Gott glaubt nicht an sich

Mit Lorenzo kam ich erst ins Gespräch, als ich ihm zum letzten Mal begegnete.
Er sah aus wie Italiener aussehen, eher klein, mit starkem Bartwuchs und kurzen lockigen Haaren, die auch afrikanische Herkunft vermuten ließen. Doch deswegen mied ich das Gespräch mit ihm nicht. Ich hielt ihn für einen Missionar und lasse mich nicht gern ungewollt überzeugen.
Lorenzo trug schwarze Hosen Ein leicht angeschmuddelte enger Priesterkragen überragte seinen dünnen schwarzen Pullover.
Er sprach am Hauptbahnhof Leute an. Auch mich. Bereits an mehreren Tagen und immer mit einem unterwürfigen „Darf ich Sie vielleicht auch mal was fragen?“
Stets schüttelte ich den Kopf und wich ihm aus, ohne in anzusehen, denn er sah mir nie in die Augen.
Vorgestern ließ er die Frage und sah mich an. „Sie haben graue Haare, sind ein erfahrener Mann unbd könnte mein Vater sein. Ist Ihnen Gott schon begegnet?“
Wieder wollte ich weitergehen.
„Nein…? Nun gut, mir auch nicht, obwohl ich mich wie einer von den Seinen kleide. Schwarz ist die Farbe der Trauer. Ich nehme Trauer vorweg. Mich treffen Sie heute zum letzten Mal.“ Er lachte und ließ in der oberen Zahnreihe eine Lücke erkennen, die einst zwei Schneidezähne ausgefüllt haben mussten. Zudem leuchtete ein goldener Eckzahn im Sonnenlicht des Mai-Nachmittags, als gehöre er in ein anderes Gebiss.
„Meine Mutter wollte, dass ich Priester werde. Franziskanerpater. Weil der heilige Franz von Assisi mit Tieren reden konnte. Sie konnte selbst nicht lieben konnte, wollte mich aber auch nicht der Liebe einer anderen Frau überlassen. Dabei haben viele Priester, wenn sie nicht schwul sind, eine Geliebte.“ Er lachte und sah einer jungen Frau hinterher, aus deren kurzem bunten Rock lange, wohl geformte Beine hervorkamen. „Gott ist schließlich auch ein Mann. Der schuf diese Schönheiten bestimmt nicht nur zum Ansehen.“
Ich lachte. „Sie sind ein seltsamer Gottesdiener?“
Die steile Furche auf seiner Stirn wurde noch steiler. „Ein allmächtiger Gott braucht keine Diener? Der kann doch alles selbst. Seine Stellvertreter auf Erden, die lassen sich trotz geheuchelter Demut gern bedienen. Nicht nur von Messdienern.“ Er grinste.
„Bin aus der katholischen Kirche ausgetreten.“ Erwiderte ich und wollte weitergehen.
Mit seinem ungewöhnlich langen Zeigefinger wies er zum Himmel. „Gott hat immerhin einen Sohn und meine Mutter hieß Maria. Ich mache mir vor, dass ich mir als Sohn meiner Mutter nichts vorzumachen brauche. Am meisten fürchte ich Tage ohne Echo. Meine Haut fühlt sich an wie Pergament und ist dennoch wund. Niemand darf mich anfassen. Dabei sehne ich mich nach Umarmungen. Ich heiße übrigens Lorenzo und mache mich zum einsamen Affen.“ Wieder zeigte er mir lachend Goldzahn und Zahnlücke. „Und Sie?“
„Fremden nenne ich grundsätzlich nicht meinen Namen.“ Knurrte ich.
„Ein Fremder bin ich zwar nicht. Jeder, der in sich geht, lernt was über sich und die Menschen. Außerdem habe ich Sie hier am Bahnhof schon oft gesehen. Auch wenn Sie bisher immer vor mir flüchteten.“
Schulter zuckend wollte ich weitergehen. Er trat zur Seite, folgte mir aber vom Bahnhofsvorplatz zum Lessingpark. Dort legte ich bei meinen Spaziergängen auf einer der Holzbänke immer eine längere Pause ein.
Unaufgefordert setzte er sich neben mich und lächelte.
Der Lessingpark lag unweit jener Straße, auf der ältere Damen ihre Liebesdienste anboten. Am frühen Nachmittag pausierte hier die Frühschicht, bevor diese Damen nach 16.00 Uhr, wenn die männlichen Angestellten in den umliegenden Bürogebäuden zum After-work-Sex aufbrachen, in der Vorabendschicht wieder ihren Geschäften nachgingen.
