Goethe Aufwärts - Heine Abwärts

neuni

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Herr Goethe soll der Überlieferung nach am 10.12.1777 seine erste Wanderung auf den Brocken in Torfhaus angetreten haben. Goethes Blick von dort auf das weite Plateau des Gipfels und den flachen Anstieg des Berges mag unserem ähneln. Geologische Formationen mögen Eile nicht leiden. Im Gegensatz zu uns konnte Goethe sich jedoch nicht durch eine Bratwurst vom Imbisswagen für den Aufstieg stärken. Die Evolution unserer Technik galoppiert ins Ziel.
Gehen wir nun mit Goethe auf den Brocken los, so ist zu erst das Hochmoor zu durchqueren. Schon nach einigen Schritten vermeinen wir Goethe neben uns über nasse Füße quengeln zu hören. Der Weg über den Steg durch den Sumpf, den wir eingeschlagen haben, war zu seinen Zeiten nicht vorhanden. Im gärenden Morast finden wir einen Vorposten der menschlichen Zivilisation; dort ist eine Holzbank auf der wir Platz nehmen. Dunst liegt über dem Moor und wir sehen die Irrlichter über die Ebene tanzen. Der Gesang der Moorleichen klingt wie das Spiel des Windes in den niedrigen Kiefern. Goethe scheint seine nassen Socken vergessen zu haben, er blickt in die gleiche Richtung wie wir und lauscht.
Wir lassen den Herren zurück und gehen weiter an der Wasserkunst der Harzer Bergleute vorbei. Das Wasser in dem komplexen Kanalsystem schäumt und wirbelt, der Grund der Kanäle glänzt rost rot. Spuren des Kupfers und Eisens der den Bergen entrungen wurde schlagen sich hier nieder. Die Kunstfertigkeit der Bergleute war so groß wie ihr Leben kurz. Zu Goethes Zeiten wird elende Plackerei und große Armut die Regel gewesen sein. Sind Sie verehrter Herr Goethe, lange nach ihrer Wanderung auf den Brocken, zur Macht gekommen, für die Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiter und Bauern eingetreten? Goethe antwortet nicht, er hält immer noch im Moor nach den Hexen ausschau, die zum Brocken fliegen.
Wir fliegen nicht nach oben, wir benötigen ein wenig körperliche Betätigung. Einer Wanderung an frischer Luft ist der Maloche im Bergwerk, wie der Quälerei im Fitnesstudio vorzuziehen. Der erste Anstieg liegt vor uns. Der Gipfel des Brocken ist verdeckt. Etwas Schweiß rinnt das Brustbein hinunter, da unser Schritt nun schneller wird. Der hohe Nadelwald an den Seiten des Weges ist licht, lichter als zu Goethes Zeiten. Dies ist das Teufelswerk der qualmenden Fabrikschornsteine der Menschen. So holt uns Goethe geschwind, mit Mephistopheles im geistigen Gepäck, wieder ein.
Über eine Kuppe hinweg geht es bald hinunter und der Gipfel des Brocken tritt näher liegend wieder in Erscheinung. Hier im Tal war die Deutsch-Deutsche Grenze, eine Gedenktafel kennzeichnet den Streifen. Könnten wir Goethe ein Landkarte mit Westdeutschland in Schwarz und Ostdeutschland in Rot präsentieren, wäre dieser über so viel Deutsche Einheit sicherlich überrascht. Schließlich benötigte man zu seiner Zeit eine ausgefeilte Farbenlehre um die Landkarte Deutschlands auszumalen. Nur der kleiner schwarze Fleck im Roten Gebiet würde Goethe irritieren. Hinter der Grenze, die nun nur noch Niedersachen von Sachsen-Anhalt trennt, gewinnt der Goetheweg seinen größten Anstieg. Wir gehen über den Stahlbeton, mit seinen rostigen Tauen, der vor 1989 den Panzer der Nationalen Volksarmee des Arbeiter und Bauern Staats zur Verfügung stand. Die Landschaft um uns ist kahl der Wind frischt eisig auf. Bäume haben die Grenzanlagen noch nicht wieder zurückerobert. Gräser und vereinzelte Büsche schaukeln im Wind.
Der Wald beginnt erst wieder oberhalb der Brockenbahn, die wir beim Bahnhof „Goethe Weg“ erreichen. Wir gehen über Stege entlang den Schienen leicht bergan. Die Aussicht von hier ist prächtig. Wir sehen die Harzer Berge und die norddeutsche Tiefebene weit unter uns liegen. Dann pfeift, keucht und dampft es unvermittelt hinter uns. Wir vermuten den Teufel im Genick, drehen uns um und sehe die schwarze Dampflokomotive der Schmalspurbahn auf uns zu kommen. Wäre Herr Goethe jetzt wirklich hier, er glaubte den Leibhaftigen zu sehen. Uns treibt der Anblick nostalgische Tränen in die Augen, was im Angesicht eines ICE in der Regel nicht geschieht. Wir lassen die Bahn an uns vorbei ziehen und überqueren die Gleise nach einem kleinen Anstieg. Die breite asphaltierte Straße vor uns windet sich zum Gipfel. Die Krüppelkiefern hier kämpfen täglich mit Wind und Wetter. Die Vegetation erinnert ans Hochgebirge. Krähen ziehen lautstark ihre Bahnen über unseren Köpfen. Dann wird es nebelig. Der Nebel zieht sich mehr und mehr zu, die Sonne liegt hinter uns und ein Wunder geschieht. Wir sehen ein Brockengespenst, von einem regenbogenfarbenen Halo umgeben, vor uns tanzen. „Ich bin der Nebel. Du wirst wie Goethe eines Tages nicht aus meinem Schatten wiederkehren“. Wir gehen, die Illusion verschwindet. Dann haben wir die Baumgrenze hinter uns gelassen und erreichen bald den Gipfel. Der Rundweg führt uns zur Westseite einer weiten konisch gekrümmten Ebene. Dort liegen Hexenaltar und Teufelskanzel, durch die Elemente aus Stein geformt. Goethe neben uns holt seinen Faust aus dem Gepäck und deklamiert:

Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt oben auf.
So geht es über Stein und Stock,
Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.

