht. Die Adoption der in Japan geborenen Tochter meiner verstorbenen Kusine Annette sei positiv beschieden worden. Man entschuldigte sich für die lange Dauer des Verfahrens von 16 Monaten, die daran gelegen habe, dass noch einige Unterlagen aus Japan hätten beschafft und übersetzt werden müssen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich überhaupt keine Kusine namens Annette besaß!

Aber Stella und ich waren sehr froh, dass Hotaru nun quasi mit amtlichem Brief und Siegel bei uns bleiben konnte. Besonders ich hatte mir schon etwas Sorgen gemacht, wie man auf die Dauer Hotarus Existenz den Behörden hätte erklären können. Nun erschien es so, als wäre Hotaru schon seit über einem Jahr bei uns gewesen. Als ich in älteren Kontoauszügen blätterte, stellte ich überrascht fest, dass mir das Jugendamt schon seit Monaten Kindergartenbeiträge für sie abgebucht hatte. Offensichtlich war Hotaru dabei „in der Welt Wurzeln zu schlagen“, wie es der große Engel ausgedrückt hatte.

Stellas und meine Gefühle waren zwiespältig. Natürlich freuten wir uns, dass Hotaru bei uns bleiben konnte. Hotaru war unser lavendeläugiges Glück, das sehnlichst gewünschte zweite Kind, das wir nicht hatten haben dürfen. Auf der anderen Seite hätten wir uns aber auch gewünscht, dass Hotaru wieder nach Hause hätte zurückkehren können. Ihre Verzweiflung in jener Nacht blieb mir unvergesslich, und so mischte sich immer etwas Trauer in unser Glück, mischte sich Süße mit Bitternis.

Auf ein wunderschönes Frühjahr folgte ein traumhafter Sommer. Hotaru liebte die Blumen, ihren Duft, die Tiere, das Wasser im Schwimmbad, alles war neu und überwältigend für sie. Wenn sie abwechselnd mit Lala hinten auf Stellas Motorrad mitfahren durfte, kreischte sie laut vor Vergnügen.

Der große Dielenspiegel faszinierte sie immer noch. Oft beobachtetet ich, wie sie sich im Spiegel betrachtete oder mit den Fingerspitzen wie versonnen über die glänzende Oberfläche fuhr. Dann bemerkte sie manchmal, dass ich sie beobachtete und lachte mich mit ihren großen hellvioletten Augen an, als wolle sie sagen: „Ich schau mich nur gerade mal im Spiegel an, am besten du vergisst es gleich wieder.“

Einmal brachte Stella einen Blumenstrauß nach Hause mit. Hotaru schaute die Blumen lange an, dann sagte sie: „Aber die Blumen werden sterben!“ Dann nahm sie die Blumen und trug sie in den Garten. In einer sonnigen Ecke setzte sie den Strauß auf den Boden und häufelte ein wenig Erde an. Vom Haus sah es so aus, als würde sie mit den Blumen zu sprechen. Dann ging sie Lala suchen und ließ die Blumen draußen zurück.

Als ich die Blumen hereinholen wollte, damit sie nicht in der Sonne vertrockneten, sah ich, dass sie kräftige Wurzeln geschlagen hatten. Heute ist aus dem Strauß ein kleiner Strauch geworden, der jeden Sommer blüht. Das Wunderbare daran ist, das der Strauch unterschiedlichen Blüten von all den Blumen trägt, die damals in dem Strauß gewesen waren.

Ein anderes Mal unterhielt sie sich mit einem Vogel. Sie hatte eine Katze gesehen, die einen gefangenen Vogel im Maul trug. Sie machte ein paar maunzende Geräusche, und die Katze kam zu ihr her und legte ihr den verletzten Vogel in die Hand. Hotaru beugte sich über die Hand, in der sie den Vogel geborgen hatte, und machte zwitschernde Geräusche und der Vogel zwitscherte zurück. Dann öffnete sie die Hand, und der Vogel flog unverletzt davon.

Mit dem Fortschreiten des Sommers wurden solche Ereignissee seltener. Anfangs erzählte sie auch manchmal noch von den großen Engeln und der Heimstatt. Und von den kleinen Engeln, die Spitznamen wie Rosenduft, Sternenwind oder Lichtblau trugen (obwohl es ja eigentlich verboten war!), und wie sie zwischen den Welten Fangen gespielt hatten. Aber mit der Zeit begannen die Erinnerungen an ihr früheres Leben zu verblassen. Dafür begann sie, sich an Ereignisse zu erinnern, die sich niemals zugetragen haben konnten. So erzählte sie mir eines Tages, wie sie mit dem Flugzeug von Japan nach Deutschland geflogen war, und wie wir sie danach zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht hätten.