Die wenigen Parkbänke waren mit mehr oder weniger leicht bekleideten Frauen besetzt. Auch bei uns blieb eine stehen, beugte sich herab, dünstete schweres Parfüm aus und gewährte einen großzügigen Blick in einen tiefen Ausschnitt auf eine nicht mehr ganz faltenfreie Brust. „Meiner letzter Freier wollte gar nicht aufhören. Machte verlängerte Mittagspause bei mir.“ Sie war ein wenig außer Atem und musste husten.
Lorenzo rückte zur Seite, sodass sie sich zwischen uns setzen konnte. Sie kratzte sich unter ihrer blonden Perücke. „In meinem Alter kannste keine Spitzengagen mehr erwarten, da musste schon mal länger machen.“
Lorenzo kicherte.
„Neulich war so einer wie du, einer von der Kirche bei mir. Mehr sag ich nicht. Diskretion, verstehste.“
„Beichtgeheimnis…!“ Er kicherte weiter.
Sie nickte. „Neh, Geschäftsgeheimnis…“
Lorenzo rieb sich die Hände, als hätte er ein besonders lukratives Geschäft abgeschlossen.
Die Frau stieß ihn in die Seite. „Du bist zum Glück keiner von diesen ganz frommen Brüdern. Du ziehst dich nur so an.“
Lachend legte er den Arm um ihre fleischigen Schultern und drückte sie an sich. Sie plapperte los. „Der Kirchenheini hat mir nen Witz erzählt. „Trifft ne uralte Frau eine Fee. Sagt: „Du hast n Wunsch frei.“ Die Alte überlegt.“Ich hab nen Kater. Verwandel den in einen jungen Prinzen.“ Die Fee lacht. Als die Alte nach Hause kommt, sitzt im Sessel, in dem sonst der Kater lag, ein wunderschöner Prinz. Sie umarmen und küssen sich lange. Schließlich zieht die Alte ihren Prinzen ins Schlafzimmer. Vor dem Bett blieb der grinsend stehen. „Du hättest mich damals als Kater nicht kastrieren sollen.““
Lorenzo schüttelte sich vor Lachen und küsste die Nutte auf die Wange. „Lisa, nimmst mich nachher mit? Habe allerdings nur zwanzig Euro.“ Er drückte sie fester an sich.
„Ausnahmsweise, mein kastrierter Kater…“ murmelte sie.
Vor unserer Bank blieb ein junger Mann stehen, sah Lisa an und stotterte: „Wie viel?“
„Natur kostet fünfzig.“
Er nickte. Lisa stand auf und zuckte bedauernd mit den Achseln. „Wenn stotternde Prinzen mehr zahlen, musste halt warten, Pater Lorenzo.“
Der winkte lachend ab. „Gott glaubt nicht an sich. Der glaubt überhaupt nicht, weiß er doch alles, der Allwissende.“
Lisa hakte sich bei ihrem Freier unter und ging. Lorenzo stöhnte auf. „Die alten Naturgottheiten waren sinnlicher. Mütter, die an unseren kopfgeborenen Gott glauben, lassen ihre Kinder erfrieren.“ Er rieb sich kräftig die Oberarme.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Er zurückgelehnt, ich vorgebeugt.
„Muss noch einkaufen“, log ich schießlich und erhob mich.
Lorenzo blinzelte zu mir hinauf. „Beim Schweigen droht die Begegnung mit dem kalten Nichts.“
Ich winkte ihm, ging eilig und, nachdem ich in eine Querstraße einbog, wieder langsamer.

Heute Morgen schlug ich den Lokalteil der Zeitung auf und las: Toter Priester auf dem Straßenstrich. Die Leiche wies keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung auf. Eine Todesursache ist bisher unbekannt. Eine Prostituierte, sie nannte ihn Pater Lorenzo, sagte aus, sie habe ihn zuletzt lebend mit einem älteren Mann auf einer Bank im Lessingpark gesehen. Wie aus kirchlichen Kreisen zu erfahren war, ist im hiesigen Bistum kein Pater Lorenzo bekannt. Aber neben dem Bericht lachte er dennoch von seinem Passfoto.