Hier ist also der Schwerpunkt deutscher Sehnsucht nach dem Mystischen hinter der Dingen. Allerdings ist das Betreten der Felsen nunmehr zum Schutz seltener Moose und Flechten verboten. Wir verharren eine Weile und gehen dann hungrig zum Brockenwirt hinüber. Auf dem Weg findet sich die stählerne Büste von Heinrich Heine und wir beschließen in großer Verehrung mit Ihm durch das Ilsetal abwärts zu wandern.
Beim Brockenwirt nehmen wir Schnitzel Wiener Art mit Pommes. Heine fand das Essen hier oben schlecht, es hat sich mittlerweile etwas gebessert. Von einer gepflegten Zecherei und einem kleine Flirt hielt ihn dass aber nicht ab, er hatte eine Übernachtung hier oben gebucht. Wir wollen heute noch nach unten und verzichten so Weißbier, Wein und Schnäpse. Satt verlassen wir den Brockenwirt und gehen am Wolkenhäuschen und Fernmeldeturm vor bei zum Heine Weg.
An Nordseite des Plateaus tritt der Harz in den Hintergrund. Wäre da nicht der ewig Nebel glaubte man in Ferne die See erblicken zu können. Wir stellen uns vor, wie Heine ausgeschlafen und gut gelaunt mit federndem Schritt seinen Abstieg über den moosigen Boden, zwischen den Felsenbrocken hüpfend, nimmt. Uns fallen die ersten Schritte über den Beton, den STASI und NVA hier hinterlassen haben, schwer. Nun kann das alte Schindluder doch nicht schon wieder marode sein! Zwecks Konditions Verbesserung beschließen wir einen Sprint über die DDR Platte abwärts. Bald haben wir Heinrich Heine eingeholt und überholen ihn Links mit der Forderung nach gleichem Einkommen und Vermögen für alle. Auf STASI und NVA verzichten wir dabei dankend.
„Panta Rhei“ alles fließt auf dieser Seite des Brocken, wie schon Heine anmerkte. Quellen, Pfützen und Bächlein säumen den Weg, das Wasser des Eckerstausees sieht man von hier oben glänzen. An der Stempelbuche lassen wir den Weg nach Bad Harzburg links liegen und folge Heine transversal am Brocken längst Richtung Ilsetal. Kyrill, der letzte große Orkan, hat auf dieser Seite des Brocken beträchtlichen Schaden angerichtet. Statt durch den Wald, den Heine beschreibt, führt unser Weg durch eine Mondlandschaft. Der Teufel in der Natur ist manchmal der Flügelschlag eines schillernden Schmetterlings im hinteren Asien, unter dem die Waldwirtschaft im Harz nun zu leiden hat.
Im Ilsetal angekommen wird der Wald wieder zusammenhängen und und wir erblicken endlich die Ilse selber. Wie Heine geht uns hier der Harz auf. Wir können nicht umhin den Meister selber sprechen zu lassen: „Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild emporzischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt, und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen.” Es gibt keinen der das besser sagen könnte. Wir lassen uns von der Ilse mitreisen und gehen beschwingeten Fusses durch ihr liebliches Tal. Der Weg führ an den Ilsefällen vorbei, wo sich die Waldelfen im seichten Wasser beim Bade tummeln. Unterhalb des Ilsesteins legen wir eine kurze Rast ein, wir ziehen Schuhe und qualmende Socken aus und baden die Füße in der erfrischenden Ilse. Der Aufstieg auf den Stein ist steil, ein letzte Herausvorderung auf dieser Wanderung. Oben auf dem weit ins Tal hervorragenden Stein, biete sich ein unvergesslicher Blick. Ilse aufwärts schwebt der Brocken im Nebel über uns, Ilse abwärts liegt die sonnige grüne Ebene unter uns. Wir klettern auf den höchsten Fels und recken die Arme in den kristall blauen Himmel. Heine setzt sich zu unseren Füßen auf eine Felsplatte und schreibt in sein Notizbuch

Ich bin die Prinzessin Ilse,
Und wohne im Ilsenstein;
Komm mit nach meinem Schlosse,
Wir wollen selig sein.

Von hier oben aus sind es nur noch ein paar Schritte abwärts nach Ilseburg. Wir haben 1200 Höhenmeter auf 16 Kilometer Strecke hinter uns. Ein anständiges Tagewerk. Der Körper ist angenehm schwer der Geist ist leicht. Wir verlassen das Ilsetal in der goldenen Abendsonne. Im Harzrock Caffee am Ortseingang von Ilseburg nehmen wir mit Falcons „Rock me Amadeus“ von unserer Wanderung abschied. Goethe mach sich bald zu seiner Charotte nach Weimar auf und Heine geht zu seiner Frau Mathilde ins Exil nach Paris.
 



 
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