Fast an jedem Abend musste ich Hotaru, und natürlich auch Lala, die Geschichte von Hans Wundersam vorlesen. Vielleicht brachte die Geschichte irgendwo in Hotaru Erinnerungen an ihre wirkliche Vergangenheit zum Klingen, auch wenn die bewusste Erinnerung mehr und mehr geschwunden war.

Wir lachten immer besonders über die Stelle am Ende, wo das Engelchen Hans Wundersam und seine liebe Braut jedes Jahr besuchte und ihnen immer ein Baby mitbrachte. Selbst Lala wusste schon, dass Babys nicht von Engeln gebracht werden.

-11-

In diesem Herbst wurde Hotaru krank. In dem Maße, in dem um uns die Natur verblühte und verwelkte, und in dem die Blätter fielen unter einem trostlosen grauen Himmel, wurde auch Hotaru schwächer und schwächer. Sie aß nichts mehr und trank nichts mehr, lag nur noch apathisch in ihrem Bett.

Der Arzt sagte, er stünde vor einem Rätsel. Er hatte ihr Blut abgenommen und untersuchen lassen. Nicht eine Krankheit, sondern viele verschiedene, für sich alleine relativ harmlose Erreger vergifteten und zerfraßen ihren zarten Körper. Ihr Immunsystem, das in den warmen Räumen zwischen den Sternen niemals Krankheiten kennen gelernt hatte, hatte dem nichts entgegenzusetzen. Spontane Immunschwäche diagnostizierte der Mediziner hilflos und lies uns mit unserer Verzweiflung allein.

Aber während Fieberschauer durch ihren ausgemergelten Körper jagten, blieben ihre schimmernden Lavendelaugen weit und wach und voller Liebe. Eines Nachts waren Stella und ich an ihrem Bett eingenickt und wachten auf - durch ihr Lied. Seit langer Zeit sang sie wieder die Melodie, die ihr wahrer Name war.

Sie erhob sich - und die Krankheit schien von ihr abzufallen wie eine alte, zu groß gewordene Haut. Sie war gewachsen in diesem letzten halben Jahr und sie wirkte ätherischer als an jenem Abend, an dem ich sie gefunden hatte. Selbst ihre Flügel schimmerten wieder hinter ihr in der Dunkelheit, ja ihr ganze Körper leuchtete und zeigte, warum ihre Freunde ihr einst den Spitznamen ‚Glühwürmchen’ gegeben hatten. Es war als hätte die Krankheit alles verzehrt, was an ihr sterblich gewesen war, alles, was sie in dieser materiellen Welt festgehalten hatte.

Sie fiel mir und Stella um den Hals und sagte: „Ich hab Euch lieb!“

„Wir haben dich auch lieb!“, sagte ich, obwohl mir die Stimme fast versagte. Stella bekam überhaupt kein Wort heraus.

Dann begann Glühwürmchen wieder zu singen, die Melodie, die ihr innerstes Wesen war, aber so wie Glühwürmchen gewachsen war, so war auch ihre Melodie länger und komplexer geworden, gewachsen um all das, was sie mit uns in diesem Sommer erlebt hatte. Sie ging wie traumwandelnd auf unseren großen Spiegel zu, der sie schon von Anfang an so fasziniert hatte. Wie damals hatte sie kein Spiegelbild. Wie am ersten Tag legte sie die Fingerspitzen auf den großen Dielenspiegel und diesmal sanken die Fingerspitzen ein. „Ich kann nach Hause!“, hauchte sie glücklich.

„Was sollen wir Lala sagen?“, krächzte ich.

„Bleib bei uns!“, weinte Stella.

Glühwürmchen griff in ihre Haare und zog ohne Kraftanstrengung eine dicke Strähne heraus. „Gebt das Lala!“, sagte sie. „Ich habe Euch lieb!“

Sie streckte die Arme aus, fast wie eine Schlafwandlerin, und richtig, wieder drangen Ihre Finger in den Spiegel, dann die ganzen Arme. Es war, als wäre der Spiegel nur ein Luftschleier, durch den sie hindurchtreten konnte.

