Gold im Strom

klanghoff

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von Kerstin Langhoff

Wie wäre mein Leben verlaufen, wäre sie damals nicht auf der Brücke stehen geblieben? Es gibt Fragen, die bleiben, doch es gibt Antworten, die sind viel wichtiger.

Damals, an jenem Septembermorgen, schob eine junge Mutter einen Kinderwagen über die Brücke zum Westteil der Stadt. Das geschäftige Treiben konnte ihr nicht die Ruhe nehmen, mit der sie ihre sieben Monate alte Tochter betrachtete. Auf der Mitte der Brücke blieb die Frau stehen und nahm ihre Tochter auf die Arme. Ihr langes braunes Haar wehte im Wind. Sie schmiegte ihre Tochter an sich und lehnte sich mit dem Rücken an das warme Geländer. Zahlreiche Frachter verkehrten mit tonnenschweren Containern auf dem Strom. Das monotone Geräusch der Schiffsgetriebe verbreitete einen Hauch von Freiheit und endloser Weite. Wie flüssiges Gold trieb das Wasser vor sich hin, dem Meer entgegen.
Auf der westlichen Uferseite, nahe der Brückenpfeiler, angelten drei alte Männer. Sie waren kurz davor aufzubrechen, da die Sonne ihnen jeglichen Erfolg vereitelte. Mit Gummistiefeln und einem fransigen, weiten Strohhut, klappte ein Mann seinen Fischerschemel zusammen, um sich mit seinen Freunden einem ausgiebigen Frühstück zu widmen. Das tat er fast jeden Tag, seitdem ihn Zuhause nur Einsamkeit erwartete. In dem Jahr, als er pensioniert wurde, starb seinen Frau an einem Schlaganfall. Sie hatten sich für die Zeit danach so viel vorgenommen, doch das Schicksal hatte ihnen einen Strich durch den gemeinsamen Lebensabend gemacht.
Von der kleinen Kate am Binnenhafen aus, wo die Männer gemeinsam Rührei mit Speck aßen, wanderte er häufig alleine am Ufer des Flusses entlang zu einsameren Gegenden außerhalb der Stadt. Seit je her faszinierte ihn der Strom, der geheimnisbeladen Geschichten aus fremden Landesteilen chauffierte. Oft begab sich der Mann in die Uferböschung, die so hoch war, dass er auf einige Meter Entfernung nicht mehr zu sehen war. Dann erzählte er dem wandernden Wasser von seiner Frau, wie er sie liebte und jetzt so schmerzhaft vermisste. Selbst wie sie im Alter ihre grauen langen Haare trug, ließ sein Herz bis zum Ende höher schlagen. Immer noch traten Tränen in seine Augen, wenn er an sie dachte. Der Fluss kannte die Geschichten der Menschen. Doch selten nahm er eine Liebesgeschichte wie diese mit auf seine Reise. Nach ihrem Tod streifte der Mann orientierungslos durch die Straßen bis er eines Abends ein hell erleuchtetes Gebäude in der Innenstadt bemerkte. Lebendige Musik tanzte aus den Räumen. Ehe er sich versah, sank er auf die hintere Bank einer Kirche. Die munteren Klänge schienen ihm die Last zu erleichtern, die seit zwei Monaten sein Herz fast erdrückte. An den darauffolgenden Sonntagen lernte er Menschen der Gemeinde kennen. Bei ihnen fand er Trost und ein Stück Lebensmut wieder.

Als er an jenem Septembermorgen seinen Fischerschemel zusammenklappte und nach seinen Freunden rief, übertönte ihn ein ohrenbetäubendes Krachen. Entsetzt wandte er sich zur Brücke. Er sah, wie der gesamte Mittelteil sich binnen von Sekunden heulend entzwei bog. Die Strömung erfasste die Menschen wie ein riesiger Hai, der gierig sein Maul nach seiner Beute aufsperrt. Die panischen Hilferufe verblassten neben dem unerträglichen Quietschen der Brückenpfeiler. Unbedacht riss sich der alte Mann die Stiefel von den Füßen und stürzte sich in den Pfuhl des Schreckens. Seine Freunde blieben entsetzt am Uferrand zurück. Der Wahnsinnige graulte mit der Kraft eines Zwanzigjährigen den nach Luft ringenden Menschen entgegen. Sie warfen ihre Arme aus dem Wasser und kreischten in Todesangst. Ein gewaltiger Frachter mit Containerladung trieb mitten im Unglücksort. Die wenigen Schiffsmänner schmissen Taue in die Strömung, um die noch Lebenden zu retten. Der alte Mann hechelte weiter, bis das helle Schreien eines Babys zu ihm drang. In einigen Metern Entfernung sah er Arme, die wild versuchten, einen Säugling über Wasser zu halten. Immer wieder schwabten Wellen über das kleine Köpfchen. Er tauchte zu der Stelle, wo er das Baby das letzte Mal gesehen hatte. Das dreckige, mit Blut vermischte Wasser versperrte ihm die Sicht. Glieder taumelten reglos im Wasser. Als er auftauchte, um Luft zu schnappen, erspähte er lange Haare und dann die zwei Arme, die das Baby in die Höhe stemmten. Er ergriff es. In dem Moment sank die Mutter in die Tiefe des Stromes. Der alte Mann legte das kleine Köpfchen auf seine Brust und stützte es, während er mit dem anderen Arm schwamm, als wollte er den Tod besiegen. Seine Augen blickten zur Sonne, die unbetrübt und kraftvoll am Himmel stand und ihn zum Ufer leitete. Zwei kräftige Arme nahmen das Baby von seiner Brust.
In dem Moment spürte er seine nasse Kleidung nicht mehr. Leicht wie eine Feder schwebte er dem Licht entgegen. Er wusste, jetzt würde er sie wieder sehen- seine Frau, an einem Ort mit Klängen, die ihm auch noch die letzten Lasten seines Lebens nehmen würden.
Während ich hier am Westufer des Flusses stehe, schaue ich auf die Stadt. Die Brücke, die der Frachter vor zwanzig Jahren am Mittelpfeiler rammte und damit 48 Menschenleben in den Tod riss, wurde neu erbaut. Goldene Spätsommerstrahlen spiegeln sich im Wasser. Hier starben zwei Menschen, die ich vermisse. Ich lausche dem Fluss, wenn er mir von ihrer Tapferkeit erzählt. Sie sind Teil meiner Seele. Bei ihnen hatte der Tod nicht das letzte Wort, denn sie wußten, dass ich weiterlebe.
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H

HKunert

Gast
Hallo,
der Stoff der Geschichte ist großartig, monströs. Für meinen Geschmack zu monströs für eine Geschichte dieser Kürze. Ich hatte zuwenig Zeit, um mich auf die Charaktere und ihr Handeln einzulassen. Der Einstieg in die Geschichte ist gut. Du solltest Dir und dem Leser aber mehr Zeit gönnen, um den Fragen und Antworten, die in der Geschichte schlummern, gerecht zu werden.
Weiter viel Spaß beim Schreiben wünscht,
Heiko
 

klanghoff

Mitglied
Hallo Heiko,
ich danke Dir für Dein Interesse an dem Text und Deinen Beitrag. Ja, ursprünglich war der Text auch viel länger mit deutlich mehr Charakterbeschreibung. Dann habe ich ihn zu einer Kurzgeschichte gekürzt und Du hast recht, vielleicht habe ich ihm damit, im Anbetracht des Stoffes, zu viel genommen.
Herzliche Grüße auch aus Hamburg
von Kerstin
 



 
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