 
Es ist seltsam. An Tagen, an denen ich mich sehr allein fühle, treffe ich immer auf merkwürdige Einzelgänger. Und mit Lorenzo kam ich erst ins Gespräch, als ich ihm zum letzten Mal begegnete.
Er sah aus wie Italiener aussehen, eher klein, mit starkem Bartwuchs und kurzen lockigen Haaren, die auch afrikanische Herkunft vermuten ließen. Doch deswegen mied ich das Gespräch mit ihm nicht. Ich hielt ihn für einen Missionar und lasse mich von einem solchen nur ungern überzeugen.
Lorenzo trug schwarze Hosen Ein leicht angeschmuddelter enger Priesterkragen überragte seinen dünnen schwarzen Pullover.
Er sprach am Hauptbahnhof Leute an. Auch mich. Bereits an mehreren Tagen und immer mit einem unterwürfigen „Darf ich Sie vielleicht auch mal etwas fragen?“
Stets schüttelte ich den Kopf und wich ihm aus, ohne ihn anzusehen.
Vorgestern ließ er die Frage. „Sie haben graue Haare, sind ein erfahrener Mann und könnten mein Vater sein. Ist Ihnen Gott heute schon begegnet?“
Wieder wollte ich weitergehen.
„Nein…? Nun gut, mir auch nicht, obwohl ich mich wie einer von seinen besonderen Verehrern kleide. Schwarz ist auch die Farbe der Trauer. Ich nehme die Trauer vorweg. Mich treffen Sie heute zum letzten Mal.“ Er lachte und ließ in der oberen Zahnreihe eine Lücke erkennen, die einst zwei Schneidezähne ausgefüllt haben mussten. Zudem leuchtete ein goldener Eckzahn im Sonnenlicht des Mai-Nachmittags, als gehöre der in ein anderes Gebiss.
„Meine Mutter wollte, dass ich Priester werde. Franziskanerpater. Weil der heilige Franz von Assisi mit Tieren reden konnte. Sie selbst konnte nicht lieben, wollte mich aber auch nicht der Liebe einer anderen Frau überlassen. Dabei haben viele Priester, wenn sie nicht schwul sind, eine Geliebte.“ Er lachte und sah einer jungen Frau hinterher, aus deren kurzem bunten Rock lange, wohl geformte Beine hervorkamen. „Gott ist schließlich auch ein Mann. Der schuf diese Schönheiten bestimmt nicht nur zum Ansehen.“
Ich lachte. „Sie sind ein seltsamer Gottesdiener?“
Die steile Furche auf seiner Stirn wurde noch steiler. „Ein allmächtiger Gott braucht keine Diener? Der kann alles selbst. Seine Stellvertreter auf Erden, die lassen sich trotz geheuchelter Demut gern bedienen. Nicht nur von Messdienern.“ Er grinste.
„Bin aus der katholischen Kirche ausgetreten.“ Erwiderte ich und wollte weitergehen.
Mit seinem ungewöhnlich langen Zeigefinger wies er zum Himmel. „Gott hat immerhin einen Sohn und meine Mutter hieß ausgerechnet Maria. Ich mache mir vor, dass ich mir als Sohn meiner Mutter nichts vorzumachen brauche. Am meisten fürchte ich die Tage ohne Echo. Meine Haut fühlt sich an wie Pergament und ist dennoch wund. Niemand darf mich anfassen. Dabei sehne ich mich nach Umarmungen. Ich heiße übrigens Lorenzo.“ Wieder zeigte er mir lachend Goldzahn und Zahnlücke. „Und Sie?“
„Fremden nenne ich grundsätzlich nicht meinen Namen.“ Knurrte ich.
„Ein Fremder bin ich zwar nicht. Jeder, der in sich geht, lernt was über sich und die Menschen. Außerdem habe ich Sie hier am Bahnhof schon oft gesehen. Auch wenn Sie bisher immer vor mir flüchteten.“
Schulter zuckend wollte ich weitergehen. Er trat zur Seite, folgte mir aber vom Bahnhofsvorplatz zum Lessingpark. Dort legte ich bei meinen Spaziergängen auf einer der Holzbänke immer eine längere Pause ein.
Unaufgefordert setzte er sich neben mich und lächelte.
Der Lessingpark lag unweit jener Straße, auf der ältere Damen ihre Liebesdienste anboten. Am frühen Nachmittag pausierte hier die Frühschicht, bevor diese Damen nach 16.00 Uhr, wenn die männlichen Angestellten in den umliegenden Bürogebäuden zum After-work-Sex aufbrachen, in der Vorabendschicht wieder ihren Geschäften nachgingen.