Ihre Stimme, ihr Lied erhob sich zu einem Jubilieren. Und in dem Maße, wie sie die Welt vor dem Spiegel verließ, tauchte sie in die Welt hinter dem Spiegel ein. Nur schien es, dass ihre Flügel hier größer waren, richtige Schwingen, wahrhaftig in der Lage ihren zarten Körper zu tragen. Sie winkte uns noch mal zu, Tränen des Glücks oder des Abschieds liefen über Ihre Wangen. Dann ein Rauschen der Schwingen und sie war fort.

In dieser Nacht, in der Hotaru fortgegangen war, klammerten Stella und ich uns an einander fest und trösteten uns in unserem Kummer. Kummer und Leidenschaft sind manchmal seltsame Begleiter. Aber wir waren ja auch froh, dass unser Glühwürmchen am Ende doch wieder den Weg nach Hause gefunden hatte und wieder mit ihren Geschwistern sang.

Ich glaube, die großen Engel haben Glühwürmchen am Ende einfach doch erlaubt nach Hause zurückzukehren. Und die Krankheit war der einzig mögliche Weg, die Krankheit, die aus ihrem zarten Körper alles das wieder herausbrannte, was sterblich gewesen war. Bis auf die Locke finde ich keine Spuren mehr von Hotaru. Selbst die Adoptionsunterlagen sind auf unerklärliche Weise verschwunden. Es ist fast, als hätte es sie nie gegeben.

-12-

Manchmal kommt mir die Erinnerung an Hotaru vor wie ein verblassender Traum. Wie ein Glühwürmchen ist sie kurz aus der Dunkelheit aufgetaucht und hat unseren Weg ein kurzes Stück geleuchtet. Dann hole ich den Umschlag hervor, in dem ich für Lala Hotarus wunderbare blonde Locke aufbewahre, und atme ihren süßen Duft ein. Auf dem Umschlag habe ich ein kleines Gedicht notiert, das ich einmal in einer sentimentalen Stunde aufgeschrieben habe:



Mein lavendeläugiges Glück,
himmelsleicht und erdenschwer,
Lied zwischen den Sternen,
warmer Funke in der lebendigen Leere.
Ich musste dich verlieren,
damit ich dich wiederfinden konnte.



Neun Monate nach jener denkwürdigen Nacht, als Glühwürmchen uns für immer verließ, bekam Lala eine kleine Schwester mit lavendelfarbigen Augen. Niemandem im Krankenhaus schien aufzufallen, wie ungewöhnlich diese Augenfarbe war. Und Stella und ich hielten den Mund.

Inzwischen ist Stella wieder in schönster Hoffnung. Vielleicht wird es ja diesmal ein Junge.
 
wirklich interessant diese Geschichte....

ganz ehrlich gesagt : mir fällt auf den ersten Blick nichts auf, was man besser machen könnte.
Eine schöne , fantastische geschichte, die in sich noch mehr Geschichten trägt. Ausserdem ist das Thema "gefallener Engel " mal von einem ganz anderenSichtpunkt angegangen worden. Find ich prima :)



emeffgee
 

Rainer

Mitglied
hallo christianf,

eine sentimentale, aber dabei erfreulicherweise nicht vor kitsch strotzende geschichte hast du uns erzählt, die, wie schon von swartzenfresser schon angemerkt, neben ihrem hohen symbolgehalt noch viele kleine geschichten zum weiterspinnen birgt - so wünsche ich mir manchmal sanfte literatur.

es mag sicherlich nicht jedermanns geschmack sein, und auch ich habe tage an denen ich solche texte nicht mag, aber das tut deinem handwerklichen geschick keinen abbruch.

mir ist aufgefallen, daß du nicht oft um nichtalltägliche formulierungen bemühst (ohne dabei für meinen geschmack bemüht zu wirken :)), aber manchmal sind gerade die alltäglichen formulierungen fehl am platze, und zerstören mir den angenehmen lesefluß. ein beispiel: welche art mensch ist es, der zu einem unbekannten, schluchzenden kleinen mädchen "schätzchen" sagt?
außerdem erklärst du für meinen begriffe zu viele dinge, auf die der leser selbst kommen sollte bzw. die die geschichte selbst vermitteln sollte ohne sie in worte zu fassen. auch hier ein beispiel:
"... Sie hatte so etwas an sich, dass unwillkürlich meine Beschützerinstinkte wachrief."

trotzdem, eine 9 ist mir dein text wert.

viele grüße

rainer
 

christianf

Mitglied
Zunächst mal Danke für das Feedback. Es gibt halt nichts, was man nicht noch besser machen könnte.

Ich bin jetzt erst mal 2 Wochen offline, dann schau ich mal, ob es noch mehr Kommentare gegeben hat ;-)

Grüße
christianf
 



 
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