Die wenigen Parkbänke waren mit mehr oder weniger leicht bekleideten Frauen besetzt. Auch bei uns blieb eine stehen, beugte sich herab, dünstete schweres Parfüm aus und gewährte einen großzügigen Blick in einen tiefen Ausschnitt auf eine nicht mehr ganz faltenfreie Brust. „Meiner letzter Freier wollte gar nicht aufhören. Machte verlängerte Mittagspause bei mir.“ Sie war ein wenig außer Atem und musste husten.
Lorenzo rückte zur Seite, sodass sie sich zwischen uns setzen konnte. Sie kratzte sich unter ihrer blonden Perücke. „In meinem Alter kannste keine Spitzengagen mehr erwarten, da musste schon mal was länger machen.“
Lorenzo kicherte.
„Neulich war so einer wie du von der Kirche bei mir. Mehr sag ich nicht. Diskretion, verstehste.“
„Beichtgeheimnis…!“ Er kicherte weiter.
Sie nickte. „Neh, Geschäftsgeheimnis…“
Lorenzo rieb sich die Hände, als hätte er ein besonders lukratives Geschäft abgeschlossen.
Die Frau stieß ihn in die Seite. „Du bist zum Glück keiner von diesen frommen Brüdern. Du ziehst dich nur so an.“
Lachend legte er den Arm um ihre fleischigen Schultern und drückte sie an sich. Sie plapperte los. „Der Kirchenheini hat mir nen Witz erzählt. „Trifft ne uralte Frau eine Fee. Sagt: „Du hast n Wunsch frei.“ Die Alte überlegt.“Ich hab nen Kater. Verwandel den in einen jungen Prinzen.“ Die Fee lacht. Als die Alte nach Hause kommt, sitzt im Sessel, in dem sonst der Kater lag, ein wunderschöner Prinz. Sie umarmen und küssen sich lange. Schließlich zieht die Alte ihren Prinzen ins Schlafzimmer. Vor dem Bett blieb der grinsend stehen. „Du hättest mich damals als Kater nicht kastrieren sollen.““
Lorenzo schüttelte sich vor Lachen und küsste die Nutte auf die Wange. „Lisa, nimmst mich nachher mit? Habe allerdings nur zwanzig Euro dabei.“ Er drückte sie fester an sich.
„Ausnahmsweise, mein kastrierter Kater…“ murmelte sie.
Vor unserer Bank blieb ein junger Mann stehen, sah Lisa an und stotterte: „Wie viel?“
„Natur kostet fünfzig.“
Er nickte. Lisa stand auf und zuckte bedauernd mit den Achseln. „Wenn stotternde Prinzen mehr zahlen, musste halt warten, Pater Lorenzo.“
Der winkte lachend ab. „Gott glaubt nicht an sich. Der glaubt überhaupt nicht, weiß er doch alles, der Allwissende.“
Lisa hakte sich bei ihrem Freier unter und ging. Lorenzo stöhnte kurz auf und lachte. „Die alten Naturgottheiten waren sinnlicher. Mütter, die an unseren kopfgeborenen Gott glauben, lassen ihre Kinder häufig erfrieren.“ Er rieb sich kräftig die Oberarme.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Er zurückgelehnt, ich vorgebeugt.
„Muss noch einkaufen“, log ich schießlich und erhob mich.
Lorenzo blinzelte zu mir hinauf. „Beim Schweigen droht Ungläubigen die Begegnung mit dem kalten Nichts.“
Ich winkte ihm, ging eilig und, nachdem ich in eine Querstraße einbog, wieder langsamer.

Als ich heute Morgen den Lokalteil der Zeitung aufschlug, lachte mir Lorenzo von einem Passfoto entgegen.
Toter Priester auf dem Straßenstrich, las ich. Die Leiche wies keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung auf. Eine Todesursache ist bisher unbekannt. Eine Prostituierte, sie nannte ihn Pater Lorenzo, sagte aus, sie habe ihn zuletzt lebend mit einem älteren Mann auf einer Bank im Lessingpark gesehen. Wie aus kirchlichen Kreisen zu erfahren war, ist im hiesigen Bistum kein Pater Lorenzo bekannt.
 



 
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